Dergleichen mechanische Operationen mit bloßen Schriftzeichen (Code): Unterschied zwischen den Versionen

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entstanden sein. Dies gilt z.B. von der Sprache. Die einzelnen Zeichen derselben sind künstliche. So roh die ersten Bezeichnungs­mittel bei dem Anfange der Sprachentwicklung auch waren, immerhin hatten sie doch den Charakter von Erfindungen. Ihre
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5 Eignung zur Kundgabe äußerer Vorgänge oder innerer Zustände war das Motiv für die absichtliche Verwendung derselben zu Zwecken der Mitteilung. Und so sind auch die neu und neu ein-geführten Zeichen Erfindungen. Aber aus den einzelnen Zeichen entstand auf dem Wege einer natürlichen Entwicklung das
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10 System der Sprache mit ihrem fein gegliederten grammatischen Bau, und so sehr hervorstechend ist die Zweckmäßigkeit und Schönheit dieser Systematik, daß der Gedanke, sie könne Pro­dukt blinder Naturgesetze sein, schon eine hohe Entwicklung der Psychologie voraussetzt. Ähnlich verhält es sich auch mit der
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15 Arithmetik. Die einzelnen Zeichen sind Erfindungen. Ja, hier gilt noch Weiteres : auch die einzelnen Methoden sind Erfindungen. Und doch ist das System der Arithmetik als Ganzes mit seinem wundervollen Bau nicht Produkt einer vorausblickenden Absicht, sondern einer natürlichen Entwicklung.
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20 In jedem Zeichensystem unterscheiden wir Grundzeichen und abgeleitete oder zusammengesetzte Zeichen. Die Ableitung der letzteren aus den Grundzeichen erfolgt durch die Zeichen­operationen. Diese sind systematische, nach bestimmten Regeln verlaufende Verfahrensweisen symbolischen Vorstellens, Ur‑
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25 teilens und Schließens. So sind z.B. die arithmetischen Operati­onen, sofern sie zahlbildend sind, geregelte Methoden zur Erzeu­gung uneigentlicher Vorstellungen; sofern sie aber Regeln der Bildung und Umformung von Gleichungen oder Ungleichungen aufstellen, sind sie Methoden zur Erzeugung symbolischer (und
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30 zwar wahrer) Urteile. Die Grundzeichen der Zahlenlehre sind die Zeichen 0, 1, ..., 9. Alle übrigen Zahlenzeichen, ferner Zeichen wie 2 + 3, 5 • 6, z usw. sind abgeleitete Zeichen für uneigentlich vorgestellte Zahlen. Jede Rechnung, z. B. eine Addition, ist eine symbolische Wahrheitsbildung durch gewisse mit den Grund‑
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35 zeichen vorgenommene Operationen.
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Jede künstliche Operation mit Zeichen dient in gewisser Weise Zwecken der Erkenntnis; aber nicht führt eine jede wirklich zu Erkenntnissen, in dem wahren und echten Sinn logischer Einsichten. Nur dann, wenn das Verfahren selbst ein logisches ist, wenn
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wir die logische Einsicht haben, daß es so, wie es ist und weil es so ist, zur Wahrheit führen müsse, wird sein Resultat nicht bloß de facto eine Wahrheit, sondern eine Wahrheitserkenntnis sein. Nur dann haben wir die volle Sicherheit, geschützt zu sein vor dem
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5 Irrtum, und wir urteilen nicht aus blindem Drang, nicht aus einer mehr oder minder lebhaften Oberzeugung, sondern aus lichter Einsicht. In diesem Sinne unterscheiden wir: 1) die vorlogischen Zeichenoperationen, welche auf Wahrheit abzielen, sie vielleicht auch erreichen, ohne daß jedoch die Anwendung (wie schon die
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10 Erfindung) dieser Verfahrensweisen auf logischem Verständnis beruhte; 2) die logischen Zeichenoperationen, die aus Erkenntnis-gründen befolgt werden und darum nicht bloß Wahrheit, sondern gesicherte Wahrheit liefern.
