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K (Protokoll zur Vorlesung von Violetta Waibel vom 26.11.2009)
(Protokoll zur Vorlesung von Violetta Waibel vom 26.11.2009)
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== Thematische Anknüpfung zur Vorlesung von Klaus Puhl vom 07.01.2010 ==
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Bei der thematischen Anknüpfung zur Vorlesung von Professor Puhl versuche ich einige Gedankenskizzen zu entwerfen. Diese sollen dabei jedoch in erster Linie als Denkanstoß und Diskussionsgrundlage dienen. Bei einer Vorlesung, die zeitlich gesehen einen derart großen Rahmen abdeckt, bieten sich viele Ansatzpunkte an. Ich möchte aber zwei herausgreifen und näher darauf eingehen.
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Als erstes sehe ich einen sehr interessanten, Philosophie-geschichtlichen Bezugspunkt. In der Vorlesung wurden vom Vortragenden die Aspekte der Selbstsorge in der europäischen Antike ausgeführt. Dabei stand die Frage „Wie soll man leben?“ im Mittelpunkt, wobei je nach Schule andere Schwerpunkte gesetzt wurden – bei Platon das Streben nach dem Wahren als das Streben nach dem Guten, bei Aristoteles das Leben nach dem Geiste, bei den Epikureern die Lust, das Leben in der Gegenwart. Gemeinsam war allen Ansätzen jedoch, daß das Ziel die Erreichung einer allgemeinen, einer „kosmischen“, Perspektive war. Die Einzelexistenz wurde nicht als oberstes Ziel gesehen, sondern eingeordnet in ein großes, geordnetes Ganzes. In diesem Kontext mußte die Einzelperson gesehen werden und sie sollte vor allem durch geistige und körperliche Übungen den ihr gemäßen Platz im Gesamtgefüge finden. Wer sich dem entsprechend verhielt, führte nach damaliger Sichtweise ein gutes (und damit glückliches) Leben.
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Mir drängen sich dabei Parallelen zu den philosophischen Strömungen auf, die zur selben Zeit in China wie auch in Indien entstanden bzw. sich verbreiteten. Völlig unabhängig von der griechischen Philosophie kam es auch hier zur Ausbildung unterschiedlicher Schulen, die aber allesamt den einzelnen Menschen eingebettet haben in den größeren Gesamtzusammenhang. War es in China zunächst der Daoismus, der ein Leben gemäß der Natur als den richtigen Weg ansah, entwickelte sich danach der Konfuzianismus, der eine Orientierung an den Werten der Tradition vorschlug (mit der Begründung, daß früher Ordnung herrschte). Diese müßten jedoch erst anhand strenger Regeln erlernt werden, wodurch es zu einer Bildung des Gewissens kommt. Eine weitere chinesische Schule, der Mohismus, propagierte die Liebe gegenüber jedem und allem und vetrat die Ansicht, daß alle Menschen gleich wären und demnach gleichberechtigt zusammenleben sollten. Bei der vierten Richtung schließlich, dem Legalismus, wird die Gesamtordnung durch das gesetzte Recht hergestellt.
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[Näheres zu den vier „Grundschulen“ der Philosophie in China: http://homepage.univie.ac.at/~wimmerf8/skriptphg1china1.html ] 
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Allen vier Richtungen ist gemeinsam, daß es um die Suche einer Idealform für menschliches Zusammenleben geht und von diesem Gesamtzusammenhang abgeleitet um die Rolle des einzelnen. Man muß dabei die unterschiedlichen Umstände für die Entwicklung der jeweiligen Ansätze in Betracht ziehen. In China war es damals nach vielen Jahren des Krieges verständlicherweise das oberste Ziel, eine friedliche und stabile Gesellschaftsform zu finden. Das könnte in Anlehnung an die Grundfrage der Selbstsorge in der europäischen Antike zusammengefaßt werden mit der Frage „Wie soll man (zusammen)leben?“ Die Parallelen zwischen einzelnen Ansätzen bzw. ihren Grundgedanken in den verschiedenen geographischen Gebieten, die sich unabhängig voneinander – und teilweise mit sehr unterschiedlichen Ausgangspositionen – entwickelt haben, halte ich jedoch für auffällig und höchst interessant.
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Indien und die philosophischen Grundströmungen zur Zeit der europäischen Antike passen ebenfalls in dieses Bild. Auch in diesem Kulturkreis wurde das Bild eines großen Gefüges entworfen, in dem der einzelne versucht, ein gutes Leben zu führen. In diesem Fall kommt es sogar zu einer Belohnungssituation, da ein derart gutes Leben eine Wiedergeburt in ein besseres Dasein nach sich zieht. Selbstsorge wird damit quasi auch zur „Vorsorge“. Selbst bei den Methoden zeigen sich deutliche Parallelen zur europäischen Antike, sei es nun das asketische Leben, die Selbstbeherrschung oder der Versuch, innere Ruhe durch Meditation zu erlangen.   
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Die Weiterentwicklung in den drei Kulturräumen ist ebenfalls sehr ähnlich verlaufen. So wie in Europa die christliche Kirche die antiken Übungen und Praktiken zur Selbstsorge übernommen und in ihre Organisation und Sichtweisen eingebaut hat („natürliche Ordnung“ wird uminterpretiert als „göttliche Ordnung“, das asketische Leben mit dem Ziel der Selbstbesinnung und des Seelenfriedens als Vorbild erhalten) und in weiterer Folge auch Herrscher auf dieses Potenzial Bezug genommen haben, wurde auch in China z.B. der Daoismus Richtung Religion gedrängt und der Konfuzianismus ins Herrschaftssystem eingegliedert. Die „Mächtigen“ nützten das Argument des „So soll man leben“, um ihre Zwecke zu unterstützen und legitimieren.
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[In Indien war die Trennung Philosophie und Religion seit jeher eine fließende.]
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Mit der Ablehnung autoritäter Strukturen und hierarchischer Systeme (sowohl religiöser als auch staatlicher Art) in den letzten Jahrzehnten wurden gleichzeitig jedoch auch die antiken Ansichten zurückgewiesen. Um es bildlich darzustellen: Auf die Frage: „Wie soll man leben?“ wird man heutzutage im Westen (und nach und nach auch immer mehr in China z.B.) eher die Antwort hören: „So wie es mir gefällt.“ Ein „Ich lebe gemäß der Natur, gemäß den Idealen der Kirche“ o.ä. mutet schon fast befremdlich bzw. veraltet an. Die Frage dreht sich nun nicht mehr um ein Gesamtgefüge und den Platz des einzelnen im „kosmischen Zusammenhang“, sondern um das Subjekt an sich, als „Nullpunkt seiner Wirkwelt“ um es im Sinne moderner Theorien wie der Lebenswelttheorie zu sagen.
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In Anlehnung an den Titel der Vorlesung, der auch „Philosophie als Lebenskunst“ umfaßt, würde ich meinen, daß sich heutzutage viele selbst als „Lebenskünstler“ sehen. Der Begriff wird dabei in einem anderen Sinne gebraucht, aber die Vielzahl der Leute, die sich „ihre Weltsicht“ selbst zurecht legt, macht die Veränderung sehr deutlich. Auch diese „Lebens-Sichtweisen“ haben einen eher praktischen Charakter, wobei jedoch nicht das Finden eines allgemeinen Bewußtseins im Vordergrund steht oder das Streben nach Weisheit, sondern eine individuelle Sichtweise der Selbstverwirklichung.
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Trotzdem (oder gerade deshalb) taucht bei vielen das Gefühl auf, „es fehlt etwas“ bzw. „es muß doch noch mehr geben“ – im Endeffekt nichts anderes als die Frage nach der Einordnung der eigenen Existenz in ein großes Ganzes. Dabei wendet man sich jedoch nicht mehr im Stile der antiken Bildung an einen „Lehrer“ oder eine „Philosophie-Schule“, sondern sieht sich einer Vielzahl religiöser und kommerzieller Angebote gegenüber. Der Unterschied zur von der Autorität vermittelten Ordnung besteht wohl darin, daß man sich diese Ordnung dann selbst gesucht hat und individuell ausgestalten kann. Sehr auffällig ist in dieser Hinsicht das Aufkommen der asiatischen Philosophien und Meditations- bzw. Entspannungstechniken in den letzten Jahrzehnten, die als etwas Neues und anderes empfunden werden – und in Wahrheit doch schon genauso alt wie die Ansätze der griechischen Antike sind und mit diesen sogar erstaunliche Parallelen aufweisen.
