Bertrand Russell über Leibniz (K&L)
Russell bezeichnet Leibniz als einen der größten Denker aller Zeiten - als Menschen hielt er ihn nicht für bewunderungswürdig. Er spricht ihm auch die „höheren philosophischen Tugenden“ ab, die er besonders an Spinoza bemerkenswert findet und den er als ethisch sehr hochstehend bezeichnet. - Leibniz schätzt Russell vor allem als Mathematiker und als Erfinder der Infinitesimalrechnung. Nach Russells Auffassung erkannte Leibniz vor allen anderen bahnbrechend den Wert der mathematischen Logik. Leibniz’ philosophische Hypothesen hält Russell für zwar phantastisch aber klar und präzise auszudrücken. Das beste an Leibniz’ Monadentheorie sind für Russell seine beiden Arten des Raumes: die subjektive bei den Vorstellungen der einzelnen Monaden und die objektive bei der Vereinigung der Standpunkte der verschiedenen Monaden. - Russell erscheint das als nützlich für die Bestimmung der Beziehung zwischen Wahrnehmung und Physik. Leibniz war zwei Jahre vor dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs - 1646 - in Leipzig geboren worden. Sein Vater war Professor der Moralphilosophie. Leibniz studierte Jus und erwarb 1666 mit 20 Jahren den Doktorgrad. Ein Angebot für einen Lehrstuhl in Altdorf lehnte er ab - mit der Begründung, dass er „ganz andere Dinge vorhabe.“ 1667 trat er in die Dienst des Erzbischofs von Mainz, der - wie andere westdeutsche Fürsten auch - in ständiger Furcht vor Ludwig XIV. lebte. Mit Billigung des Erzbischofs versuchte daher Leibniz, den französischen König zu überreden, in Ägypten statt in Deutschland einzufallen; dieser soll jedoch Leibniz höflich daran erinnert haben, dass Kreuzzüge gegen Ungläubige seit Ludwig dem Heiligen nicht mehr modern seien. - Dieses „Projekt“ von Leibniz blieb der Öffentlichkeit unbekannt - bis Napoleon es entdeckte, als er 1803 Hannover einnahm - vier Jahre nach seinem eigenen misslungenen Feldzug gegen Ägypten… - Leibniz war durch dieses Vorhaben 1672 für vier Jahre nach Paris gekommen, welche Stadt damals auf philosophischem und mathematischem Gebiet führend war, und er knüpfte dort Verbindungen an, die für seine Entwicklung sehr wichtig waren. - In den Jahren 1675/76 erfand er dort die Infinitesimalrechnung. Leibniz hatte dabei nicht Newtons zeitlich frühere aber unveröffentlichte Arbeit über das gleiche Thema gekannt. - Die Arbeit von Leibniz erschien 1684, die von Newton 1687. Daraus ergab sich in der Folge ein für alle Beteiligten schimpflicher Prioritätsstreit. Leibniz hatte in Deutschland eine neo-scholastische aristotelische Philosophie erlernt, von der ihm lebenslang etwas anhaften blieb. In Paris erschloss sich ihm der Cartesianismus und der Materialismus von Pierre Gassendi und beeinflusste ihn nach seiner eigenen Aussage, sich von den „Trivialschulen“ abzuwenden. In Paris lernte Leibniz auch Nicolas Malebranche kennen. Vor allem aber Spinoza hatte bedeutenden Einfluss auf seine Philosophie. Leibniz besuchte ihn 1676 und verbrachte einen Monat mit ihm in intensiven Diskussionen. - Später schlug Leibniz sich auf die Seite der Gegner von Spinoza und bagatellisierte seine Begegnung mit ihm. Für den Rest seines Lebens blieb Leibniz im Dienst des Hofs von Hannover. - Als Georg I. König von England wurde, ließ man ihn aber in Deutschland zurück, da er sich durch seinen Streit mit Newton die englischen Sympathien verscherzt hatte. Leibniz populäre Schriften sind die Monadologie und die Principes de la Nature et de la Grâce. Eine der beiden Schriften - es ist nicht bekannt, welche - verfasste er für Prinz Eugen von Savoyen. Für die Königin Charlotte von Preußen schrieb er die Theodizee - mit theologischem