Das Fremde, R. Bubner (T)

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Für den Appell an die bewußte Haltung der Toleranz muß allerdings ein bestimmter Grad der Schmälerung vermeinter oder tatsächlicher An­sprüche auf erwartbares Benehmen erreicht sein. Die modernen Gesell­schaften verlangen eine weite Kapazität der stillschweigenden Verarbeitung von »Abweichungen«, weil bereits die Interpretation eines beobachteten Schritts vom rechten Wege so viel Aufmerksamkeit und Deutungsleistung verlangt, wie die meisten Akteure im Drang der Geschäfte gar nicht aufzubringen vermögen. Hinzu tritt das plausible Kalkül der Abwägung zwi­schen den für Protest, Anklage oder gar Rechtsverfahren erforderlichen Aufwendungen an Zeit und Kraft mit dem voraussehbaren und meist zweifelhaften Erfolg, so daß die Niederschlagung der anfänglichen Em­pörung zugunsten der Beibehaltung von im großen und ganzen unstritti­gen Lebensverhältnissen öfters ratsam erscheint.

Klar ist mithin, daß die eindeutige Identifikation einer Zumutung, die so geartet ist, daß Erdulden und Ertragen als Reaktionsmöglichkeit über­haupt in Frage kommen, einer Entscheidung der Urteilskraft anheimge­stellt wird. Toleranzfälle sind nämlich in der Regel keine unabweisbaren Dilemmata der Moral oder Verletzungen des positiven Rechts. Toleranzfälle sind per definitionem Grenzfälle zwischen dem breiten Bereich der Gewohnheit und der schmalen, aber innovationstauglichen Zone des De­vianten. Insofern Urteilskraft hier eingreift, hat man mit Wellen der Ver­änderung zu rechnen. Was bei Hofe etwa unmöglich war, ist im Bürgertum akzeptiert worden. Was die bürgerliche Oberklasse verdammte, rührt die Mittelschicht kaum. Was im Orden, im Heer, in streng geregelten In­stitutionen verpönt ist, kann freischwebende Intellektuelle nicht schrecken. Die »einfachen Leute« pflegen ohnehin rauhere Umgangstöne. Und vor allem enthält das Spektrum politischer Orientierungen immer Stoff zu Skandalen, wenn man sie denn zum Eklat bringen will.

Toleranz unter dem Aspekt der Differenz und Devianz, im Kontrast zum "Üblichen". Damit entsteht eine "Dialektik", die dem Fremden zwar die Innovationstauglichkeit zuspricht, es gleichzeitig aber gegen den Gruppenkonsens aufbaut. Die bekannte Problemsicht des Neo-Konservativismus.

Man kann sie aber aus guten Gründen auch vermeiden wollen. Dann empfiehlt sich eben kluge Zurückhaltung. Nehmen wir an, daß diese Be­schreibungsskizze der verwickelten Sachlage einigermaßen gerecht wird, so bleibt wichtig festzuhalten, daß die Toleranzidee nicht eine Anweisung enthält, Provokationen herunterzuspielen, und auf Dauer gesehen das ehemals störende Verhalten in den breiten Pfad des Akzeptierten zu inte­grieren. Die Offerte der Toleranz muß als ein überschießendes Angebot mitmenschlichen Wohlwollens gewürdigt werden, um nicht zum Laissez-faire zu verkommen. So enthält die Bereitschaft zur Toleranz ein Element unverbrauchter Sensibilität für Regelverletzungen grober oder verfeiner­ter Art. Daß Toleranz fallweise eine Verletzung der Regel kompensiert, beweist, daß im sozialen Kontext immer wieder spezielle Leistungen der sozialen Regeneration als Antwort auf Fehltritte oder Überbean­spruchung des Grundkonsenses nötig und möglich sind. Toleranz geht über den ursprünglichen Gesellschaftsvertrag, der Gleichheit unterstellt, immer einen Schritt hinaus. Offenbar hat nämlich der säkularisierte Rechtsstaat mit seiner universalen Friedensmission noch nicht endgültig den Sieg über menschliche Reizbarkeit und jene Konflikttendenzen da­vongetragen, die im Innern des geregelten Miteinander gerade aufblühen.

Hierher gehört das Problem des Schleiers. "Das ist nur ein anderer Weg, um zu einer Egalisierung aller Differenzen im öffentli­chen Raum zu gelangen, also neutral und unparteilich zu sein." (A. Galleotti) Läßt sich der Standpunkt des Liberalismus durch positive Diskriminierung erweitern (vgl. gender mainstreaming).