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Der zweite Aspekt, den ich kurz herausgreifen möchte, ist jener der Bildung. In dieser Vorlesung wurde das Thema ebenfalls mehrmals angeschnitten: Einerseits in der Antike, wo es zur Ausbildung des „klassischen Lehrer-Schüler-Verhältnisses“ bzw. der Gründung der Schulen kommt. Auf diesem Weg wird das, was als „gutes und richtiges Leben“ angesehen wird weitergegeben und hat somit auch einen herrschaftssichernden Aspekt (vgl. Vorlesung von Frau Nemeth). Andererseits war Bildung und die Kopplung von Macht und Wissen ein Hauptthema der Überlegungen Foucaults. Insbesondere dieser Zusammenhang, d.h. zum einen, daß sich die individuelle Existenz an einem größeren Kontext orientiert und zum anderen daß dieser von einer äußeren Instanz zugeordnet bzw. im Zuge der Bildung vermittelt wird (Natur, Gott, Staat, Lehrer, Eltern), zieht sich durch die geschichtliche Entwicklung und hat sich erst in den letzten Jahrzehnten abgeschwächt. Dies geht Hand in Hand mit den vorhin genannten Entwicklungen der Konzentration auf das Individuum, wobei festgehalten werden muß, daß eine System-immanente Struktur wie jene, die im Höhlengleichnis dargestellt wird, davon nicht betroffen zu sein scheint, da sie schon zu grundlegend geworden ist und deshalb gar nicht mehr hinterfragt wird. Oder anders formuliert: Symbolisierte der Begriff „Bildung“ in diesem Zusammenhang den Gedanken „wie komme ich die Treppe hinauf“, liefern die Überlegungen zum Thema „Wie soll ich leben?“ bzw. „Was soll ich tun?“ (nur mehr) die Begründungen „Warum will ich überhaupt die Treppe hinauf“.
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== Endredaktion des Protokolls zur Vorlesung von Violetta Waibel vom 26.11.2009 ==
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Protokoll zur Vorlesung von Violetta Waibel vom 26.11.2009
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Violetta Waibel geht in ihrem Vortrag auf die unterschiedlichen Arten des Lesens und damit des Verstehens ein. Ausgangspunkt ist dabei die Ansicht, daß es sich bei der Philosophie auch um eine Buchwissenschaft handelt und „Bücher danach verlangen, gelesen zu werden“. Lesen wird in diesem Zusammenhang als eine hochkomplexe Kulturtechnik des Kodierens und Dekodierens verstanden. So wie ein Fechter mehrmals das Gehen lernen muß (als Kind, beim Tanzen, beim Fechten, als alter Mann mit Gehhilfe), können/müssen wir auch das Lesen mehrmals erlernen. Die Stufen dabei sind:
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1. ABC Lernen (als Kind) <br>
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2. Sätze/Texte Verstehen (Gang der Schule) <br>
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3. Philologisches Lesen und Verstehen (historisch – synchron – diachron) <br>
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4. Philosophisches Lesen im engeren Sinn (systematisch – synchron – diachron) <br>
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5. Ästhetisch-emotionales Lesen (z.B. Lautgestalt u.ä.) <br>
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Philosophie kann immer auch als ein Gespräch verstanden werden, das entweder auf Aspekte der aktuellen Zeit Bezug nimmt, d.h. synchron geführt wird (zwei historische Ballungsräume vieler Konzeptionen: Griechenland der Antike und Deutscher Idealismus) – oder es handelt sich um einen Zeiträume-übergreifenden Dialog, d.h.zumeist eine Auseinandersetzung mit der Geschichte/Tradition in der Achse der Zeit, was dann als diachron bezeichnet wird.
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Den Begriff der „Geschichte der Philosophie“ im strikten Sinn gibt es nicht, wie die Geschichte der Philosophie-Geschichte aufzeigt. Stattdessen gibt es die Texte und Kommentare und Interpretationen zu ihnen. Welche Schriftstücke gelesen werden, ist hingegen eine Frage des Zeitgeistes und hängt davon ab, welche Fragen zu einer gegebenen Zeit an die Philosophie gestellt werden. Deshalb läßt sich festhalten, daß jede Zeit ihre eigene Geschichte der Philosophie entwickelt.
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Beim Textverständnis spielen deshalb die Fragen, mit denen man an die Werke herantritt, eine wesentliche Rolle. Der Text fordert einen zwar, bietet aber auch neue Perspektiven und eröffnet neue Fragen und Sichtweisen, die zuvor gar nicht bedacht wurden. Insofern ist ein systematisches Erarbeiten eines Textes sinnvoll. Das Schriftstück wird gleichsam von jedem Lesenden „neu erfunden“. Man tritt in einen dialogischen Prozeß mit dem Text, der einmal niedergeschrieben wurde, ein und findet und erfindet darin Neues. Dabei handelt es sich um eine Wechselbeziehung, die in der eigenen Perspektive ihren Ursprung hat.
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1. Das ABC erlernen
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Hierbei handelt es sich um ein Verstehen, das weit von der philosophischen Erfahrung entfernt ist. Nichtsdestotrotz kann man dieses Stadium mehrmals im Leben durchlaufen, z.B. wenn man eine Fremdsprache mit einem eigenen Alphabet erlernt oder sich die Zeichensprache der Musik, die Gebärdensprache oder die Blindenschrift aneignet. Anhand dieses Aspekts wird sehr deutlich, daß eine Sprache immer auch ein Kodifizieren und Dekodifizieren bedeutet.
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Wie anspruchsvoll diese Stufe durchaus sein kann und welche Erfahrungen man dabei durchlebt, ist jedem wohl vom Erlernen von Fremdsprachen bewußt. Zudem wird hier der Unterschied zwischen Sprechen und Lesen sehr deutlich. Während sich das gesprochene Wort verflüchtigt, ist bei der geschriebenen Sprache eine Wiederholbarkeit gegeben. Das führt in vielen Kulturen dazu, dem Textuellen ein größeres Gewicht, eine größere Überzeugungskraft, zuzusprechen, ohne daß diese verdient sein muß.
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2. Zusammenhängende Texte verstehen
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Auf dieser Stufe geht es darum, Texte zu verstehen und den inneren Verlauf zu erkennen. Dadurch entsteht eine Ansammlung von Wissen, die zwar geordnet sein kann, bei der aber nicht weiter auf die innere Struktur und Komposition der Werke geachtet wird.
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Lesen kann aber auch durch eigenes Verfassen von Texten gelernt werden. Dieses selbständige Produzieren von schriftlichen Werken ist eine andere Art und Weise sich mit Textualität auseinanderzusetzen und bietet durch die Vielzahl an verschiedenen Textsorten einen gänzliche anderen Zugang zu Texten und in weiterer Folge auch zum Verstehen von fremden Schriftstücken. Ähnliches gilt für die Erfahrungen, die man beim Erlernen und Übersetzen von Fremdsprachen macht.
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Die ersten zwei Stufen können auch als „vorwissenschaftliches Lesen“ bezeichnet werden, die das „wissenschaftliche(re) Lesen, das im Folgenden näher erläutert wird, erst möglich machen.
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3. Philologisches Lesen und Verstehen
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Auf dieser Stufe geht es darum, die Texte als „gemachte Texte/Artefakte“ zu verstehen und nach der spezifischen inneren Struktur zu fragen, die ebenfalls wesentliche Informationen transportiert (eine kurze Zusammenfassung zum philologischen Lesen findet sich bei Stefan Keppler: http://www.stefankeppler.de/downloads/Hinweise%20zum%20Lesen.pdf). So wie es in der Literatur grundsätzlich viele Arten wie Lyrik, Epik oder Dramatik gibt, existieren auch in der Philosophie zahlreiche verschiedene Textsorten, z.B.: <br>
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- geschlossene Abhandlungen, die zum Druck freigegeben wurden <br>
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- Abhandlungen im Kontext eines großen Werkes (z.B. die KdrV im größeren Zusammenhang gemeinsam mit der KdpV und der KU gesehen) <br>
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- Vollständige Texte, die aber nicht zur Publikation freigegeben wurden <br>
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- Texte, die Fragmente geblieben sind <br>