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Diese Unterscheidung trifft, wie man sieht, alle symbolischen
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15 Urteilsprozesse überhaupt, auch die natürlichen, aus der Wirk­samkeit der Ideenassoziation allein und mit Ausschluß aller lo­gischen Motive resultierenden. Diese gehören insgesamt der vor-logischen Stufe an.l
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Es ist nützlich, hier aufmerksam zu machen, daß eine plan‑
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20 mäßige, zu Erkenntniszwecken stattfindende Anwendung von
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Zeichen darum noch keine logische ist. Schon auf der vorlogischen
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Stufe kann eine planmäßige Aufsuchend und Verwendung der
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Zeichen Platz greifen. Man kann sehr wohl bemerken, daß Zeichen
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unsere Erkenntnis fördern, ohne sich jedoch über den Grund
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25 dieser Förderung im mindesten klar zu sein. Dieses wird besonders
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dann möglich sein, wenn die auf symbolischem Wege gewonnenen
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Sätze (symbolischen Urteile) durch Übergang von den Zeichen zu
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den Gedanken auf wirkliche Urteile führen, die vermöge einer
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jeweilig durchführbaren Verifikation sich legitimieren. So verhält
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30 es sich in der Mathematik. Man darf behaupten: Die allgemeine
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Arithmetik mit ihren negativen, irrationalen und imaginären („un‑
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möglichen") Zahlen wurde erfunden und jahrhundertelang ange‑
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wendet, ehe sie verstanden wurde. Man hatte in betreff der Be‑
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deutung dieser Zahlen die widersprechendsten und unglaublich­sten Theorien, aber ihre Anwendung hinderte dies nicht. Man konnte sich eben von der Richtigkeit einer jeden vermittels ihrer hergeleiteten Sätze durch eine leichte Verifikation überzeugen,
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5 und nach unzähligen Erfahrungen dieser Art vertraute man naturgemäß der unbedingten Brauchbarkeit dieser Verfahrens-weisen, erweiterte und verfeinerte sie immer mehr — all das ohne die geringste Einsicht in die Logik der Sache, die trotz vielfacher Bemühungen von den Zeiten eines Leibniz, D 'A l e m b e r t
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10 und C a r n o t bis heute keine wesentlichen Fortschritte gemacht hat.
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So verhält es sich ja überhaupt mit den logischen Methoden, z. B. denen der Induktion. Die Naturforscher machen mit dem großartigsten Erfolge Gebrauch von diesen Methoden, ohne sich
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15 beengt zu fühlen durch die eigene Unklarheit sowie die der Lo­giker über Sinn, Grenzen und Erkenntniswert derselben. Auch bei der Induktion müssen wir unterscheiden das vorlogische und das logische Induktionsverfahren. Selbst wo beide zu demselben Resultate führen (was nicht einmal im groben Durchschnitt gilt),
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20 tun sie es doch auf ganz verschiedene Art und nur die logische gibt Erkenntnis. Die Induktion auf den blinden psychologischen Mechanismus der Gewohnheit gründen, der funktioniert, aber nicht berechtigt, das heißt die vorlogische mit der logischen In­duktion verwechseln oder (mit Hume) die Möglichkeit einer ver‑
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25 nünftigen Rechtfertigung der Induktion überhaupt leugnen.
