Der Mythos des Vorgegebenen (BD2015)

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"Alles was unmittelbar erlebt wurde, ist in eine Vorstellung entwichen."


"Tout ce qui était directement vécu s'est éloigné dans une représentation."
Guy Debord - Die Gesellschaft des Spektakels [1]
Guy Debord - La societé du spectacle [2]


1. Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Sammlung von Spektakeln. Alles was unmittelbar erlebt wurde, ist in eine Vorstellung entwichen.

2. Die Bilder, die sich von jedem Aspekt des Lebens abgetrennt haben, verschmelzen in einen gemeinsamen Lauf, in dem die Einheit dieses Lebens nicht wiederhergestellt werden kann. Die teilweise betrachtete Realität entfaltet sich in ihrer eigenen allgemeinen Einheit als abgesonderte Pseudo-Welt, Objekt der bloßen Kontemplation. Die Spezialisierung der Bilder der Welt findet sich vollendet in der autonom gewordenen Bildwelt wieder, in der sich das Verlogene selbst belogen hat. Das Spektakel überhaupt ist als konkrete Verkehrung des Lebens, die eigenständige Bewegung des Unlebendigen.

3. Das Spektakel stellt sich zugleich als die Gesellschaft selbst, als Teil der Gesellschaft und als Vereinigungsinstrument dar. Als Teil der Gesellschaft ist das Spektakel ausdrücklich der Bereich, der jeden Blick und jedes Bewußtsein auf sich zieht. Aufgrund dieser Tatsache, daß dieser Bereich abgetrennt ist, ist er der Ort des getäuschten Blicks und des falschen Bewußtseins; und die Vereinigung, die es bewirkt, ist nichts anderes als eine offizielle Sprache der verallgemeinerten Trennung.

4. Das Spektakel ist nicht ein Ganzes von Bildern, sondern ein durch Bilder vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen.

5. Das Spektakel kann nicht als Übertreibung einer Welt des Schauens, als Produkt der Techniken der Massenverbreitung von Bildern begriffen werden. Es ist vielmehr eine tatsächlich gewordene, ins Materielle übertragene Weltanschauung. Es ist eine Anschauung der Welt, die sich vergegenständlicht hat.

6. In seiner Totalität begriffen, ist das Spektakel zugleich das Ergebnis und die Zielsetzung der bestehenden Produktionsweise. Es ist kein Zusatz zur wirklichen Welt, kein aufgesetzter Zierat. Es ist das Herz des Irrealismus der realen Gesellschaft. In allen seinen besonderen Formen: Information oder Propaganda, Werbung oder unmittelbarer Konsum von Zerstreuungen ist das Spektakel das gegenwärtige Modell des gesellschaftlich herrschenden Lebens. Es ist die allgegenwärtige Behauptung der in der Produktion und ihrem korollären Konsum bereits getroffenen Wahl. Form und Inhalt des Spektakels sind identisch die vollständige Rechtfertigung der Bedingungen und der Ziele des bestehenden Systems. Das Spektakel ist auch die ständige Gegenwart dieser Rechtfertigung, als Beschlagnahme des hauptsächlichen Teils der außerhalb der modernen Produktion erlebten Zeit.

7. Die Trennung selbst gehört zur Einheit der Welt, zur globalen gesellschaftlichen Praxis, die sich in Realität und Bild aufgespalten hat. Die gesellschaftliche Praxis, vor die sich das autonome Spektakel stellt, ist auch die das Spektakel umfassende wirkliche Totalität. Aber die Aufspaltung dieser Totalität verstümmelt sie so sehr, daß sie das Spektakel als ihren Zweck erscheinen läßt. Die Sprache des Spektakels besteht aus Zeichen der herrschenden Produktion, die zugleich der letzte Zweck dieser Produktion sind.

8. Das Spektakel und die wirkliche gesellschaftliche Tätigkeit lassen sich nicht abstrakt einander entgegensetzen; diese Verdoppelung ist selbst doppelt. Das Spektakel, das das Wirkliche verkehrt, wird wirklich erzeugt. Zugleich wird die erlebte Wirklichkeit durch die Kontemplation des Spektakels materiell überschwemmt und nimmt in sich selbst die spektakuläre Ordnung wieder auf, indem sie ihr eine positive Zustimmung gibt. Die objektive Realität ist auf beiden Seiten vorhanden. Jeder so festgesetzte Begriff gründet sich nur auf seinen Übergang in die Gegenseite. Ins Spektakel tritt die Wirklichkeit ein, und das Spektakel ist wirklich. Diese gegenseitige Entfremdung ist das Wesen und die Stütze der bestehenden Gesellschaft.