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Jede dieser Textsorten verlangt nach einer unterschiedlichen Herangehensweise und ist anders zu lesen.
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Als Beispiel werden von Violetta Waibel die Wissenschaftslehren von Fichte aufgeführt, von denen der Autor die ersten veröffentlichen ließ, es aber zahlreiche Fassungen gibt und auch Fragmente von Studenten, die seine Vorlesungen besucht haben, existieren (sogenannte Kolleg-Nachschriften). Bei letzteren gehört es zum Wissen um den Text, daß es sich nicht um die Worte Fichtes selbst handelt, sondern sie die subjektive Sicht desjenigen darstellen, der die Schrift verfaßt hat.
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Ebenso kann es sich beim Text um Briefzeugnisse (die Form der „fingierten Briefe“ war im 17. und 18. Jahrhundert sehr beliebt) oder um Selbstverständigungsversuche handeln. Als Beispiel für letztere wären z.B. die „Fichte Studien“ von Novalis/Friedrich von Hardenberg zu nennen, bei denen es sich um ein Konglomerat von Texten handelt, die die Versuche aufzeigen, Fichte und Kant zu verstehen, und dabei viele innere Widersprüche aufweisen.
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Aber auch der Werktypus des Fragements spielt in der Philosophie eine wesentliche Rolle. Als Beispiele können hier das „Opus Postumum“ von Kant oder die Poetologie von Hölderlin dienen, die dieser nach eingehender Auseinandersetzung mit Kant und Fichte um 1800 herum geschrieben hat und die zwar zur Publikation vorgesehen war, aber immer nur im Fragmentzustand verblieb. Für die Rezeption eines solchen Textes muß bedacht werden, daß er nicht die Eindeutigkeit aufweist, wie dies bei einem zur Veröffentlichung freigegebenen Werk der Fall ist.
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Ein weiterer wesentlicher Aspekt im Rahmen des philologischen Lesens ist die Frage der Intertextualität. Dabei kann der Bezug zu anderen Werken auf zwei Arten hergestellt werden:
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- Es wird explizit Bezug auf einen anderen Autor von früher oder der eigenen Zeit genommen.
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- Weit häufiger ist es jedoch der Fall, daß der Bezug nur versteckt bzw. implizit erfolgt und die Auseinandersetzung mit anderen Werken nicht erwähnt wird.
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Die Gefahr bei diesen Verweisen auf andere Werke und Autoren besteht darin, daß man gleichzeitig mehrere Texte zu lesen beginnt. Sinnvoller wäre es jedoch, zunächst das ursprüngliche Werk vollständig zu erfassen, da der Bezug auf andere immer bereits eine Interpretation durch den Autor beinhaltet. Deshalb sollte zuerst daran gegangen werden, diese Thesen zu filtern und zu verstehen. Zu Beginn wird diese Tätigkeit wohl in einer „sehr nahen Rekonstruktion“ des Werks bestehen, in einem Verstehen der Terminologie und einem Erarbeiten des Textes in seiner Struktur. Als Hilfen bieten sich dabei sowohl der Titel des Werks, als auch die Titel der einzelnen Kapitel an, die ein Erschließen ausgehend von der gegebenen Struktur aus ermöglichen. Zudem ist zu beachten, daß auch innerhalb eines Textes verschiedene Textsorten auftreten können. Ist man sich über dieses Spektrum philologischer Momente im Klaren, führt dies schließlich zur nächsten Stufe des Lesens und Verstehens:
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4. Philosophisches Lesen im eigentlichen Sinn
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Auf dieser Stufe stellt sich zunächst die Frage der Wechselwirkung zwischen Autorintention und Leserintention. Hat man als Rezipient die innere Struktur eines Textes erfaßt und die Intention verstanden, geht es darum, diese strukturierenden Schritte, die Komposition, nicht nur wiederzugeben, sondern die zugrundeliegenden Argumente zu verstehen. In Bezug auf Kant würde das z.B. bedeuten zu erkennen, daß „Raum und Zeit“ nur als idealistische Vorstellungen gedacht sind und nicht als in der Wirklichkeit existierend.
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Anders formuliert läßt sich sagen, daß es auf dieser Stufe nicht nur um die Inhalte, sondern auch um die Methodologie eines Werkes geht. In welcher Tradition steht es? Welcher Methode bedient es sich? Ist es der mathematischen Methode, der Dialektik, der Transzendentalphilosophie, der Phänomenologie zuzurechnen? Auch wenn eine Zuordnung getroffen werden kann, müssen dabei immer die Unterschiede innerhalb dieser Gruppen beachtet und die innere Struktur einer bestimmten Dialektik (Rede – Widerrede bzw. Frage-Antwort-Spiel) oder einer Phänomenologie berücksichtigt werden.
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Zunächst sollte demnach versucht werden, von der Textstruktur aus diese Aspekte zu verstehen. Wird man mit dem Werk vertrauter, kann man mehr eigene Intentionen einbringen und über die internen Zusammenhänge reflektieren. Bei den meisten Texten, entsteht dabei eine zusätzliche Spannung aufgrund der Zeitdifferenz zwischen Entstehung und Rezeption. Diese Zeitbrücke sollte beachtet und verstanden bzw. mitreflektiert werden. Aber gerade diese Spannung ist es auch, die Lesen im Endeffekt zusätzlich spannend macht und weshalb die Aussage gerechtfertigt erscheint, daß jede Zeit ihre eigene Geschichte der Philosophie hat.
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Sprache der Philosophie
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Bei der Sprache der Philosophie handelt es sich um eine „entwickelte Sprache“, die erst „erfunden“ werden mußte. In der deutschen Philosophie war daran Christian Wolff (für weitere Informationen: http://de.wikipedia.org/wiki/Christian_von_Wolff) maßgeblich beteiligt. Aufgrund dieses speziellen „Codes“ kommt es auch zu Reibungen zwischen dem Alltagsverständnis und philosophischen Konzeptionen von Begriffen (z.B. Raum-Zeit, Subjekt, Freiheit). Dadurch scheint die Tätigkeit von Philosophen auf den ersten Blick banal zu sein, stellen sie doch nur das scheinbar Selbstverständliche in Frage. Das Beispiel des Augustinus zeigt aber deutlich, daß dem nicht so ist. Auf die Frage nach dem Wesen der Zeit antwortete er: „Wenn mich niemand fragt, dann weiß ich es; sobald ich aber gefragt werde, kann ich es nicht erklären.“ Wesentlich ist dabei zudem, daß es nicht nur eine Theorie zu den jeweiligen Begriffen gibt, sondern mehrere, die sich untereinander ergänzen.
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Deshalb gilt es in einem ersten Schritt, die spezifische Terminologie eines Werkes zu erarbeiten, d.h. bestimmte Begriffe zunächst wie Vokabeln zu erlernen. Dabei konzentriert man sich auf den „Umfang von Worten, die spezifisch und wesentlich eine Theorie tragen“. Auf Kants KdrV´(eine ausführliche Analyse dieses Werks findet sich hier: http://de.wikipedia.org/wiki/Kritik_der_reinen_Vernunft) bezogen handelt es sich dabei z.B. um Begriffe wie „Transzendental-Philosophie“, „Erscheinung“, „Erörterung“, „Metaphysik“ usw. Klar sein muß dabei jedoch, daß der Begriff von Autor zu Autor eine unterschiedliche Bedeutung bzw. einen unterschiedlichen Umfang haben kann. So bezeichnet der Begriff „Substanz“ bei Spinoza, Kant oder Hegel jeweils Unterschiedliches. Insofern ist es auch nicht sinnvoll davon zu sprechen, daß ein Begriff e i n e Bedeutung hat (z.B. „Substanz ist ...“), sondern immer in der Tradition der Philosophie und der Verwendung beim jeweiligen Autor gesehen werden muß („Substanz bei .. bezeichnet ..“).
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Insofern stimmt Frau Waibel auch Kant zu, der festgehalten hat, daß es in der Philosophie keine Definitionen, sondern höchstens Worterklärungen gibt. Kants Ansichten stammen aus seinen Wurzeln in der mathematischen Methode, weshalb er Definitionen auch nur der Mathematik zuschreibt. In diesem Sinne versteht er unter einer Definition eine allgemein-verbindliche und notwendige Begriffserklärung, die gilt. Die Tatsache, daß in der Philosophie derselbe Begriff wie z.B. Substanz in sehr unterschiedlicher Bedeutung gebraucht wird, zeigt deutlich das Problem auf, das entstehen würde, wenn man von Definitionen in diesem Bereich spricht.