Optimismus, wie Russell urteilt. Leibniz sei vom Substanzbegriff ausgegangen wie Descartes und Spinoza - aber in radikaler Unterscheidung von ihnen sei für Leibniz Ausdehnung nicht das Attribut einer Substanz gewesen - mit der Begründung, dass Ausdehnung eine Vielheit einbegreife und nur einem Aggregat von Substanzen zugehören könne; jede einzelne Substanz müsse ohne Ausdehnung sein. Leibniz habe an eine Unzahl von Substanzen geglaubt und sie „Monaden“ genannt. Jede Monade besitze einige Eigenschaften eines physikalischen Punktes - bei abstrakter Betrachtung. In Wirklichkeit sei jede Monade eine Seele. Das ergebe sich naturgemäß, wenn man die Ausdehnung als Attribut der Substanz verwerfe; was als einziges Wesensattribut übrig bleibt, scheine das Denken zu sein. - Leibniz habe die Realität der Materie geleugnet und sie durch eine unendliche Familie von Seelen ersetzt. Leibniz habe die Lehre beibehalten, die die Nachfolger von Descartes entwickelt hatten: dass die Substanzen einander nicht beeinflussen könnten, was zu dem von ihm behaupteten merkwürdigen Ergebnis führe, dass zwei Monaden niemals in einem Kausalzusammenhang stehen könnten, auch wenn es den Anschein habe - der trügt. - Monaden sind „fensterlos“. - Russell sieht zwei Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben: einmal durch die Dynamik, bei der die Körper vor allem durch Stoß aufeinander einzuwirken scheinen - und auch im Zusammenhang mit der Vorstellung, die in einer Einwirkung des vorgestellten Objekts auf den Vorstellenden zu bestehen scheine. - Russell übergeht die dynamische Schwierigkeit und untersucht die Frage der Vorstellung: Nach Leibniz’ Überlegung spiegle jede Monade das Universum wider - nicht, weil das Universum auf sie einwirke, sondern weil Gott ihr ein Wesen verliehen habe, das spontan dieses Ergebnis erzeuge: das sei die berühmte „prästabilierte Harmonie“ zwischen den Veränderungen in den verschiedenen Monaden, wodurch der Anschein der Wechselwirkung erzielt werde. Russell bezeichnet das als eine offensichtliche Erweiterung des Prinzips der beiden Uhren, die beide gleichzeitig schlagen, weil jede genau richtig geht. Bei Leibniz müsse man sich gewissermaßen eine Unzahl von Uhren vorstellen, die alle vom Schöpfer so eingerichtet sind, dass sie zur gleichen Zeit schlagen - nicht, weil sie einander beeinflussen, sondern, weil jede einen vollkommen akkuraten Mechanismus darstellt. - Leibniz habe seine prästabilierte Harmonie für einen wunderbaren Gottesbeweis gehalten. - Die Monaden bildeten eine Hierarchie, in der manche den anderen durch die Klarheit und Deutlichkeit, mit der sie das Universum spiegeln, überlegen sind, und auch der Grad der Verworrenheit ihrer Vorstellungen schwanke entsprechend ihrem Wert. Der menschliche Körper sei ganz aus Monaden zusammengesetzt, deren jede eine unsterbliche Seele sei, wobei eine Monade vorherrsche: die Seele des Menschen, die aber Teil seines Körpers sei. Die herrschende Monade habe die Willensherrschaft über die Veränderungen im Körper - unter normalen Umständen, betont Russell. Der Raum, wie er den Sinnen erscheine und wie ihn die Physik annehme, sei nicht wirklich, habe aber ein reales Gegenstück: die Anordnung der Monaden in einer dreidimensionalen Ordnung, entsprechend dem Standpunkt, von dem aus sie das Universum widerspiegeln. - Und durch die unterschiedlichen Perspektiven der einzelnen Monaden könnten wir sie uns als räumlich positioniert denken. - So etwas wie ein Vakuum gebe es nicht. Jeder mögliche Standpunkt werde von einer Monade eingenommen. Es sei unmöglich, dass zwei Monaden einander genau gleichen. - Leibniz hat das „principium identitatis indiscernibilium“ genannt. Leibniz habe sich von Spinoza distanzieren wollen und darauf hingewiesen, dass sein System die Willensfreiheit zulasse. Nach seinem „Satz vom zureichenden Grund“ geschehe nichts ohne Grund. Gott sei in seinem Handeln ebenso frei. Er tue alles aufs beste, handle dabei aber nicht unter einem logischen Zwang. Mit Thomas von Aquin stimmt Leibniz überein, dass Gott nicht den Gesetzen der Logik zuwiderhandeln könne, aber bestimmen, was überhaupt logisch möglich sei. Das räume Gott eine große Wahlfreiheit ein. - Leibniz habe den metaphysischen Gottesbeweisen ihre endgültige Form verliehen. Diese Gottesbeweise, die die Scholastiker formulierten, beginnen bei Aristoteles und Plato. Der uns bekannteste ist der sogenannte ontologische Beweis, den Anselm aufgestellt hat. Thomas habe ihn verworfen, und Descartes habe ihn wieder aufgegriffen. Leibniz habe mit seinem außerordentlichen logischen Geschick die Gottesbeweise besser aufgestellt als je zuvor. - Russell prüft diese Gottesbeweise; moderne Theologen seien von ihnen abgekommen; - der Gott des Alten Testaments sei ein Gott der Macht; der Gott des Neuen Testaments ein Gott der Liebe; der Gott der Theologen von Aristoteles bis Calvin wende sich an den Intellekt. Seine Existenz helfe bei der Lösung von Rätseln beim Versuch, das Universum zu begreifen. - Rousseau habe dieser Gott nicht befriedigt, der gleichsam das Ergebnis einer Beweisführung wie in einem geometrischen Lehrsatz sei, und er sei zu einem Gottesbegriff zurückgekehrt, der ähnlich wie in den Evangelien sei. Die Protestanten seien dem gefolgt; - die Philosophen seien konservativer gewesen. Hegel, Lotze und Bradley hätten sich an die metaphysischen Beweise gehalten, mit denen Kant nach seiner Behauptung ein für allemal aufgeräumt hatte. Die vier Gottesbeweise, die Leibniz anführt sind der ontologische, der kosmologische, der aus den ewigen Wahrheiten abgeleitete und der aus der prästabilierten Harmonie stammende; das ist ein von Zweckmäßigkeiten abgeleiteter Beweis. - Kant nennt ihn physiko-theologisch.
Der ontologische Beweis beruhe auf dem Unterschied zwischen Existenz und Essenz. Jede gewöhnliche Sache oder Person besitze Existenz und auch bestimmte Eigenschaften, die ihre „Essenz“ ausmachen. Russell bringt als Beispiel Hamlet. Der existiere nicht, habe aber eine gewisse Essenz: er sei melancholisch - unentschlossen - geistreich usw. - Bei der Beschreibung von Personen könne also die Frage offenbleiben, ob sie wirklich oder imaginär sind. - In der Sprache der Scholastik habe das geheißen, dass die Existenz einer endlichen Substanz in ihrer Essenz noch nicht einbegriffen sei. Bei Gott aber als allervollkommenstem Wesen bedinge die Essenz die Existenz. - Ein bestmögliches Wesen wäre nicht das bestmögliche Wesen, wenn es nicht existieren würde. - Das habe Anselm behauptet, und nach ihm Descartes.
Leibniz anerkenne diesen Beweis weder ganz, noch lehne er ihn ganz ab. Für ihn bedürfe er einer Ergänzung durch den Beweis, dass Gott in dieser Definition möglich sei. Er habe so einen Beweis ausgearbeitet - dass Gott möglich sei - und ihn Spinoza bei seinem Besuch bei ihm in Den Haag vorgelegt. Dieser Beweis definiere Gott als höchstvollkommenes Wesen - als Subjekt aller Vollkommenheiten. Vollkommenheit werde dabei als „einfache Eigenschaft“ definiert, „die positiv ist und absolut und ohne Einschränkung ausdrückt, was immer sie ausdrückt“. - Kant habe dagegen den Einwand erhoben, dass „Existenz“ kein Prädikat sei. - Russell befindet den Beweis für moderne Begriffe nicht sehr überzeugend; man komme aber leichter zu dem Gefühl, dass er fehlerhaft sei als zur Entdeckung des Fehlers selbst.