"Schaut auf diese Welt! Hunger in Syrien: Unsere Diskurse machen uns blind"

Exzerpt aus einem Beitrag von Christian Geyer. Frankfurter Allgemeine Zeitung 13.1.2016. S 9

Blicken wir nicht längst nur noch "im Hinblick" auf? Droht in den sozialpsychologischen Dynamiken, die unser Land im Augenblick zerreißen, nicht jedes Ereignis in seine Bezüge zu zerfallen? Wer möchte bei all den Metadiskussionen, die uns im Griff haben, schon noch von nackten Tatsachen reden? Von Bildern und Geschichten, die elementar wären?

...

Es sind unsere Sehgewohnheiten, die diese Bilder gleichzeitig verstellen und zum Sprechen bringen.

...

"Es gibt Minen, es gibt Fälle, wo die Leute erschossen worden sind, als sie versucht haben wegzugehen, nur, um Essen zu suchen. Nur um Gras zu sammeln, hat ein Kind neulich zwei Beine verloren. Die Situation ist ein Albtraum" (Melissa Fleming)

Unser Albtraum ist, dass wir solche Albträume nur in abgeleiteten, von der Deutungsmaschinerie erhitzten Kategorien wie Fluchtursachen, Einzelfallprüfung und Kriminalitätsstatistik wahrzunehmen gewöhnt sind. Unser Albtraum ist, dass wir auf diese Raster angewiesen bleiben, soll "Syrien" uns überhaupt betreffen können. ...


Wilfried Sellars: The Myth of the Given

aus: The Internet Encyclopedia

Sellars (1956) provides an extended critique of the notion of the Given. There are two parts to Sellars’ argument: first, he claims that knowledge is part of the “logical space of reasons;” and second, he provides an alternative account of “looks talk,” or an alternative reading of such claims as “that looks red to me,” claims that traditionally have been seen as infallible and as foundations for our perceptual knowledge. According to Sellars, no cognitive states are non-inferentially justified. For him:

“The essential part is that in characterising an episode or a state as that of knowing, we are placing it in the logical space of reasons, of justifying and being able to justify what one says.” (Sellars, 1956, p. 76)

Whether we are talking about perceptual or non-perceptual knowledge, we must be able to offer reasons for why we take such claims to be true. To even claim appropriately that I have knowledge that I now seem to be seeing a red shape, I must be able to articulate such reasons as, “since my eyes are working fine, and the light is good, I am right in thinking that I am having a certain sensory experience.” As Rorty (1979, chapter 4) argues, justification is essentially a linguistic or “conversational” notion; it must consist in the reasoned recognition of why a particular belief is likely to be true or why one is rightly said to be having a certain experience. If such an account of justification is correct, then the notion of non-inferentially justified basic beliefs is untenable and non-conceptual perceptual experience cannot provide the justification for our perceptual beliefs.

Surely, though, “this looks red to me,” cannot be something that I can be wrong about. Such a foundationalist claim seems to be undeniable. Sellars, however, suggests that such wording does not indicate infallibility. One does not say, “This looks red to me,” to (infallibly) report the nature of one’s experience; rather, one uses such a locution in order to flag that one is unsure whether one has correctly perceived the world.

"When I say “X looks green to me” ... the fact that I make this report rather than the simple report “X is green,” indicates that certain considerations have operated to raise, so to speak in a higher court, the question ‘to endorse or not to endorse.’ I may have reason to think that X may not after all be green. (Sellars, 1956, p. 41)

Thus, Sellars provides a two-pronged attack on traditional foundationalism. The way we describe our perceptual experience does indeed suggest that we have infallible access to certain private experiences, private experiences that we cannot be mistaken about. However, we should recognize the possibility that we may be being fooled by grammar here. Sellars gives an alternative interpretation of such statements as, “this looks red to me,” an interpretation that does not commit one to having such a privileged epistemological access to one’s perceptual experience. Further, a conceptual analysis of “knowledge” reveals that knowledge is essentially a rational state and, therefore, that one cannot claim to know what one has no reason for accepting as true. Such reasons must be conceived in terms of linguistic constructions that one can articulate, and thus, the bare presence of the Given cannot ground the knowledge we have of our own experience or, consequently, of the world. This, then, is a rejection of the traditional foundationalist picture, or what Sellars calls, “the Myth of the Given.”