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Als Gegenposition kann Spinoza (für weitere Informationen: http://de.wikipedia.org/wiki/Baruch_Spinoza) angesehen werden, der an den Anfang jedes seiner Ethik-Bücher „Definitionen“ stellt. Formulierungen wie „unter Substanz verstehe ich ...“ machen jedoch deutlich, daß es sich auch dabei nur um Worterläuterungen und nicht um Definitionen im mathematischen Sinne handelt (obwohl sich Spinoza selbst auf diese Methode beruft).
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Systematisches und Historisches Verstehen
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Während heutzutage häufig nur mehr von „Theorien“ die Rede ist, haben Autoren der Tradition oft ganze Systeme entwickelt. Darunter wird ein zusammenhängendes, auf Prinzipien begründetes und aus diesen bestehendes Ganzes verstanden. Am anderen Ende des Spektrums der „systematischen Organisation“ steht das „Stückwerkdenken“ bzw. das „Denken in Fragmenten“. In diesen können innere Widersprüche auftreten, die dann jedoch nicht im nachhinein geglättet oder systematisiert werden sollen, sondern die in einer eigenen Reibung ihre Wirkung entfalten. Aber auch innerhalb von Systemwerken kann es bewußt zu großen inneren Reibungen kommen, die es herauszuarbeiten gilt.
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Einen wesentlichen Anhaltspunkt zum Verständnis des Systemdenkens in der Philosophie liefert Kant im „Architektonik-Kapitel“ der KdrV. Die Anleihen bei der Baukunst wählt der Autor dabei bewußt, da sich für ihn ein Werk genauso zu gliedern hat wie ein architektonisches Bauwerk. Es ist notwendig, sich über die Systemlehre Gedanken zu machen, sich zu verständigen und eine Methodenlehre und in weiterer Folge eine Methodologie zu entwickeln. Die Gegenüberstellung von Systemen und Aggregaten zieht sich dabei kontinuierlich durch Kants Werk, da es um den Kernpunkt der Philosophie als Wissenschaft geht. Deshalb muß es nach seiner Auffassung auch der Anspruch der Philosophie sein, eine systematische Einheit darzustellen und nicht bloß eine Nebeneinanderstellung von Aggregaten.
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Letzteres kann dabei dem vorwissenschaftlichen Lesen gleichgestellt werden und als eine Aneinanderreihung von Wissen ohne innere Struktur angesehen werden. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß diese bloße Aneinanderfügung auch bewußt erfolgen kann, wie dies bei Novalis „Fichte-Studien“ der Fall ist.
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In seinen weiteren Ausführungen schreibt Kant: „Ich verstehe unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee.“ Das heißt, daß das in einem Werk entwickelte Ganze, einen bewußten Fokus haben soll. Kant entwickelt daneben aber noch ein zweites Systembild, das als organalogisch bezeichnet werden kann. Diesem Ansatz nach enthält die Idee bereits Zweck und Form des Ganzen. Jeder Teil steht bewußt an seiner Stelle, es gibt keine zufälligen Hinzusetzung. Die vorgegebene interne Systemstruktur steht fest, das System kann zwar wie ein Organismus wachsen, bleibt dadurch aber in seiner grundlegenden Art unverändert. Diese Sichtweise läßt sich auch auf Kants Gesamtwerk übertragen, das ein System der Prinzipien darstellt, aber noch kein System einer Metaphysik (s. Einleitung zur KdrV).
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Sehr ähnlich zu Kants Ansatz ist jener zum systematischen Denken, der bei Christian Wolff zu finden ist. Bei ihm wird nicht nur das Werk eines Autors als System angesehen, sondern auch der eigene Verstand. Die Vernunft, die Möglichkeit des Denkens, wird als System verstanden, mit dem uns die Natur ausgestattet hat und das es im Werk zur Darstellung zu bringen gilt. Ausgehend von diesem als systematisches Ganzes begriffenen Geist, der sich gut mit Kants organalogischem Systembegriff verbinden läßt, wird auch die Organisation in der Natur als eine innere Einheit angesehen, die einem Systembau folgt, den es zu ergründen und zu verstehen gilt. Es ist das Ziel der Naturwissenschaften, diese innere Struktur als mathematisch verkürztes Ganzes zu verstehen. Die kritische Vernunft ist demnach jener Systemteil, der Wissenschaftlichkeit überhaupt erst möglich macht.
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Wolff spricht in dieser Hinsicht vom „Unterschied des zusammenhängenden und nicht-zusammenhängenden Verstandes“. Diese Teilung läßt sich auch auf die Erkenntnis als Ganzes übertragen: Während der zusammenhängende Verstand (intellectus systematicus) für die philosophische Erkenntnis zuständig ist (zusammenhängendes Ganzes hergestellt), sind es beim nichtzusammenhängenden die einzelnen Wissensmomente, die aneinandergereiht werden, die sogenannte historische Erkenntnis. Nur der intellectus systematicus hilft demnach beim Aufdecken der verborgenen Strukturen und Verbindungen der Welt.
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Systembegriff bei Lambert
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Ein noch allgemeinerer Systembegriff findet sich schließlich bei Johann Heinrich Lambert (für weitere Informationen: http://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Heinrich_Lambert). In seinem Fragment „Systematologie“ entwickelt er in 47 Paragraphen, was ein System überhaupt erst ausmacht und inwiefern die Verschiedenheit und die Absicht bei Systemen von Bedeutung sind. Lambert kann deshalb die erste allgemeine Systemtheorie zugeschrieben werden, die auch Kant später beeinflußt hat. Die „Definition“ von Lambert hat dabei den Vorteil, daß es sich um einen sehr offenen Begriff handelt, der viele Anwendungsmöglichkeiten erschließt und sich auf nahezu jeden Sachverhalt übertragen läßt – das trifft sowohl auf Systeme der Natur zu als auch auf Systeme, die Kraft des Willens entstanden sind, d.h. „menschliche Artefakte“ wie z.B. bestimmte „Lehrgebäude“.
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Nach Lambert gibt es 5 Kriterien, die zu einem System gehören und die dieses bestimmen: <br>
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- Materialität <br>
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- Die Teile, die das verborgene Ganze ausmachen <br>
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- Die verbindenden Kräfte bzw. das „gemeinsame Band“ <br>
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- Eine oder mehrere Absichten des Ganzen (bei Kant wäre dies die „Idee“) <br>
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- Gleichgewichtszustand bzw. Form der Ordnung <br>
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Dabei gibt es sowohl geschlossene Systeme als auch offene bzw. durchlässige (s. organalogische Konzeption, die als engerer System-Begriff angesehen werden kann als jener bei Lambert).
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Was sich als System explizit oder implizit darbietet, muß demzufolge als systemisches Ganzes verstanden werden. Die Anordnung der Teile erfolgt nicht zufällig, sondern absichtlich. Sie stehen in ausdrücklicher Weise zusammen, und mit der Ordnung geht die Methode einher und schließlich die Methodologie der philosophischen Präsentation. Auch wenn in der modernen Philosophie diese Konzeption zurückgewiesen wird, so hat die systematische Philosophie bzw. der Begriff der Systematizität nicht bloß historischen Wert, sondern es bietet sich an, diesen Aspekt zum besseren und tieferen Verständnis von Texten und Strukturen zu berücksichtigen. Nur so kann ermittelt werden, ob das System, das von einem Autor vorgelegt wird, den eigenen Ansprüchen genügt. Zudem bietet sich diese Herangehensweise an, damit überhaupt die implizite Systematik bzw. der systematische Ansatz in einem Text oder Gesamtwerk rekonstruiert und erschlossen werden kann.
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== Protokoll zur Vorlesung von Violetta Waibel vom 26.11.2009 ==
 