Der kosmologische Beweis sei plausibler als der ontologische. Er sei eine Abart des „Beweises mittels der ersten Ursache“, der auf das aristotelische Argument vom unbewegten Beweger zurückgehe: Alles Endliche habe eine Ursache, die sich wiederum aus einer Ursache herleite und so fort. Diese Kette aufeinanderfolgender Ursachen könne nicht unendlich sein. Das erste Glied in der Kette müsse selbst ursachlos sein. Alles habe daher eine ursachlose Ursache, und das ist Gott.
Bei Leibniz nehme dieser Beweis eine andere Form an. Er sage, dass jedes Einzelding in der Welt „zufällig“ sei, das heißt, es sei logisch möglich, dass es nicht existiere. Und das treffe nicht nur für jedes Einzelding zu, sondern für das ganze Universum. Auch wenn wir annähmen, dass das Universum von jeher existiere, sei damit nicht bewiesen, warum es existiere. - Nach Leibniz müsse aber alles einen zureichenden Grund haben, der außerhalb des Universums liege. Dieser zureichende Grund sei Gott. - Russell bewertet das als ein besseres, nicht so leicht widerlegbares Argument als den einfachen Beweis mittels der ersten Ursache, der auf der Voraussetzung beruht, dass jede Reihe einen Anfang haben muss. - Das sei falsch, denn die Reihe der echten Brüche habe beispielsweise auch keinen Anfang. - Dieser Beweis sei nur stichhaltig, so lange wir Leibniz’ Satz vom zureichenden Grund gelten lassen. - Was Leibniz mit diesem Satz gemeint habe, sei eine Streitfrage. Der französische Mathematiker und Linguist Louis Couturat sei der Ansicht gewesen, er bedeute, dass jeder richtige Satz „analytisch“ sei - das heiße: sein Gegenteil widerspreche sich selbst. Diese Auslegung habe sich aber auf nicht veröffentlichte Schriften von Leibniz gestützt. - In seinen veröffentlichten Werken habe Leibniz die Auffassung vertreten, dass ein Unterschied zwischen notwendigen und möglichen Sätzen bestehe. Aus den Gesetzen der Logik ergäben sich nur die notwendigen Sätze; alle Sätze, die Existenz aussagen seien möglich - mit der alleinigen Ausnahme der Existenz Gottes: obwohl Gott notwendig existiere, wäre er logisch nicht gezwungen gewesen, die Welt zu erschaffen. - Die Schöpfung sei im Gegenteil eine Tat der freien Wahl gewesen - durch Gottes Güte begründet, aber nicht erzwungen.
Russell stimmt Kant zu, dass sich dieses Argument auf den ontologischen Beweis stützt: Wenn sich die Existenz der Welt nur durch die Existenz eines notwendigen Wesens erklären lasse, dann müsse es ein Wesen geben, dessen Essenz Existenz einbegreife - weil nur das unter einem „notwendigen Wesen“ zu verstehen sei. - Und nur die Vernunft ohne die Erfahrung könne ein solches Wesen definieren, das sich aus dem ontologischen Beweis ergebe, weil alles, was die Essenz allein betreffe, unabhängig von der Erfahrung erkannt werden könne. - Das sei Leibniz’ Auffassung. - Russell folgert, dass es eine Täuschung sei, wenn der kosmologische Beweis überzeugender wirke als der ontologische.
