Dergleichen mechanische Operationen mit bloßen Schriftzeichen (Code)
Exzerpte aus: Edmund Husserl: Philosophie der Arithmetik. Hrsg. von Lothar Eley. Den Haag 1970
Zur Logik der Zeichen (Semiotik). S. 368-372
Dies gilt z.B. von der Sprache. Die einzelnen Zeichen derselben sind künstliche. So roh die ersten Bezeichnungsmittel bei dem Anfange der Sprachentwicklung auch waren, immerhin hatten sie doch den Charakter von Erfindungen. Ihre Eignung zur Kundgabe äußerer Vorgänge oder innerer Zustände war das Motiv für die absichtliche Verwendung derselben zu Zwecken der Mitteilung. Und so sind auch die neu und neu eingeführten Zeichen Erfindungen. Aber aus den einzelnen Zeichen entstand auf dem Wege einer natürlichen Entwicklung das System der Sprache mit ihrem fein gegliederten grammatischen Bau, und so sehr hervorstechend ist die Zweckmäßigkeit und Schönheit dieser Systematik, daß der Gedanke, sie könne Produkt blinder Naturgesetze sein, schon eine hohe Entwicklung der Psychologie voraussetzt. Ähnlich verhält es sich auch mit der Arithmetik. Die einzelnen Zeichen sind Erfindungen. Ja, hier gilt noch Weiteres : auch die einzelnen Methoden sind Erfindungen. Und doch ist das System der Arithmetik als Ganzes mit seinem wundervollen Bau nicht Produkt einer vorausblickenden Absicht, sondern einer natürlichen Entwicklung.
In jedem Zeichensystem unterscheiden wir Grundzeichen und abgeleitete oder zusammengesetzte Zeichen. Die Ableitung der letzteren aus den Grundzeichen erfolgt durch die Zeichenoperationen. Diese sind systematische, nach bestimmten Regeln verlaufende Verfahrensweisen symbolischen Vorstellens, Urteilens und Schließens. So sind z.B. die arithmetischen Operationen, sofern sie zahlbildend sind, geregelte Methoden zur Erzeugung uneigentlicher Vorstellungen; sofern sie aber Regeln der Bildung und Umformung von Gleichungen oder Ungleichungen aufstellen, sind sie Methoden zur Erzeugung symbolischer (und zwar wahrer) Urteile. Die Grundzeichen der Zahlenlehre sind die Zeichen 0, 1, ..., 9. Alle übrigen Zahlenzeichen, ferner Zeichen wie 2 + 3, 5 • 6, 4/2 usw. sind abgeleitete Zeichen für uneigentlich vorgestellte Zahlen. Jede Rechnung, z. B. eine Addition, ist eine symbolische Wahrheitsbildung durch gewisse mit den Grundzeichen vorgenommene Operationen.
Jede künstliche Operation mit Zeichen dient in gewisser Weise Zwecken der Erkenntnis; aber nicht führt eine jede wirklich zu Erkenntnissen, in dem wahren und echten Sinn logischer Einsichten. Nur dann, wenn das Verfahren selbst ein logisches ist, wenn wir die logische Einsicht haben, daß es so, wie es ist und weil es so ist, zur Wahrheit führen müsse, wird sein Resultat nicht bloß de facto eine Wahrheit, sondern eine Wahrheitserkenntnis sein. Nur dann haben wir die volle Sicherheit, geschützt zu sein vor dem Irrtum, und wir urteilen nicht aus blindem Drang, nicht aus einer mehr oder minder lebhaften Überzeugung, sondern aus lichter Einsicht. In diesem Sinne unterscheiden wir: 1) die vorlogischen Zeichenoperationen, welche auf Wahrheit abzielen, sie vielleicht auch erreichen, ohne daß jedoch die Anwendung (wie schon die Erfindung) dieser Verfahrensweisen auf logischem Verständnis beruhte; 2) die logischen Zeichenoperationen, die aus Erkenntnisgründen befolgt werden und darum nicht bloß Wahrheit, sondern gesicherte Wahrheit liefern.
Diese Unterscheidung trifft, wie man sieht, alle symbolischen Urteilsprozesse überhaupt, auch die natürlichen, aus der Wirksamkeit der Ideenassoziation allein und mit Ausschluß aller logischen Motive resultierenden. Diese gehören insgesamt der vorlogischen Stufe an.