== Protokoll zur Vorlesung von Violetta Waibel vom 26.11.2009 ==
  

Version vom 22. Januar 2010, 02:19 Uhr

Thematische Anknüpfung zur Vorlesung von Klaus Puhl vom 07.01.2010

Bei der thematischen Anknüpfung zur Vorlesung von Professor Puhl versuche ich einige Gedankenskizzen zu entwerfen. Diese sollen dabei jedoch in erster Linie als Denkanstoß und Diskussionsgrundlage dienen. Bei einer Vorlesung, die zeitlich gesehen einen derart großen Rahmen abdeckt, bieten sich viele Ansatzpunkte an. Ich möchte aber zwei herausgreifen und näher darauf eingehen.

Als erstes sehe ich einen sehr interessanten, Philosophie-geschichtlichen Bezugspunkt. In der Vorlesung wurden vom Vortragenden die Aspekte der Selbstsorge in der europäischen Antike ausgeführt. Dabei stand die Frage „Wie soll man leben?“ im Mittelpunkt, wobei je nach Schule andere Schwerpunkte gesetzt wurden – bei Platon das Streben nach dem Wahren als das Streben nach dem Guten, bei Aristoteles das Leben nach dem Geiste, bei den Epikureern die Lust, das Leben in der Gegenwart. Gemeinsam war allen Ansätzen jedoch, daß das Ziel die Erreichung einer allgemeinen, einer „kosmischen“, Perspektive war. Die Einzelexistenz wurde nicht als oberstes Ziel gesehen, sondern eingeordnet in ein großes, geordnetes Ganzes. In diesem Kontext mußte die Einzelperson gesehen werden und sie sollte vor allem durch geistige und körperliche Übungen den ihr gemäßen Platz im Gesamtgefüge finden. Wer sich dem entsprechend verhielt, führte nach damaliger Sichtweise ein gutes (und damit glückliches) Leben.

Mir drängen sich dabei Parallelen zu den philosophischen Strömungen auf, die zur selben Zeit in China wie auch in Indien entstanden bzw. sich verbreiteten. Völlig unabhängig von der griechischen Philosophie kam es auch hier zur Ausbildung unterschiedlicher Schulen, die aber allesamt den einzelnen Menschen eingebettet haben in den größeren Gesamtzusammenhang. War es in China zunächst der Daoismus, der ein Leben gemäß der Natur als den richtigen Weg ansah, entwickelte sich danach der Konfuzianismus, der eine Orientierung an den Werten der Tradition vorschlug (mit der Begründung, daß früher Ordnung herrschte). Diese müßten jedoch erst anhand strenger Regeln erlernt werden, wodurch es zu einer Bildung des Gewissens kommt. Eine weitere chinesische Schule, der Mohismus, propagierte die Liebe gegenüber jedem und allem und vetrat die Ansicht, daß alle Menschen gleich wären und demnach gleichberechtigt zusammenleben sollten. Bei der vierten Richtung schließlich, dem Legalismus, wird die Gesamtordnung durch das gesetzte Recht hergestellt. [Näheres zu den vier „Grundschulen“ der Philosophie in China: http://homepage.univie.ac.at/~wimmerf8/skriptphg1china1.html ]

Allen vier Richtungen ist gemeinsam, daß es um die Suche einer Idealform für menschliches Zusammenleben geht und von diesem Gesamtzusammenhang abgeleitet um die Rolle des einzelnen. Man muß dabei die unterschiedlichen Umstände für die Entwicklung der jeweiligen Ansätze in Betracht ziehen. In China war es damals nach vielen Jahren des Krieges verständlicherweise das oberste Ziel, eine friedliche und stabile Gesellschaftsform zu finden. Das könnte in Anlehnung an die Grundfrage der Selbstsorge in der europäischen Antike zusammengefaßt werden mit der Frage „Wie soll man (zusammen)leben?“ Die Parallelen zwischen einzelnen Ansätzen bzw. ihren Grundgedanken in den verschiedenen geographischen Gebieten, die sich unabhängig voneinander – und teilweise mit sehr unterschiedlichen Ausgangspositionen – entwickelt haben, halte ich jedoch für auffällig und höchst interessant.

Indien und die philosophischen Grundströmungen zur Zeit der europäischen Antike passen ebenfalls in dieses Bild. Auch in diesem Kulturkreis wurde das Bild eines großen Gefüges entworfen, in dem der einzelne versucht, ein gutes Leben zu führen. In diesem Fall kommt es sogar zu einer Belohnungssituation, da ein derart gutes Leben eine Wiedergeburt in ein besseres Dasein nach sich zieht. Selbstsorge wird damit quasi auch zur „Vorsorge“. Selbst bei den Methoden zeigen sich deutliche Parallelen zur europäischen Antike, sei es nun das asketische Leben, die Selbstbeherrschung oder der Versuch, innere Ruhe durch Meditation zu erlangen.

Die Weiterentwicklung in den drei Kulturräumen ist ebenfalls sehr ähnlich verlaufen. So wie in Europa die christliche Kirche die antiken Übungen und Praktiken zur Selbstsorge übernommen und in ihre Organisation und Sichtweisen eingebaut hat („natürliche Ordnung“ wird uminterpretiert als „göttliche Ordnung“, das asketische Leben mit dem Ziel der Selbstbesinnung und des Seelenfriedens als Vorbild erhalten) und in weiterer Folge auch Herrscher auf dieses Potenzial Bezug genommen haben, wurde auch in China z.B. der Daoismus Richtung Religion gedrängt und der Konfuzianismus ins Herrschaftssystem eingegliedert. Die „Mächtigen“ nützten das Argument des „So soll man leben“, um ihre Zwecke zu unterstützen und legitimieren. [In Indien war die Trennung Philosophie und Religion seit jeher eine fließende.]

Mit der Ablehnung autoritäter Strukturen und hierarchischer Systeme (sowohl religiöser als auch staatlicher Art) in den letzten Jahrzehnten wurden gleichzeitig jedoch auch die antiken Ansichten zurückgewiesen. Um es bildlich darzustellen: Auf die Frage: „Wie soll man leben?“ wird man heutzutage im Westen (und nach und nach auch immer mehr in China z.B.) eher die Antwort hören: „So wie es mir gefällt.“ Ein „Ich lebe gemäß der Natur, gemäß den Idealen der Kirche“ o.ä. mutet schon fast befremdlich bzw. veraltet an. Die Frage dreht sich nun nicht mehr um ein Gesamtgefüge und den Platz des einzelnen im „kosmischen Zusammenhang“, sondern um das Subjekt an sich, als „Nullpunkt seiner Wirkwelt“ um es im Sinne moderner Theorien wie der Lebenswelttheorie zu sagen. In Anlehnung an den Titel der Vorlesung, der auch „Philosophie als Lebenskunst“ umfaßt, würde ich meinen, daß sich heutzutage viele selbst als „Lebenskünstler“ sehen. Der Begriff wird dabei in einem anderen Sinne gebraucht, aber die Vielzahl der Leute, die sich „ihre Weltsicht“ selbst zurecht legt, macht die Veränderung sehr deutlich. Auch diese „Lebens-Sichtweisen“ haben einen eher praktischen Charakter, wobei jedoch nicht das Finden eines allgemeinen Bewußtseins im Vordergrund steht oder das Streben nach Weisheit, sondern eine individuelle Sichtweise der Selbstverwirklichung. Trotzdem (oder gerade deshalb) taucht bei vielen das Gefühl auf, „es fehlt etwas“ bzw. „es muß doch noch mehr geben“ – im Endeffekt nichts anderes als die Frage nach der Einordnung der eigenen Existenz in ein großes Ganzes. Dabei wendet man sich jedoch nicht mehr im Stile der antiken Bildung an einen „Lehrer“ oder eine „Philosophie-Schule“, sondern sieht sich einer Vielzahl religiöser und kommerzieller Angebote gegenüber. Der Unterschied zur von der Autorität vermittelten Ordnung besteht wohl darin, daß man sich diese Ordnung dann selbst gesucht hat und individuell ausgestalten kann. Sehr auffällig ist in dieser Hinsicht das Aufkommen der asiatischen Philosophien und Meditations- bzw. Entspannungstechniken in den letzten Jahrzehnten, die als etwas Neues und anderes empfunden werden – und in Wahrheit doch schon genauso alt wie die Ansätze der griechischen Antike sind und mit diesen sogar erstaunliche Parallelen aufweisen.