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Dies als drastischer Beleg dafür, daß eine Verwendung von Symbolen zu wissenschaftlichem Zwecke und mit wissenschaft­lichem Erfolge darum noch keineswegs eine logische sei. Wir denken natürlich nicht daran, die vorlogische Anwendung von
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30 Zeichen ganz zu verwerfen. Sie führt ohne Zweifel im Durch-schnitt zum Richtigen; aber doch nur im Durchschnitt. Und eben darum fordern wir für die Wissenschaft nur die Verwendung lo­gisch berechtigter Zeichen. Hier könnte man gerade unser obiges Beispiel, das der Arithmetik, gegen uns ins Feld führen. In der
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35 Tat ist es richtig, daß die ausgebildete Arithmetik im weitesten Umfange von einem logischen Verständnis ihrer kunstmäßigen Verfahrensweisen unabhängig ist. Indessen, die Arithmetik ist nicht als fertige Erfindung dem Haupte eine seinzelnen ent­sprungen ; sie ist das Produkt einer Entwicklung in Jahrhunderten.
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Durch eine Art natürlicher Auslese ist sie entstanden. Im Kampfe ums Dasein siegte die Wahrheit gegen den als unhaltbar sich er-weisenden Irrtum und die arithmetischen Methoden wurden dem-gemäß ausgebildet, indem man sukzessive die Veränderungen mit
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5 ihnen vornahm, welche die sonst noch möglichen Irrtümer aus-schlossen.' Die Richtigkeit des Resultates konnte sehr wohl als Prüfstein für die Methode dienen, da man von jener sich über-zeugen konnte (durch die oben erwähnte Verifikation), ohne diese zu benutzen. Aber wie viele Geisteskraft ist auf diesem mehr zu‑
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10 fälligen denn logisch geregeltem Wege verschwendet worden! Man denke an die endlosen Streitigkeiten über das Negative und Imaginäre, Unendlichkleine und Unendlichgroße, über die Para­doxien der divergenten Reihen usw. Rasch und sicher statt lang­sam und schwankend wäre der Fortschritt der Arithmetik erfolgt,
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15 wenn man über den logischen Charakter ihrer Methoden schon bei deren Entwicklung im klaren gewesen wäre. Und ebenso un­terliegt es keinem Zweifel, daß auch für die künftige Fortent­wicklung der Arithmetik (soweit es auf eine Erweiterung des Ge­bietes abgesehen ist) die Einsicht in ihren logischen Charakter
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20 von maßgebendem, Fortschritt förderndem Einfluß sein müßte.
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Außerhalb der Arithmetik finden wir noch viel mehr Bestäti­gungen dafür, daß logisch ungeprüfte Zeichen zu Irrtümern führen können. Darauf wurden auch die Logiker schon längst aufmerk­sam in dem Falle des wichtigsten Zeichensystems, das wir besit‑
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25 zen, der Sprache. In welchem Sinne die Sprache das Denken för­dert und andererseits wiederum hemmt, dies wird gegenwärtig in jeder Logik, die eine praktische Wirksamkeit anstrebt, erörtert. Wir werden gewarnt, den Worten nicht allzusehr zu vertrauen, uns bei jedem Beweise ihren vollen Sinn zu vergegenwärtigen, uns
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30 vor Äquivokationen zu hüten und dgl., Regeln, die, obgleich höchst nützlich, sich doch auf einen allzu engen Kreis einschränken. In-dem man meistens nur den symbolischen Charakter der ein­facheren Redeformen, der Worte und Sätze beachtete, verkannte