Russell beschreibt die Schwierigkeit, den aus den ewigen Wahrheiten abgeleiteten Beweis klar darzustellen: Eine Behauptung, wie zum Beispiel „es regnet“ sei manchmal richtig und manchmal falsch, aber: „zwei und zwei ist vier“ sei immer richtig. Alle Behauptungen, die nur die Essenz, nicht die Existenz beträfen, seien entweder immer richtig oder niemals wahr. - Immer wahr seien die „ewigen Wahrheiten“. - Wahrheiten seien ein Teil des Bewusstseinsinhalts - und eine ewige Wahrheit sei Teil des Inhalts eines ewigen Bewusstseins. Etwas Ähnliches finde sich schon bei Plato in der Ableitung der Unsterblichkeit von der Ewigkeit der Ideen. - Leibniz entwickle das Argument weiter und behaupte, dass der letzte Grund für mögliche Wahrheiten in notwendigen Wahrheiten gefunden werden müsse. Hier decke sich der Beweis mit dem kosmologischen: es müsse eine Ursache für die ganze zufällige Welt geben, die selbst nicht zufällig sein könne und unter den ewigen Wahrheiten gesucht werden müsse. - Eine Ursache für das, was existiere, müsse selbst existieren. Es müsse deshalb auch ewige Wahrheiten in irgendeinem Sinn geben, und das sei nur möglich, wenn sie als Gedanken in Gottes Bewusstsein existierten. - Das sei in Wirklichkeit nur eine andere Form des kosmologischen Beweises; das Argument lasse aber den Einwand zu, dass man kaum sagen könne, dass eine Wahrheit in dem Geist, der sie begreift „existiere“.
Der aus der prästabilierten Harmonie abgeleitete Beweis sei nur stichhaltig, wenn man seine fensterlosen Monaden gelten lasse, die alle das Universum widerspiegeln. Wenn alle Uhren miteinander richtig gingen, ohne dass ein Kausalzusammenhang zwischen ihnen bestehe, müsse es eine außer ihnen liegende Ursache geben, die sie reguliere. - Aber wie könnten die Monaden voneinander wissen, wenn zwischen ihnen keine Wechselbeziehung bestehe? - Haben die Monaden bloß alle gleichzeitig den gleichen Traum? - Das sei phantastisch, und daran kranke die Monadologie, und ohne die Geschichte des Cartesianismus wäre das nie glaubwürdig erschienen.
Leibniz’ Beweis lasse sich aus der Abhängigkeit von seiner speziellen Metaphysik herauslösen und in den Beweis des Planes umwandeln. Das heiße, dass sich bei einer Untersuchung der bekannten Welt Dinge fänden, die nicht dadurch überzeugend zu erklären seien, dass man sie als das Produkt blinder Naturkräfte bezeichne. Es sei vernünftiger, sie als Beweise für eine gütige Vorsehung anzusehen. - Dieser Beweis enthalte keinen formal logischen Fehler; seine Prämissen seien empirisch, und aus seinem Schluss gehe hervor, dass er nach den üblichen Regeln empirischer Schlüsse gezogen worden sei. Seine Anerkennung oder Verwerfung hänge vom Unterschied zwischen diesem Argument und den anderen Beweisen ab: der Gott, den dieser Beweis, falls er stichhaltig sei, beweise, brauche alle metaphysischen Attribute nicht zu besitzen: keine Allmacht und Allwissenheit; - er müsse nur unendlich viel weiser und mächtiger sein als wir, und das Böse in der Welt lasse sich mit der Begrenztheit seiner Macht erklären.
Charakteristisch für Leibniz’ Philosophie sei die Lehre von den vielen möglichen Welten. - Eine Welt sei möglich, wenn sie den Gesetzen der Logik nicht widerspreche. - Es gebe eine unendliche Zahl möglicher Welten, die Gott alle erwogen habe, bevor er die wirkliche Welt erschaffen habe. - Weil Gott gut sei, habe er die bestmögliche Welt erschaffen, und er habe die Welt für die beste gehalten, in der das Gute am meisten Übergewicht über das Böse habe. - Wenn er eine Welt erschaffen hätte, in der des überhaupt nichts Böses gibt, was er ja auch hätte können, dann wäre diese nicht so gut, wie die jetzige. (Russell bringt als Beispiel einen Trunk von kaltem Wasser bei großem Durst an einem heißen Tag, der ohne den vorherigen quälenden Durst kein so großer Genuss wäre.) - Für die Theologie gehe es um den Zusammenhang von Sünde und Willensfreiheit: Es sei für Gott unmöglich, das hohe Gut der Willensfreiheit zuzulassen und gleichzeitig zu bestimmen, dass es keine Sünde gebe. Er habe daher den Menschen frei geschaffen, obwohl er die Sündenfall-Geschichte vorhergesehen habe. Sünde ziehe unvermeidlich Strafe nach sich. In der Welt, die so entstanden ist, überwiege das Gute - mehr als in jeder anderen möglichen Welt - auch, wenn sie Böses enthalte. Das Böse sei kein Beweis gegen Gottes Güte.