Der zweite Aspekt, den ich kurz herausgreifen möchte, ist jener der Bildung. In dieser Vorlesung wurde das Thema ebenfalls mehrmals angeschnitten: Einerseits in der Antike, wo es zur Ausbildung des „klassischen Lehrer-Schüler-Verhältnisses“ bzw. der Gründung der Schulen kommt. Auf diesem Weg wird das, was als „gutes und richtiges Leben“ angesehen wird weitergegeben und hat somit auch einen herrschaftssichernden Aspekt (vgl. Vorlesung von Frau Nemeth). Andererseits war Bildung und die Kopplung von Macht und Wissen ein Hauptthema der Überlegungen Foucaults. Insbesondere dieser Zusammenhang, d.h. zum einen, daß sich die individuelle Existenz an einem größeren Kontext orientiert und zum anderen daß dieser von einer äußeren Instanz zugeordnet bzw. im Zuge der Bildung vermittelt wird (Natur, Gott, Staat, Lehrer, Eltern), zieht sich durch die geschichtliche Entwicklung und hat sich erst in den letzten Jahrzehnten abgeschwächt. Dies geht Hand in Hand mit den vorhin genannten Entwicklungen der Konzentration auf das Individuum, wobei festgehalten werden muß, daß eine System-immanente Struktur wie jene, die im Höhlengleichnis dargestellt wird, davon nicht betroffen zu sein scheint, da sie schon zu grundlegend geworden ist und deshalb gar nicht mehr hinterfragt wird. Oder anders formuliert: Symbolisierte der Begriff „Bildung“ in diesem Zusammenhang den Gedanken „wie komme ich die Treppe hinauf“, liefern die Überlegungen zum Thema „Wie soll ich leben?“ bzw. „Was soll ich tun?“ (nur mehr) die Begründungen „Warum will ich überhaupt die Treppe hinauf“.



Endredaktion des Protokolls zur Vorlesung von Violetta Waibel vom 26.11.2009

Protokoll zur Vorlesung von Violetta Waibel vom 26.11.2009 Violetta Waibel geht in ihrem Vortrag auf die unterschiedlichen Arten des Lesens und damit des Verstehens ein. Ausgangspunkt ist dabei die Ansicht, daß es sich bei der Philosophie auch um eine Buchwissenschaft handelt und „Bücher danach verlangen, gelesen zu werden“. Lesen wird in diesem Zusammenhang als eine hochkomplexe Kulturtechnik des Kodierens und Dekodierens verstanden. So wie ein Fechter mehrmals das Gehen lernen muß (als Kind, beim Tanzen, beim Fechten, als alter Mann mit Gehhilfe), können/müssen wir auch das Lesen mehrmals erlernen. Die Stufen dabei sind: 1. ABC Lernen (als Kind)
2. Sätze/Texte Verstehen (Gang der Schule)
3. Philologisches Lesen und Verstehen (historisch – synchron – diachron)
4. Philosophisches Lesen im engeren Sinn (systematisch – synchron – diachron)
5. Ästhetisch-emotionales Lesen (z.B. Lautgestalt u.ä.)

Philosophie kann immer auch als ein Gespräch verstanden werden, das entweder auf Aspekte der aktuellen Zeit Bezug nimmt, d.h. synchron geführt wird (zwei historische Ballungsräume vieler Konzeptionen: Griechenland der Antike und Deutscher Idealismus) – oder es handelt sich um einen Zeiträume-übergreifenden Dialog, d.h.zumeist eine Auseinandersetzung mit der Geschichte/Tradition in der Achse der Zeit, was dann als diachron bezeichnet wird. Den Begriff der „Geschichte der Philosophie“ im strikten Sinn gibt es nicht, wie die Geschichte der Philosophie-Geschichte aufzeigt. Stattdessen gibt es die Texte und Kommentare und Interpretationen zu ihnen. Welche Schriftstücke gelesen werden, ist hingegen eine Frage des Zeitgeistes und hängt davon ab, welche Fragen zu einer gegebenen Zeit an die Philosophie gestellt werden. Deshalb läßt sich festhalten, daß jede Zeit ihre eigene Geschichte der Philosophie entwickelt. Beim Textverständnis spielen deshalb die Fragen, mit denen man an die Werke herantritt, eine wesentliche Rolle. Der Text fordert einen zwar, bietet aber auch neue Perspektiven und eröffnet neue Fragen und Sichtweisen, die zuvor gar nicht bedacht wurden. Insofern ist ein systematisches Erarbeiten eines Textes sinnvoll. Das Schriftstück wird gleichsam von jedem Lesenden „neu erfunden“. Man tritt in einen dialogischen Prozeß mit dem Text, der einmal niedergeschrieben wurde, ein und findet und erfindet darin Neues. Dabei handelt es sich um eine Wechselbeziehung, die in der eigenen Perspektive ihren Ursprung hat.

1. Das ABC erlernen Hierbei handelt es sich um ein Verstehen, das weit von der philosophischen Erfahrung entfernt ist. Nichtsdestotrotz kann man dieses Stadium mehrmals im Leben durchlaufen, z.B. wenn man eine Fremdsprache mit einem eigenen Alphabet erlernt oder sich die Zeichensprache der Musik, die Gebärdensprache oder die Blindenschrift aneignet. Anhand dieses Aspekts wird sehr deutlich, daß eine Sprache immer auch ein Kodifizieren und Dekodifizieren bedeutet. Wie anspruchsvoll diese Stufe durchaus sein kann und welche Erfahrungen man dabei durchlebt, ist jedem wohl vom Erlernen von Fremdsprachen bewußt. Zudem wird hier der Unterschied zwischen Sprechen und Lesen sehr deutlich. Während sich das gesprochene Wort verflüchtigt, ist bei der geschriebenen Sprache eine Wiederholbarkeit gegeben. Das führt in vielen Kulturen dazu, dem Textuellen ein größeres Gewicht, eine größere Überzeugungskraft, zuzusprechen, ohne daß diese verdient sein muß.

2. Zusammenhängende Texte verstehen Auf dieser Stufe geht es darum, Texte zu verstehen und den inneren Verlauf zu erkennen. Dadurch entsteht eine Ansammlung von Wissen, die zwar geordnet sein kann, bei der aber nicht weiter auf die innere Struktur und Komposition der Werke geachtet wird. Lesen kann aber auch durch eigenes Verfassen von Texten gelernt werden. Dieses selbständige Produzieren von schriftlichen Werken ist eine andere Art und Weise sich mit Textualität auseinanderzusetzen und bietet durch die Vielzahl an verschiedenen Textsorten einen gänzliche anderen Zugang zu Texten und in weiterer Folge auch zum Verstehen von fremden Schriftstücken. Ähnliches gilt für die Erfahrungen, die man beim Erlernen und Übersetzen von Fremdsprachen macht. Die ersten zwei Stufen können auch als „vorwissenschaftliches Lesen“ bezeichnet werden, die das „wissenschaftliche(re) Lesen, das im Folgenden näher erläutert wird, erst möglich machen.