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man denselben bei den schon dem natürlichen Denken sich dar-bietenden mechanisch-symbolischen Verfahrensweisen, welche durch zusammengesetzte sprachliche Mittel ein mehr oder minder kompliziertes Schließen ersetzen. Ich meine hier die einfachen und
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5 zusammengesetzten Syllogismen. Obgleich in der traditionellen formalen Logik in übermäßiger Breite behandelt, blieben deren Regeln doch unverstanden. Was man für Regeln des wirklichen Schließens hielt, waren (eben als formelle Regeln) tatsächlich solche des symbolischen Schließens. Diese Mißdeutung des wahren
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10 Verhältnisses beeinflußte die Behandlungsweise der Sache so ungünstig, daß die Erkenntnistheorie irregeführt und andererseits die Praxis nicht im geringsten gefördert wurde. Wäre der symbo­lische Charakter der Syllogistik (dem Hauptstück und Kern der alten formalen Logik) und der allgemeinen Arithmetik erkannt
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15 und durch eindringende Untersuchungen genau präzisiert wor­den, dann hätte das theoretische Verständnis dieser „formalen” Disziplinen einen klärenden und befruchtenden Einfluß auf die Philosophie und die Spezialwissenschaften üben können. Heute aber liegt das Verhältnis so, daß die dichtesten Wolken der Kon‑
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20 fusion nach beiden Seiten hin verwirren und hemmen. Charak­teristisch für die Unklarheit der Logiker ist die Tatsache, daß sie sich um die Theorien der Algorithmen entweder (und dies ist die Regel) überhaupt nicht kümmern oder dies in jener so nebensäch­lichen und oberflächlichen Art tun, welche das beste Kennzeichen
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25 der Unklarheit ist. Mit dem zweiten Teile dieser Behauptung ziele ich auf die Auseinandersetzungen Mills (Logik, 4. Buch, VI Kap., § 6) und B a i n s (Logic, Part first, Appendix B). Man nehme auch nur die alltäglichsten und einfachsten Algorithmen, die der Zahl- und Rechenkunst, in den logischen Werken wird
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30 man vergeblich suchen nach einer Belehrung darüber, was eigent­lich dergleichen mechanische Operationen mit bloßen Schrift-oder Wortzeichen dazu befähigt, unsere wirkliche Erkenntnis in betreff der Zahlenbegriffe in großartigen Maßstabe zu erweitern und uns Leistungen zu ermöglichen, die den größten Denkern des
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35 Altertums unfaßbar gewesen wären. Und auf der anderen Seite wiederum finden wir als charakteristische Zeichen der Unklarheit der Mathematiker sonderbare Theorien, welche sie sich, die einen so, die anderen in anderer Weise, als die Philosophie ihrer Diszi­plin zurechtgelegt haben, und welche sie häufig genug, und gerade
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Version vom 17. April 2008, 20:24 Uhr

entstanden sein. Dies gilt z.B. von der Sprache. Die einzelnen Zeichen derselben sind künstliche. So roh die ersten Bezeichnungs­mittel bei dem Anfange der Sprachentwicklung auch waren, immerhin hatten sie doch den Charakter von Erfindungen. Ihre 5 Eignung zur Kundgabe äußerer Vorgänge oder innerer Zustände war das Motiv für die absichtliche Verwendung derselben zu Zwecken der Mitteilung. Und so sind auch die neu und neu ein-geführten Zeichen Erfindungen. Aber aus den einzelnen Zeichen entstand auf dem Wege einer natürlichen Entwicklung das 10 System der Sprache mit ihrem fein gegliederten grammatischen Bau, und so sehr hervorstechend ist die Zweckmäßigkeit und Schönheit dieser Systematik, daß der Gedanke, sie könne Pro­dukt blinder Naturgesetze sein, schon eine hohe Entwicklung der Psychologie voraussetzt. Ähnlich verhält es sich auch mit der 15 Arithmetik. Die einzelnen Zeichen sind Erfindungen. Ja, hier gilt noch Weiteres : auch die einzelnen Methoden sind Erfindungen. Und doch ist das System der Arithmetik als Ganzes mit seinem wundervollen Bau nicht Produkt einer vorausblickenden Absicht, sondern einer natürlichen Entwicklung. 