Dieser Beweis habe der Königin von Preußen gefallen: ihre Leibeigenen hätten weiter Böses erleiden müssen und sie habe weiter Gutes genossen, wobei es für sie beruhigend war, dass ein großer Philosoph versichert habe, dass das ganz in Ordnung sei.
Die Lösung von Leibniz für das Problem des Bösen sei logisch möglich, aber nicht überzeugend. Russell denkt als Beispiel einen Manichäer, der einwenden könnte, dass eine Welt, in der die guten Dinge nur dazu dienten, die schlechten noch zu betonen, die schlechteste aller möglichen Welten sei - erschaffen von einem verruchten Demiurgen, der den freien Willen - gut - zulässt, damit Menschen sich für die Sünde - schlecht - entscheiden und deren Schlechtigkeit das Gute des freien Willens aufwiege. Der Demiurg könnte einige tugendhafte Menschen erschaffen, damit sie von den Bösen heimgesucht werden, denn die Heimsuchung der Guten sei etwas so Böses, dass die Welt dadurch schlechter würde, als es der Fall wäre, wenn es überhaupt keine guten Menschen gäbe. - Russell will sein Beispiel aber gar nicht verteidigen. Er hält es für phantastisch - aber nicht für phantastischer als die Theorie von Leibniz. - Weil die Menschen sich die Welt gut vorstellen wollten, würden sie schlechte Argumente, die die Vortrefflichkeit des Universums beweisen, nachsichtig beurteilen, aber schlechte Argumente, die seine Schlechtigkeit beweisen, genau untersuchen. - Russell hält die Welt für teils gut, teils schlecht, und das „Problem des Bösen“ entfällt nach seiner Ansicht, wenn dies einleuchtet und nicht geleugnet wird.
Russell kommt in seinen Ausführungen dann nochmals auf den Substanz-Begriff zurück, diesem Grundbegriff der philosophischen Systeme von Descartes, Spinoza und Leibniz, der aus der logischen Kategorie von Subjekt und Prädikat abgeleitet ist. - Manche Wörter könnten Subjekt oder Prädikat sein; also zum Beispiel: „Der Himmel ist blau“ oder „Blau ist eine Farbe. Andere Wörter - zum Beispiel Eigennamen - könnten nie als Prädikat auftreten, sondern nur als Subjekte oder als Ausdruck einer Beziehung - als Bezeichnung von Substanzen. Substanzen seien nicht zeitgebunden, falls sie nicht durch Gottes Allmacht vernichtet würden. - Russell vermutet, dass das nie geschieht. - Jeder richtige Satz sei entweder ein allgemeiner Satz - „Alle Menschen sind sterblich“: der Satz stelle fest, dass ein Prädikat ein anderes einbegreife; oder es sei ein besonderer Satz - „Sokrates ist sterblich“: da sei das Prädikat im Subjekt enthalten; die durch das Prädikat bezeichnete Eigenschaft sei ein Teil des durch das Subjekt bezeichneten Substanzbegriffes. - Was immer mit Sokrates geschehe, lasse sich in einem Satz darstellen, in dem „Sokrates“ das Subjekt sei und die Worte, die das Geschehen bezeichnen, die Prädikate. Alle diese Prädikate zusammengenommen ergäben den „Begriff“ Sokrates. Sie gehörten notwendig zu ihm, in dem Sinn, dass eine Substanz, von der sie nicht wirklich ausgesagt werden könnten, nicht Sokrates sei, sondern irgendein anderer.