One of the forms taken by the Myth of the Given is the idea that there is, indeed must be, a structure of particular matter of such fact that (a) each fact can not only be noninferentially known to be the case, but presupposes no other knowledge either of particular matters of fact, or of general truths; and (b) such that the noninferential knowledge of facts belonging to this structure constitutes the ultimate court of appeal for all factual claims, particular and general, about the world. (Sellars, 1956, pp. 68-9)

John McDowell: Sellars and the Space of Reason [3]

Exzerpt

It was Wilfrid Sellars who introduced the image of the space of reasons. At an important moment in “Empiricism and the Philosophy of Mind”, he writes that “in characterizing an episode or a state as that of knowing, we are not giving an empirical description of that episode or state; we are placing it in the logical space of reasons, of justifying and being able to justify what one says” (§36). Characterizing an episode or state as one of knowing would be claiming that an epistemic fact obtains, to use language Sellars exploits elsewhere. The remark about the logical space of reasons fits with his saying, in a promissory spirit, near the beginning of the paper (§5):

[T]he idea that epistemic facts can be analyzed without remainder — even in principle — into non-epistemic facts, whether phenomenal or behavioral, public or private, with no matter how lavish a sprinkling of subjunctives and hypotheticals, is, I believe, a radical mistake — a mistake of a piece with the so-called “naturalistic fallacy” in ethics.

...

So the remark about the space of reasons generalizes. In characterizing an episode or a state in terms of actualization of conceptual capacities, as we do when we say that someone is thinking of a celestial city, or that something looks, for instance, red to someone, we are placing the episode or state in the logical space of reasons, no less than when we characterize an episode or a state as one of knowing.

I think it is helpful to see this generalized form of the point as anticipating something Donald Davidson puts by saying that concepts of propositional attitudes operate under a “constitutive ideal of rationality”. Davidson says this in the course of urging that we cannot expect applications of concepts of propositional attitudes to line up in an orderly way with descriptions of their compliants in terms of, for instance, neurophysiology. That corresponds to Sellars’s denial that epistemic facts — which, in Sellars’s extended sense, correspond quite well to the facts singled out by their involving what Davidson calls “propositional attitudes” — can be analysed without remainder into non-epistemic facts. And Davidson suggests an argument for the claim of irreducibility that is more or less common between him and Sellars.

The argument is that placing items in the space of reasons, to put it in Sellarsian terms, serves the purpose of displaying phenomena as having a quite special kind of intelligibility, the kind of intelligibility a phenomenon is revealed as having when we enable ourselves to see it as manifesting responsiveness to reasons as such. ... An obvious case is the intelligibility that we find in behaviour when we see it as intentional action, situating it in the context of the desires and beliefs that inform it. But of course beliefs and desires themselves can be made intelligible as manifestations of a responsiveness to reasons on the part of their possessors.

We place beliefs and desires in the space of reasons by putting them in a context that includes other beliefs, other desires, and valuations, in the light of which the beliefs and desires we are aiming to understand are revealed as manifestations of rationality on the part of their possessors. Talk of the space of reasons captures in metaphorical terms the distinctive kind of pattern in which we situate things when we explain them in this distinctive way. And Davidson’s suggestion is that this kind of pattern is so special that there is no prospect of formulating the content of concepts whose primary point lies in their availability for placing in the space of reasons in terms of nothing but concepts that do not have that as their primary point.

To mark this special character of space-of-reasons intelligibility, Davidson sets it in contrast with the mode of intelligibility sought by disciplines like physics. In, say, mechanics, we make phenomena intelligible by revealing them as instances of ways in which things regularly happen, ways in which things unfold in conformity to laws of nature. That is quite unlike making phenomena intelligible by revealing them as efforts on the part of subjects to conform to the requirements of rationality. Presumably when Sellars invokes nature, in his contrast between the epistemic and the natural, he means to put us in mind of some such conception of what he wants us to see as the foil to placing things in the space of reasons. Sellars’s talk of natural facts points to a kind of intelligibility that is characteristic, if not of physics in particular, at least of the natural sciences in general.