Neuerdings wird das Toleranzthema lebhaft unter dem Stichwort des »Fremden« erörtert. Daran zeigen sich Verschiebungen grundsätzlicher Art gegenüber dem Duldungsimperativ, der auf Abweichler innerhalb der eigenen Gesellschaft gerichtet war. Die Konfrontation mit Fremden zählt wohl zu den Konstanten europäischer Selbstverständigung seit dem Zeitalter der Weltreisen und Kolonisierungen. Montesquieus »Lettres persa­nes«, Diderots »Supplement« zu den viel gelesenen Reiseberichten von Bougainville, Voltaires »philosophischer« Roman »L'Ingenu«, der einen schiffsbrüchigen Huronen an der bretonischen Küste einem Abbé und einer adeligen Dame entgegenführt, schließlich die ideale Figur des »gu­ten Wilden«, die Rousseau durch seine bis heute wirksame Zivilisations­kritik populär gemacht hat - lauter Beispiele für »multikulturelle« Refle­xionen, die einen Strang der Modernitätsdiagnose bestimmen. Die An­teilnahme an den Belangen der »Dritten Welt« erscheint nach dem Verschwinden einer »zweiten« noch dringlicher und aktualisiert jene auf­klärerische Linie.

Die Verbindung der Toleranzidee mit der Reflexion auf das »Fremde« als Gegenstück zur Ideologie des Authentischen erfährt Konjunktur auf dem Boden von Einwanderungsgesellschaften. Große Nationen wie die Vereinigten Staaten oder Kanada sind aus einer Vermischung der Urein­wohner mit Jahrhunderte währenden Schüben europäischer und neuer­dings asiatischer Einwanderer aus verschiedenen Ländern mitsamt den differenten religiösen und kulturellen Hintergründen hervorgegangen. Nicht zuletzt stellen die Nachfahren der aus Afrika importierten Sklaven trotz aller Integrationserfolge einen Faktor der Fremdheit dar. Die Nor­mallage solcher Einwandererstaaten existiert als gelungenes Integrations­programm im Schoße der Gesellschaft.

Inzwischen sind auch die Wohlstandsinseln Zentraleuropas zum Ziele bedeutender Wanderungen aus östlichen und südlichen Himmelsrichtun­gen geworden. Die Veränderung leitet dazu an, die alten europäischen Nationalstaaten nach dem amerikanischen Modell als »offene Gesell­schaft« umzudeuten. Die Aufnahme der Elenden und Beladenen aus der gesamten bewohnten Welt zeichnet sich als utopische Gestaltungsaufga­be der Zukunft ab.

Im Gefolge dieses Wandels rückt Toleranz inzwischen zu einer politi­schen Schlüsselkategorie auf. Entgegen seiner Herkunft soll der Toleranzbegriff die fortgeschrittene und historisch adäquate, politische Grundnorm abgeben. Er hatte einmal das extraordinäre Entgegenkommen am Rande der Normen gekennzeichnet, während die Auseinandersetzung mit dem Moment des Fremden in der Neuzeit auf eine Gestalt literarisch ästhetischer Selbstkritik beschränkt gewesen war. Eine politisch erhebliche Größe war im Gedankenspiel mit dem »Wilden« nicht zu sehen. Sie öffnete schon deshalb kein Tor für Masseneinwanderung, weil der Reiz des Fremden mit der Quantität seiner Präsenz verblaßt. Andererseits ver­blieben die heftigen Religionskonflikte der vorangehenden Epochen im innenpolitischen Rahmen, wenn nicht schließlich das Ventil der Emigrati­onsbewegungen besonders in die Neue Welt sich öffnete. Was hat sich seither geändert?

  • Nicht übersehen: Neokonservativismus und Migrationsbewegungen
  • Religionskonflike innenpolitisch? Der Dreißigjährige Krieg?


An Stelle der religiös geforderten Toleranz soll deren konfliktentspan­nende Funktion zur Förderung der staatlichen Ordnung überhaupt eingesetzt werden, und die innenpolitische Konfliktlage nimmt eine außenpolitische Dimension an. Auf Anhieb ist zu bezweifeln, ob Toleranz zum immanenten Baustoff von Staaten taugt, die dem wachsenden Außendruck ausgesetzt sind. Erst die internationalistischen Vorstellungen von Anglei­chung aller Nationalstaaten aneinander, zumindest in der Problemstructur ihrer Metropolen, verbunden mit kosmopolitischen Hoffnungen von Intellektuellen, die in Wunschperspektive alle Grenzen niederlegen wollen, befördern diesen objektiven Schein. Die globale Einheitsgesellschaft als versöhnte Ökumene im kampfesmüden Endstadium der Geschichte vertritt heute die vor Jahrzehnten von der Linken gefeierte politische Utopie.