3. Philologisches Lesen und Verstehen Auf dieser Stufe geht es darum, die Texte als „gemachte Texte/Artefakte“ zu verstehen und nach der spezifischen inneren Struktur zu fragen, die ebenfalls wesentliche Informationen transportiert (eine kurze Zusammenfassung zum philologischen Lesen findet sich bei Stefan Keppler: http://www.stefankeppler.de/downloads/Hinweise%20zum%20Lesen.pdf). So wie es in der Literatur grundsätzlich viele Arten wie Lyrik, Epik oder Dramatik gibt, existieren auch in der Philosophie zahlreiche verschiedene Textsorten, z.B.:
- geschlossene Abhandlungen, die zum Druck freigegeben wurden
- Abhandlungen im Kontext eines großen Werkes (z.B. die KdrV im größeren Zusammenhang gemeinsam mit der KdpV und der KU gesehen)
- Vollständige Texte, die aber nicht zur Publikation freigegeben wurden
- Texte, die Fragmente geblieben sind
Jede dieser Textsorten verlangt nach einer unterschiedlichen Herangehensweise und ist anders zu lesen. Als Beispiel werden von Violetta Waibel die Wissenschaftslehren von Fichte aufgeführt, von denen der Autor die ersten veröffentlichen ließ, es aber zahlreiche Fassungen gibt und auch Fragmente von Studenten, die seine Vorlesungen besucht haben, existieren (sogenannte Kolleg-Nachschriften). Bei letzteren gehört es zum Wissen um den Text, daß es sich nicht um die Worte Fichtes selbst handelt, sondern sie die subjektive Sicht desjenigen darstellen, der die Schrift verfaßt hat. Ebenso kann es sich beim Text um Briefzeugnisse (die Form der „fingierten Briefe“ war im 17. und 18. Jahrhundert sehr beliebt) oder um Selbstverständigungsversuche handeln. Als Beispiel für letztere wären z.B. die „Fichte Studien“ von Novalis/Friedrich von Hardenberg zu nennen, bei denen es sich um ein Konglomerat von Texten handelt, die die Versuche aufzeigen, Fichte und Kant zu verstehen, und dabei viele innere Widersprüche aufweisen. Aber auch der Werktypus des Fragements spielt in der Philosophie eine wesentliche Rolle. Als Beispiele können hier das „Opus Postumum“ von Kant oder die Poetologie von Hölderlin dienen, die dieser nach eingehender Auseinandersetzung mit Kant und Fichte um 1800 herum geschrieben hat und die zwar zur Publikation vorgesehen war, aber immer nur im Fragmentzustand verblieb. Für die Rezeption eines solchen Textes muß bedacht werden, daß er nicht die Eindeutigkeit aufweist, wie dies bei einem zur Veröffentlichung freigegebenen Werk der Fall ist. Ein weiterer wesentlicher Aspekt im Rahmen des philologischen Lesens ist die Frage der Intertextualität. Dabei kann der Bezug zu anderen Werken auf zwei Arten hergestellt werden: - Es wird explizit Bezug auf einen anderen Autor von früher oder der eigenen Zeit genommen. - Weit häufiger ist es jedoch der Fall, daß der Bezug nur versteckt bzw. implizit erfolgt und die Auseinandersetzung mit anderen Werken nicht erwähnt wird. Die Gefahr bei diesen Verweisen auf andere Werke und Autoren besteht darin, daß man gleichzeitig mehrere Texte zu lesen beginnt. Sinnvoller wäre es jedoch, zunächst das ursprüngliche Werk vollständig zu erfassen, da der Bezug auf andere immer bereits eine Interpretation durch den Autor beinhaltet. Deshalb sollte zuerst daran gegangen werden, diese Thesen zu filtern und zu verstehen. Zu Beginn wird diese Tätigkeit wohl in einer „sehr nahen Rekonstruktion“ des Werks bestehen, in einem Verstehen der Terminologie und einem Erarbeiten des Textes in seiner Struktur. Als Hilfen bieten sich dabei sowohl der Titel des Werks, als auch die Titel der einzelnen Kapitel an, die ein Erschließen ausgehend von der gegebenen Struktur aus ermöglichen. Zudem ist zu beachten, daß auch innerhalb eines Textes verschiedene Textsorten auftreten können. Ist man sich über dieses Spektrum philologischer Momente im Klaren, führt dies schließlich zur nächsten Stufe des Lesens und Verstehens:

4. Philosophisches Lesen im eigentlichen Sinn Auf dieser Stufe stellt sich zunächst die Frage der Wechselwirkung zwischen Autorintention und Leserintention. Hat man als Rezipient die innere Struktur eines Textes erfaßt und die Intention verstanden, geht es darum, diese strukturierenden Schritte, die Komposition, nicht nur wiederzugeben, sondern die zugrundeliegenden Argumente zu verstehen. In Bezug auf Kant würde das z.B. bedeuten zu erkennen, daß „Raum und Zeit“ nur als idealistische Vorstellungen gedacht sind und nicht als in der Wirklichkeit existierend. Anders formuliert läßt sich sagen, daß es auf dieser Stufe nicht nur um die Inhalte, sondern auch um die Methodologie eines Werkes geht. In welcher Tradition steht es? Welcher Methode bedient es sich? Ist es der mathematischen Methode, der Dialektik, der Transzendentalphilosophie, der Phänomenologie zuzurechnen? Auch wenn eine Zuordnung getroffen werden kann, müssen dabei immer die Unterschiede innerhalb dieser Gruppen beachtet und die innere Struktur einer bestimmten Dialektik (Rede – Widerrede bzw. Frage-Antwort-Spiel) oder einer Phänomenologie berücksichtigt werden. Zunächst sollte demnach versucht werden, von der Textstruktur aus diese Aspekte zu verstehen. Wird man mit dem Werk vertrauter, kann man mehr eigene Intentionen einbringen und über die internen Zusammenhänge reflektieren. Bei den meisten Texten, entsteht dabei eine zusätzliche Spannung aufgrund der Zeitdifferenz zwischen Entstehung und Rezeption. Diese Zeitbrücke sollte beachtet und verstanden bzw. mitreflektiert werden. Aber gerade diese Spannung ist es auch, die Lesen im Endeffekt zusätzlich spannend macht und weshalb die Aussage gerechtfertigt erscheint, daß jede Zeit ihre eigene Geschichte der Philosophie hat.

Sprache der Philosophie Bei der Sprache der Philosophie handelt es sich um eine „entwickelte Sprache“, die erst „erfunden“ werden mußte. In der deutschen Philosophie war daran Christian Wolff (für weitere Informationen: http://de.wikipedia.org/wiki/Christian_von_Wolff) maßgeblich beteiligt. Aufgrund dieses speziellen „Codes“ kommt es auch zu Reibungen zwischen dem Alltagsverständnis und philosophischen Konzeptionen von Begriffen (z.B. Raum-Zeit, Subjekt, Freiheit). Dadurch scheint die Tätigkeit von Philosophen auf den ersten Blick banal zu sein, stellen sie doch nur das scheinbar Selbstverständliche in Frage. Das Beispiel des Augustinus zeigt aber deutlich, daß dem nicht so ist. Auf die Frage nach dem Wesen der Zeit antwortete er: „Wenn mich niemand fragt, dann weiß ich es; sobald ich aber gefragt werde, kann ich es nicht erklären.“ Wesentlich ist dabei zudem, daß es nicht nur eine Theorie zu den jeweiligen Begriffen gibt, sondern mehrere, die sich untereinander ergänzen. Deshalb gilt es in einem ersten Schritt, die spezifische Terminologie eines Werkes zu erarbeiten, d.h. bestimmte Begriffe zunächst wie Vokabeln zu erlernen. Dabei konzentriert man sich auf den „Umfang von Worten, die spezifisch und wesentlich eine Theorie tragen“. Auf Kants KdrV´(eine ausführliche Analyse dieses Werks findet sich hier: http://de.wikipedia.org/wiki/Kritik_der_reinen_Vernunft) bezogen handelt es sich dabei z.B. um Begriffe wie „Transzendental-Philosophie“, „Erscheinung“, „Erörterung“, „Metaphysik“ usw. Klar sein muß dabei jedoch, daß der Begriff von Autor zu Autor eine unterschiedliche Bedeutung bzw. einen unterschiedlichen Umfang haben kann. So bezeichnet der Begriff „Substanz“ bei Spinoza, Kant oder Hegel jeweils Unterschiedliches. Insofern ist es auch nicht sinnvoll davon zu sprechen, daß ein Begriff e i n e Bedeutung hat (z.B. „Substanz ist ...“), sondern immer in der Tradition der Philosophie und der Verwendung beim jeweiligen Autor gesehen werden muß („Substanz bei .. bezeichnet ..“). Insofern stimmt Frau Waibel auch Kant zu, der festgehalten hat, daß es in der Philosophie keine Definitionen, sondern höchstens Worterklärungen gibt. Kants Ansichten stammen aus seinen Wurzeln in der mathematischen Methode, weshalb er Definitionen auch nur der Mathematik zuschreibt. In diesem Sinne versteht er unter einer Definition eine allgemein-verbindliche und notwendige Begriffserklärung, die gilt. Die Tatsache, daß in der Philosophie derselbe Begriff wie z.B. Substanz in sehr unterschiedlicher Bedeutung gebraucht wird, zeigt deutlich das Problem auf, das entstehen würde, wenn man von Definitionen in diesem Bereich spricht. Als Gegenposition kann Spinoza (für weitere Informationen: http://de.wikipedia.org/wiki/Baruch_Spinoza) angesehen werden, der an den Anfang jedes seiner Ethik-Bücher „Definitionen“ stellt. Formulierungen wie „unter Substanz verstehe ich ...“ machen jedoch deutlich, daß es sich auch dabei nur um Worterläuterungen und nicht um Definitionen im mathematischen Sinne handelt (obwohl sich Spinoza selbst auf diese Methode beruft).