20 In jedem Zeichensystem unterscheiden wir Grundzeichen und abgeleitete oder zusammengesetzte Zeichen. Die Ableitung der letzteren aus den Grundzeichen erfolgt durch die Zeichen­operationen. Diese sind systematische, nach bestimmten Regeln verlaufende Verfahrensweisen symbolischen Vorstellens, Ur‑ 25 teilens und Schließens. So sind z.B. die arithmetischen Operati­onen, sofern sie zahlbildend sind, geregelte Methoden zur Erzeu­gung uneigentlicher Vorstellungen; sofern sie aber Regeln der Bildung und Umformung von Gleichungen oder Ungleichungen aufstellen, sind sie Methoden zur Erzeugung symbolischer (und 30 zwar wahrer) Urteile. Die Grundzeichen der Zahlenlehre sind die Zeichen 0, 1, ..., 9. Alle übrigen Zahlenzeichen, ferner Zeichen wie 2 + 3, 5 • 6, z usw. sind abgeleitete Zeichen für uneigentlich vorgestellte Zahlen. Jede Rechnung, z. B. eine Addition, ist eine symbolische Wahrheitsbildung durch gewisse mit den Grund‑ 35 zeichen vorgenommene Operationen. Jede künstliche Operation mit Zeichen dient in gewisser Weise Zwecken der Erkenntnis; aber nicht führt eine jede wirklich zu Erkenntnissen, in dem wahren und echten Sinn logischer Einsichten. Nur dann, wenn das Verfahren selbst ein logisches ist, wenn

wir die logische Einsicht haben, daß es so, wie es ist und weil es so ist, zur Wahrheit führen müsse, wird sein Resultat nicht bloß de facto eine Wahrheit, sondern eine Wahrheitserkenntnis sein. Nur dann haben wir die volle Sicherheit, geschützt zu sein vor dem 5 Irrtum, und wir urteilen nicht aus blindem Drang, nicht aus einer mehr oder minder lebhaften Oberzeugung, sondern aus lichter Einsicht. In diesem Sinne unterscheiden wir: 1) die vorlogischen Zeichenoperationen, welche auf Wahrheit abzielen, sie vielleicht auch erreichen, ohne daß jedoch die Anwendung (wie schon die 10 Erfindung) dieser Verfahrensweisen auf logischem Verständnis beruhte; 2) die logischen Zeichenoperationen, die aus Erkenntnis-gründen befolgt werden und darum nicht bloß Wahrheit, sondern gesicherte Wahrheit liefern. Diese Unterscheidung trifft, wie man sieht, alle symbolischen 15 Urteilsprozesse überhaupt, auch die natürlichen, aus der Wirk­samkeit der Ideenassoziation allein und mit Ausschluß aller lo­gischen Motive resultierenden. Diese gehören insgesamt der vor-logischen Stufe an.l Es ist nützlich, hier aufmerksam zu machen, daß eine plan‑ 20 mäßige, zu Erkenntniszwecken stattfindende Anwendung von Zeichen darum noch keine logische ist. Schon auf der vorlogischen Stufe kann eine planmäßige Aufsuchend und Verwendung der Zeichen Platz greifen. Man kann sehr wohl bemerken, daß Zeichen unsere Erkenntnis fördern, ohne sich jedoch über den Grund 25 dieser Förderung im mindesten klar zu sein. Dieses wird besonders dann möglich sein, wenn die auf symbolischem Wege gewonnenen Sätze (symbolischen Urteile) durch Übergang von den Zeichen zu den Gedanken auf wirkliche Urteile führen, die vermöge einer jeweilig durchführbaren Verifikation sich legitimieren. So verhält 30 es sich in der Mathematik. Man darf behaupten: Die allgemeine Arithmetik mit ihren negativen, irrationalen und imaginären („un‑ möglichen") Zahlen wurde erfunden und jahrhundertelang ange‑ wendet, ehe sie verstanden wurde. Man hatte in betreff der Be‑