Es ist nützlich, hier aufmerksam zu machen, daß eine planmäßige, zu Erkenntniszwecken stattfindende Anwendung von Zeichen darum noch keine logische ist. Schon auf der vorlogischen Stufe kann eine planmäßige Aufsuchend und Verwendung der Zeichen Platz greifen. Man kann sehr wohl bemerken, daß Zeichen unsere Erkenntnis fördern, ohne sich jedoch über den Grund dieser Förderung im mindesten klar zu sein. Dieses wird besonders dann möglich sein, wenn die auf symbolischem Wege gewonnenen Sätze (symbolischen Urteile) durch Übergang von den Zeichen zu den Gedanken auf wirkliche Urteile führen, die vermöge einer jeweilig durchführbaren Verifikation sich legitimieren. So verhält es sich in der Mathematik. Man darf behaupten: Die allgemeine Arithmetik mit ihren negativen, irrationalen und imaginären („unmöglichen") Zahlen wurde erfunden und jahrhundertelang angewendet, ehe sie verstanden wurde. Man hatte in betreff der Bedeutung dieser Zahlen die widersprechendsten und unglaublichsten Theorien, aber ihre Anwendung hinderte dies nicht. Man konnte sich eben von der Richtigkeit einer jeden vermittels ihrer hergeleiteten Sätze durch eine leichte Verifikation überzeugen, und nach unzähligen Erfahrungen dieser Art vertraute man naturgemäß der unbedingten Brauchbarkeit dieser Verfahrensweisen, erweiterte und verfeinerte sie immer mehr — all das ohne die geringste Einsicht in die Logik der Sache, die trotz vielfacher Bemühungen von den Zeiten eines Leibniz, D 'A l e m b e r t und C a r n o t bis heute keine wesentlichen Fortschritte gemacht hat.
So verhält es sich ja überhaupt mit den logischen Methoden, z. B. denen der Induktion. Die Naturforscher machen mit dem großartigsten Erfolge Gebrauch von diesen Methoden, ohne sich beengt zu fühlen durch die eigene Unklarheit sowie die der Logiker über Sinn, Grenzen und Erkenntniswert derselben. Auch bei der Induktion müssen wir unterscheiden das vorlogische und das logische Induktionsverfahren. Selbst wo beide zu demselben Resultate führen (was nicht einmal im groben Durchschnitt gilt), tun sie es doch auf ganz verschiedene Art und nur die logische gibt Erkenntnis. Die Induktion auf den blinden psychologischen Mechanismus der Gewohnheit gründen, der funktioniert, aber nicht berechtigt, das heißt die vorlogische mit der logischen Induktion verwechseln oder (mit Hume) die Möglichkeit einer vernünftigen Rechtfertigung der Induktion überhaupt leugnen.
Dies als drastischer Beleg dafür, daß eine Verwendung von Symbolen zu wissenschaftlichem Zwecke und mit wissenschaftlichem Erfolge darum noch keineswegs eine logische sei. Wir denken natürlich nicht daran, die vorlogische Anwendung von Zeichen ganz zu verwerfen. Sie führt ohne Zweifel im Durchschnitt zum Richtigen; aber doch nur im Durchschnitt. Und eben darum fordern wir für die Wissenschaft nur die Verwendung logisch berechtigter Zeichen. Hier könnte man gerade unser obiges Beispiel, das der Arithmetik, gegen uns ins Feld führen. In der Tat ist es richtig, daß die ausgebildete Arithmetik im weitesten Umfange von einem logischen Verständnis ihrer kunstmäßigen Verfahrensweisen unabhängig ist. Indessen, die Arithmetik ist nicht als fertige Erfindung dem Haupte eine seinzelnen entsprungen ; sie ist das Produkt einer Entwicklung in Jahrhunderten.
Durch eine Art natürlicher Auslese ist sie entstanden. Im Kampfe ums Dasein siegte die Wahrheit gegen den als unhaltbar sich erweisenden Irrtum und die arithmetischen Methoden wurden demgemäß ausgebildet, indem man sukzessive die Veränderungen mit ihnen vornahm, welche die sonst noch möglichen Irrtümer ausschlossen. Die Richtigkeit des Resultates konnte sehr wohl als Prüfstein für die Methode dienen, da man von jener sich überzeugen konnte (durch die oben erwähnte Verifikation), ohne diese zu benutzen. Aber wie viele Geisteskraft ist auf diesem mehr zufälligen denn logisch geregeltem Wege verschwendet worden! Man denke an die endlosen Streitigkeiten über das Negative und Imaginäre, Unendlichkleine und Unendlichgroße, über die Paradoxien der divergenten Reihen usw. Rasch und sicher statt langsam und schwankend wäre der Fortschritt der Arithmetik erfolgt, wenn man über den logischen Charakter ihrer Methoden schon bei deren Entwicklung im klaren gewesen wäre. Und ebenso unterliegt es keinem Zweifel, daß auch für die künftige Fortentwicklung der Arithmetik (soweit es auf eine Erweiterung des Gebietes abgesehen ist) die Einsicht in ihren logischen Charakter von maßgebendem, Fortschritt förderndem Einfluß sein müßte.