Leibniz sei von der Bedeutung der Logik fest überzeugt gewesen - nicht nur in ihrem eigenen Bereich, sondern auch als Grundlage der Metaphysik. Er habe an einer mathematischen Logik gearbeitet, die unerhört wichtig geworden wäre, wenn er sie veröffentlicht hätte. - Leibniz wäre damit zum Entdecker der mathematischen Logik geworden, und diese wäre dadurch anderthalb Jh. früher bekannt geworden. Von einer Veröffentlichung habe Leibniz aber ein Zwiespalt im Hinblick auf Aristoteles’ Syllogistik abgehalten: einerseits habe er sie in einigen Punkten für falsch gehalten, dies aber andererseits aus Achtung für Aristoteles nicht wirklich glauben können. Er habe angenommen, dass die Irrtümer bei ihm selbst liegen. Er habe eine Art allgemeiner Mathematik erfinden wollen, eine „Charakteristica Universalis“, bei der das Rechnen das Denken ersetzen sollte. Sätze der Moral und der Metaphysik hätten nach einem unfehlbaren Rechenverfahren beherrscht werden sollen. Philosophen hätten dann bei strittigen Fragen“ statt miteinander streiten zu müssen
sagen können: „rechnen wir“.
Leibniz baute seine Philosophie auf zwei Prämissen auf: auf den Satz vom Widerspruch und auf den Satz vom zureichenden Grund. Beide beruhen auf dem Begriff des „analytischen“ Satzes, in dem das Prädikat im Subjekt enthalten ist: „Alle Weißen sind Menschen“. - Der Satz vom Widerspruch besagt, dass alle analytischen Sätze richtig sind. - Der Satz vom zureichenden Grund stellt fest, dass alle richtigen Sätze analytisch sind (jedoch nur im esoterischen System).
Russell findet die Grundlage von Leibniz’ Metaphysik in einem Brief an den Mathematiker, Logiker, Linguisten und Theologen Antoine Arnauld am klarsten dargestellt, der daraufhin Abscheu äußerte über Leibniz’ Behauptung, „dass der individuelle Begriff jeder Person ein für allemal alles in sich schließt, was ihr jemals begegnen wird.“ - Das war unvereinbar mit der christlichen Lehre von der Sünde und der Willensfreiheit.
Russell bewertet, dass seine esoterischen Schriften Leibniz als einen weit tieferen Denker offenbaren, als er es selbst in den Augen der Welt sein wollte. -Entmutigt durch seinen Briefverkehr mit Antoine Arnauld habe Leibniz aber befürchtet, dass seine esoterischen Schriften abgelehnt würden. - Diese wurden erst 200 Jahre nach Leibniz’ Tod anfangs des 20. Jh. erstmalig von Louis Couturat publiziert.
Nach Russell macht es für menschliche Wesen infolge der Grenzen ihres Verstandes einen Unterschied aus, ob eine Wahrheit durch Logik oder durch Erfahrung gewonnen wird - auf zweierlei Art.
- Erstens: Alles, was mit Adam geschehe, ergebe sich zwar aus dem Begriff „Adam“, wenn Adam aber existiere, könnten wir seine Existenz nur durch Erfahrung ermitteln;
-Zweitens: der Begriff jeder individuellen Substanz sei unendlich kompliziert, und die Analyse für die Deduktion ihrer Prädikate sei allein Gott möglich. - Gott erfasse den Begriff „Adam“ in seiner ganzen unendlichen Kompliziertheit und könne alle richtigen Sätze über Adam als analytische Sätze voraussehen. - Gott könne apriori wissen, ob Adam existiere. Und er kenne seine eigene Güte - er könne wissen, dass er die bestmögliche Welt erschaffen werde, und ob Adam einen Teil dieser Welt darstelle oder nicht.
Es erscheint Russell auch sehr merkwürdig, dass Leibniz die Schöpfung als freie Tat Gottes hinstellt, die einen Einsatz seines Willens erfordert. Danach werde die Bestimmung dessen, was wirklich existiere, nicht durch die Beobachtung bewirkt, sondern müsse vielmehr durch die Güte Gottes erfolgen. - Neben dieser Güte Gottes, die ihn veranlasse, die bestmögliche Welt zu erschaffen, gebe es keinen Grund apriori, warum ein Ding existieren solle und ein anderes nicht.