deutung dieser Zahlen die widersprechendsten und unglaublich­sten Theorien, aber ihre Anwendung hinderte dies nicht. Man konnte sich eben von der Richtigkeit einer jeden vermittels ihrer hergeleiteten Sätze durch eine leichte Verifikation überzeugen, 5 und nach unzähligen Erfahrungen dieser Art vertraute man naturgemäß der unbedingten Brauchbarkeit dieser Verfahrens-weisen, erweiterte und verfeinerte sie immer mehr — all das ohne die geringste Einsicht in die Logik der Sache, die trotz vielfacher Bemühungen von den Zeiten eines Leibniz, D 'A l e m b e r t 10 und C a r n o t bis heute keine wesentlichen Fortschritte gemacht hat. So verhält es sich ja überhaupt mit den logischen Methoden, z. B. denen der Induktion. Die Naturforscher machen mit dem großartigsten Erfolge Gebrauch von diesen Methoden, ohne sich 15 beengt zu fühlen durch die eigene Unklarheit sowie die der Lo­giker über Sinn, Grenzen und Erkenntniswert derselben. Auch bei der Induktion müssen wir unterscheiden das vorlogische und das logische Induktionsverfahren. Selbst wo beide zu demselben Resultate führen (was nicht einmal im groben Durchschnitt gilt), 20 tun sie es doch auf ganz verschiedene Art und nur die logische gibt Erkenntnis. Die Induktion auf den blinden psychologischen Mechanismus der Gewohnheit gründen, der funktioniert, aber nicht berechtigt, das heißt die vorlogische mit der logischen In­duktion verwechseln oder (mit Hume) die Möglichkeit einer ver‑ 25 nünftigen Rechtfertigung der Induktion überhaupt leugnen. Dies als drastischer Beleg dafür, daß eine Verwendung von Symbolen zu wissenschaftlichem Zwecke und mit wissenschaft­lichem Erfolge darum noch keineswegs eine logische sei. Wir denken natürlich nicht daran, die vorlogische Anwendung von 30 Zeichen ganz zu verwerfen. Sie führt ohne Zweifel im Durch-schnitt zum Richtigen; aber doch nur im Durchschnitt. Und eben darum fordern wir für die Wissenschaft nur die Verwendung lo­gisch berechtigter Zeichen. Hier könnte man gerade unser obiges Beispiel, das der Arithmetik, gegen uns ins Feld führen. In der 35 Tat ist es richtig, daß die ausgebildete Arithmetik im weitesten Umfange von einem logischen Verständnis ihrer kunstmäßigen Verfahrensweisen unabhängig ist. Indessen, die Arithmetik ist nicht als fertige Erfindung dem Haupte eine seinzelnen ent­sprungen ; sie ist das Produkt einer Entwicklung in Jahrhunderten.

Durch eine Art natürlicher Auslese ist sie entstanden. Im Kampfe ums Dasein siegte die Wahrheit gegen den als unhaltbar sich er-weisenden Irrtum und die arithmetischen Methoden wurden dem-gemäß ausgebildet, indem man sukzessive die Veränderungen mit 5 ihnen vornahm, welche die sonst noch möglichen Irrtümer aus-schlossen.' Die Richtigkeit des Resultates konnte sehr wohl als Prüfstein für die Methode dienen, da man von jener sich über-zeugen konnte (durch die oben erwähnte Verifikation), ohne diese zu benutzen. Aber wie viele Geisteskraft ist auf diesem mehr zu‑ 10 fälligen denn logisch geregeltem Wege verschwendet worden! Man denke an die endlosen Streitigkeiten über das Negative und Imaginäre, Unendlichkleine und Unendlichgroße, über die Para­doxien der divergenten Reihen usw. Rasch und sicher statt lang­sam und schwankend wäre der Fortschritt der Arithmetik erfolgt, 15 wenn man über den logischen Charakter ihrer Methoden schon bei deren Entwicklung im klaren gewesen wäre. Und ebenso un­terliegt es keinem