Was wir beobachten, kann man das Voranrücken einer politischen Randkategorie, die keineswegs wie Gerechtigkeit, Ordnung oder Legiti­mität ins Zentrum des politischen Nachdenkens gehört, zu einem univer­salen Modell für die Erklärung politischer Vorgänge nennen. Daraus entsteht eine eigentümliche Paradoxie. Denn Toleranz kann nur beweisen, wer es sich erlauben kann, in Kleinigkeiten großzügig zu sein, weil die wesentlichen Abläufe des praktischen Lebens sich in ihrer überwiegenden Mehrzahl unbedroht vollziehen. Wer seine Hauptinteressen jedoch nicht gesichert sieht, dem steht nur ein schmales Budget toleranter Ein­stellungen zur Verfügung. In beengten Handlungslagen verfängt kein Appell zur Duldung von immer mehr Zumutungen.

  • Das trifft einerseits den ganz zu Beginn der Vorlesung genannten Punkt: Toleranz ist eine Tugend für Besserverdienende.
  • Zweitens schiebt es allerdings ein Grenzproblem an den Rand. Dass ein Thema in Grenzfragen auftaucht, heißt ja noch nicht, dass es ein Randproblem ist.

Voltaire hat ehedem die Toleranz als »Apanage de 1'humanite« ge­rühmt. Dabei zielt er nicht auf das elementare Handlungsmuster des Soziallebens, sondern meint ein krönendes Indiz der Bewährung von selbstgewisser humaner Gesinnung. Toleranz ist eine Zier der Reife, aber keine tragfähige Basis im ernsten Konflikt. Die Erklärung dieser Akzentsetzung liegt in dem unabänderlichen Umstand, daß die Verteilung derje­nigen Dinge, in denen wir Abweichung dulden, gegenüber dem größeren Anteil, wo wir uns das nicht leisten können, ungleich ausfällt. Wir benöti­gen erwartbare Sicherheit, intersubjektive Verläßlichkeit, Statuseindeu­tigkeit im Rollenspiel und folgerichtig auch Vorhersehbarkeit und Plan­barkeit, um unsere privaten und kollektiven Handlungsprojekte in Gang zu setzen und kontinuierlich weiterzuverfolgen. Aus dem primären In­teresse unserer gesamten Handlungsdispositionen ergibt sich die Not­wendigkeit einer ungleichen Gewichtung des Stabilitätskerns und der to­leranzfähigen Randzone, die im alten Modell durch Befestigung der Bür­gerrolle über eine systematische Reduktion des Meinungssektors auf Subjektivität erfolgt war.

  • Das eine ist die Unausweichlichkeit lebensweltlich ungebrochener Zusammenhänge
  • das andere deren Affirmation. Denn auf der Ebene des Nachdenkens über die Bedingungen, unter denen Gesellschaften funktionieren, stößt man auf den unausweichlichen Zusammenhang von Eigenleben und Fremdheit.
  • Dieser Zusammenhang ist tatsächlich asymmetrisch, aber die Komponenten sind wechselseitig voneinander abhängig.

An dieser konstitutiven Ungleichheit ist in Wahrheit nicht zu rütteln. Denn das Erdulden von spürbaren Zumutungen kann grundsätzlich nur im Nachgang zur vorläufigen Garantie der essentiellen Lebensformen erfolgen. Hingegen bedeutete die Duldung von allem und jedem, die schrankenlos gewährte Liberalität der Devianz, ja die Imagination einer anar­chistischen Gesellschaft von lauter Abweichlern ein historisch passageres Phänomen, das dem baldigen realgeschichtlichen Untergang geweiht wäre. Die lebenswichtige Vor- und Nachordnung zwischen homogener Gesellschaft und Ertragen von deren Durchkreuzung auch unter den aktuellen Bedingungen einer Fülle von idiomatisch diversifizierten, in Lebensstile zersplitterten und in experimentelle Episoden zerlegten Bio­graphien nicht aufgegeben werden, obwohl pluralistische Gesellschaften in der Tat ein erweitertes Reich von Möglichkeiten präsent halten. Das »System der Toleranz«, von dem Walzer spricht, muß indes, vage genug, auf »soziale Arrangements« als »institutionalisierte Formen« bauen, »die Differenz einschließen [...] und ihr einen Teil des öffentlichen Raumes zu­gestehen«.

Was sagt Bubner eigentlich gegen Walzer?




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