In Papieren, die Leibniz niemandem gezeigt habe, sei man auf eine ganz andere Theorie über die Frage gestoßen, warum manches existiere und anderes ebenso mögliche nicht. Danach kämpft jedes nicht existente Ding darum, zu existieren, aber nicht alle möglichen Dinge können existieren, weil nicht alle „miteinander verträglich“ sind, das heißt, miteinander existieren können. - Russell unterstellt Leibniz, dass er da an eine Art Krieg im Limbus denkt, zwischen Wesen, die nach Existenz streben; bei diesem Kampf schlössen sich „verträgliche“ Wesen zu Gruppen zusammen, und die größte Gruppe „verträglicher“ Wesen gewinne - so wie die größte Interessengruppe in einem politischen Kampf. - Leibniz definiere da Existentes als etwas, was mit mehr Dingen vereinbar sei als etwas mit sich selbst Unvereinbares. - „Das Existente ist das Seiende, das mit den meisten Dingen vereinbar ist.“ - Da sei keine Rede von Gott und auch nicht vom Schöpfungsakt. Nur die reine Logik sei erforderlich, um das Existente zu bestimmen - und welche Gruppe „verträglicher“ Dinge die größte sei und demnach existiert.
Russell räumt ein, dass Leibniz darin vielleicht keine tatsächliche Definition der Existenz gesehen hat. Wenn es nur ein Kriterium ist, verträgt es sich mit Leibniz’ populären Anschauungen über das, was er „metaphysische Vollkommenheit“ nennt. Das könnte in seiner Ausdrucksweise „Seinsquantität“ bedeuten, die „im strengen Sinn nichts anderes als die Größe der positiven Realität ist“. Leibniz weise immer wieder darauf hin, dass Gott soviel wie möglich erschaffen habe. Mit aus diesem Grund verwerfe er das Vakuum. - Bei Leibniz scheint Russell die von ihm nicht geteilte Überzeugung zu herrschen, das Sein besser ist als Nichtsein; (wahrscheinlich müssten deshalb Kinder ihren Eltern dankbar sein…), und es gehöre zu Gottes Güte, ein möglichst erfülltes Universum zu schaffen. Für Russell wäre daraus zu folgern, dass die wirkliche Welt aus der größten Gruppe „verträglicher“ Dinge besteht. Dennoch bliebe es gültig, dass sich durch die Logik allein bestimmen ließe, ob eine gegebene mögliche Substanz existiert oder nicht - einen hinreichend befähigten Logiker vorausgesetzt.
In seinem der Öffentlichkeit verschlossenen Denken ist Leibniz für Russell das beste Beispiel eines Philosophen, der die Logik als Schlüssel für die Metaphysik verwendet. Parmenides habe diese Art zu philosophieren eingeführt, Plato habe sie dadurch fortgesetzt, dass er die Ideenlehre dazu benutzt habe, verschiedene außerlogische Sätze zu beweisen, und auch Spinoza und Hegel seien von diesem Typ. Bei keinem werde das aber so deutlich wie bei Leibniz, wenn er von der Syntax auf die reale Welt schließe. Durch den zunehmenden Empirismus sei diese Art zu argumentieren aber in Verruf gekommen. - Russell will nicht beurteilen, ob gültige Schlüsse von der Sprache auf nicht-sprachliche Dinge möglich sind - nicht gültig sind für ihn aber die Schlüsse wie bei Leibniz und anderen Philosophen des Apriori, da sie auf fehlerhafter Logik beruhten. Die Subjekt-Prädikat-Logik, von der diese früheren Philosophen ausgegangen seien, berücksichtige die Beziehungen entweder überhaupt nicht, oder sie bringe falsche Argumente zum Beweis, dass Beziehungen nichts Wirkliches seien. Dass Leibniz die Subjekt-Prädikat-Logik mit dem Pluralismus kombiniere, bewertet Russell als besondere Inkonsequenz: der Satz „Es gibt viele Monaden“ falle nicht unter die Subjekt-Prädikat-Form. Um konsequent zu sein, müsse ein Philosoph, der überzeugt sei, dass alle Sätze unter diese Form fallen, Monist wie Spinoza sein. Leibniz habe aber den Monismus abgelehnt - wegen seines Interesses für die Dynamik und mit dem Argument, dass Ausdehnung Wiederholung einbegreife und deshalb kein Attribut einer einzelnen Substanz sein könne.
Autor: Helga Ranzinger nach:Bertrand Russell, Philosophie des Abendlandes, Europa Verlag, Zürich, 1950, Leibniz (Seiten 590 ff)