Zweifel, daß auch für die künftige Fortent­wicklung der Arithmetik (soweit es auf eine Erweiterung des Ge­bietes abgesehen ist) die Einsicht in ihren logischen Charakter 20 von maßgebendem, Fortschritt förderndem Einfluß sein müßte. Außerhalb der Arithmetik finden wir noch viel mehr Bestäti­gungen dafür, daß logisch ungeprüfte Zeichen zu Irrtümern führen können. Darauf wurden auch die Logiker schon längst aufmerk­sam in dem Falle des wichtigsten Zeichensystems, das wir besit‑ 25 zen, der Sprache. In welchem Sinne die Sprache das Denken för­dert und andererseits wiederum hemmt, dies wird gegenwärtig in jeder Logik, die eine praktische Wirksamkeit anstrebt, erörtert. Wir werden gewarnt, den Worten nicht allzusehr zu vertrauen, uns bei jedem Beweise ihren vollen Sinn zu vergegenwärtigen, uns 30 vor Äquivokationen zu hüten und dgl., Regeln, die, obgleich höchst nützlich, sich doch auf einen allzu engen Kreis einschränken. In-dem man meistens nur den symbolischen Charakter der ein­facheren Redeformen, der Worte und Sätze beachtete, verkannte

man denselben bei den schon dem natürlichen Denken sich dar-bietenden mechanisch-symbolischen Verfahrensweisen, welche durch zusammengesetzte sprachliche Mittel ein mehr oder minder kompliziertes Schließen ersetzen. Ich meine hier die einfachen und 5 zusammengesetzten Syllogismen. Obgleich in der traditionellen formalen Logik in übermäßiger Breite behandelt, blieben deren Regeln doch unverstanden. Was man für Regeln des wirklichen Schließens hielt, waren (eben als formelle Regeln) tatsächlich solche des symbolischen Schließens. Diese Mißdeutung des wahren 10 Verhältnisses beeinflußte die Behandlungsweise der Sache so ungünstig, daß die Erkenntnistheorie irregeführt und andererseits die Praxis nicht im geringsten gefördert wurde. Wäre der symbo­lische Charakter der Syllogistik (dem Hauptstück und Kern der alten formalen Logik) und der allgemeinen Arithmetik erkannt 15 und durch eindringende Untersuchungen genau präzisiert wor­den, dann hätte das theoretische Verständnis dieser „formalen” Disziplinen einen klärenden und befruchtenden Einfluß auf die Philosophie und die Spezialwissenschaften üben können. Heute aber liegt das Verhältnis so, daß die dichtesten Wolken der Kon‑ 20 fusion nach beiden Seiten hin verwirren und hemmen. Charak­teristisch für die Unklarheit der Logiker ist die Tatsache, daß sie sich um die Theorien der Algorithmen entweder (und dies ist die Regel) überhaupt nicht kümmern oder dies in jener so nebensäch­lichen und oberflächlichen Art tun, welche das beste Kennzeichen 25 der Unklarheit ist. Mit dem zweiten Teile dieser Behauptung ziele ich auf die Auseinandersetzungen Mills (Logik, 4. Buch, VI Kap., § 6) und B a i n s (Logic, Part first, Appendix B). Man nehme auch nur die alltäglichsten und einfachsten Algorithmen, die der Zahl- und Rechenkunst, in den logischen Werken wird 30 man vergeblich suchen nach einer Belehrung darüber, was eigent­lich dergleichen mechanische Operationen mit bloßen Schrift-oder Wortzeichen dazu befähigt, unsere wirkliche Erkenntnis in betreff der Zahlenbegriffe in großartigen Maßstabe zu erweitern und uns Leistungen zu ermöglichen, die den größten Denkern des 35 Altertums unfaßbar gewesen wären. Und auf der anderen Seite wiederum finden wir als charakteristische Zeichen der Unklarheit der Mathematiker sonderbare Theorien, welche sie sich, die einen so, die anderen in anderer Weise, als die Philosophie ihrer Diszi­plin zurechtgelegt haben, und welche sie häufig genug, und gerade




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