Systematisches und Historisches Verstehen Während heutzutage häufig nur mehr von „Theorien“ die Rede ist, haben Autoren der Tradition oft ganze Systeme entwickelt. Darunter wird ein zusammenhängendes, auf Prinzipien begründetes und aus diesen bestehendes Ganzes verstanden. Am anderen Ende des Spektrums der „systematischen Organisation“ steht das „Stückwerkdenken“ bzw. das „Denken in Fragmenten“. In diesen können innere Widersprüche auftreten, die dann jedoch nicht im nachhinein geglättet oder systematisiert werden sollen, sondern die in einer eigenen Reibung ihre Wirkung entfalten. Aber auch innerhalb von Systemwerken kann es bewußt zu großen inneren Reibungen kommen, die es herauszuarbeiten gilt. Einen wesentlichen Anhaltspunkt zum Verständnis des Systemdenkens in der Philosophie liefert Kant im „Architektonik-Kapitel“ der KdrV. Die Anleihen bei der Baukunst wählt der Autor dabei bewußt, da sich für ihn ein Werk genauso zu gliedern hat wie ein architektonisches Bauwerk. Es ist notwendig, sich über die Systemlehre Gedanken zu machen, sich zu verständigen und eine Methodenlehre und in weiterer Folge eine Methodologie zu entwickeln. Die Gegenüberstellung von Systemen und Aggregaten zieht sich dabei kontinuierlich durch Kants Werk, da es um den Kernpunkt der Philosophie als Wissenschaft geht. Deshalb muß es nach seiner Auffassung auch der Anspruch der Philosophie sein, eine systematische Einheit darzustellen und nicht bloß eine Nebeneinanderstellung von Aggregaten. Letzteres kann dabei dem vorwissenschaftlichen Lesen gleichgestellt werden und als eine Aneinanderreihung von Wissen ohne innere Struktur angesehen werden. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß diese bloße Aneinanderfügung auch bewußt erfolgen kann, wie dies bei Novalis „Fichte-Studien“ der Fall ist. In seinen weiteren Ausführungen schreibt Kant: „Ich verstehe unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee.“ Das heißt, daß das in einem Werk entwickelte Ganze, einen bewußten Fokus haben soll. Kant entwickelt daneben aber noch ein zweites Systembild, das als organalogisch bezeichnet werden kann. Diesem Ansatz nach enthält die Idee bereits Zweck und Form des Ganzen. Jeder Teil steht bewußt an seiner Stelle, es gibt keine zufälligen Hinzusetzung. Die vorgegebene interne Systemstruktur steht fest, das System kann zwar wie ein Organismus wachsen, bleibt dadurch aber in seiner grundlegenden Art unverändert. Diese Sichtweise läßt sich auch auf Kants Gesamtwerk übertragen, das ein System der Prinzipien darstellt, aber noch kein System einer Metaphysik (s. Einleitung zur KdrV). Sehr ähnlich zu Kants Ansatz ist jener zum systematischen Denken, der bei Christian Wolff zu finden ist. Bei ihm wird nicht nur das Werk eines Autors als System angesehen, sondern auch der eigene Verstand. Die Vernunft, die Möglichkeit des Denkens, wird als System verstanden, mit dem uns die Natur ausgestattet hat und das es im Werk zur Darstellung zu bringen gilt. Ausgehend von diesem als systematisches Ganzes begriffenen Geist, der sich gut mit Kants organalogischem Systembegriff verbinden läßt, wird auch die Organisation in der Natur als eine innere Einheit angesehen, die einem Systembau folgt, den es zu ergründen und zu verstehen gilt. Es ist das Ziel der Naturwissenschaften, diese innere Struktur als mathematisch verkürztes Ganzes zu verstehen. Die kritische Vernunft ist demnach jener Systemteil, der Wissenschaftlichkeit überhaupt erst möglich macht. Wolff spricht in dieser Hinsicht vom „Unterschied des zusammenhängenden und nicht-zusammenhängenden Verstandes“. Diese Teilung läßt sich auch auf die Erkenntnis als Ganzes übertragen: Während der zusammenhängende Verstand (intellectus systematicus) für die philosophische Erkenntnis zuständig ist (zusammenhängendes Ganzes hergestellt), sind es beim nichtzusammenhängenden die einzelnen Wissensmomente, die aneinandergereiht werden, die sogenannte historische Erkenntnis. Nur der intellectus systematicus hilft demnach beim Aufdecken der verborgenen Strukturen und Verbindungen der Welt.

Systembegriff bei Lambert Ein noch allgemeinerer Systembegriff findet sich schließlich bei Johann Heinrich Lambert (für weitere Informationen: http://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Heinrich_Lambert). In seinem Fragment „Systematologie“ entwickelt er in 47 Paragraphen, was ein System überhaupt erst ausmacht und inwiefern die Verschiedenheit und die Absicht bei Systemen von Bedeutung sind. Lambert kann deshalb die erste allgemeine Systemtheorie zugeschrieben werden, die auch Kant später beeinflußt hat. Die „Definition“ von Lambert hat dabei den Vorteil, daß es sich um einen sehr offenen Begriff handelt, der viele Anwendungsmöglichkeiten erschließt und sich auf nahezu jeden Sachverhalt übertragen läßt – das trifft sowohl auf Systeme der Natur zu als auch auf Systeme, die Kraft des Willens entstanden sind, d.h. „menschliche Artefakte“ wie z.B. bestimmte „Lehrgebäude“. Nach Lambert gibt es 5 Kriterien, die zu einem System gehören und die dieses bestimmen:
- Materialität
- Die Teile, die das verborgene Ganze ausmachen
- Die verbindenden Kräfte bzw. das „gemeinsame Band“
- Eine oder mehrere Absichten des Ganzen (bei Kant wäre dies die „Idee“)
- Gleichgewichtszustand bzw. Form der Ordnung
Dabei gibt es sowohl geschlossene Systeme als auch offene bzw. durchlässige (s. organalogische Konzeption, die als engerer System-Begriff angesehen werden kann als jener bei Lambert). Was sich als System explizit oder implizit darbietet, muß demzufolge als systemisches Ganzes verstanden werden. Die Anordnung der Teile erfolgt nicht zufällig, sondern absichtlich. Sie stehen in ausdrücklicher Weise zusammen, und mit der Ordnung geht die Methode einher und schließlich die Methodologie der philosophischen Präsentation. Auch wenn in der modernen Philosophie diese Konzeption zurückgewiesen wird, so hat die systematische Philosophie bzw. der Begriff der Systematizität nicht bloß historischen Wert, sondern es bietet sich an, diesen Aspekt zum besseren und tieferen Verständnis von Texten und Strukturen zu berücksichtigen. Nur so kann ermittelt werden, ob das System, das von einem Autor vorgelegt wird, den eigenen Ansprüchen genügt. Zudem bietet sich diese Herangehensweise an, damit überhaupt die implizite Systematik bzw. der systematische Ansatz in einem Text oder Gesamtwerk rekonstruiert und erschlossen werden kann.



Protokoll zur Vorlesung von Violetta Waibel vom 26.11.2009

Violetta Waibel geht in ihrem Vortrag auf die unterschiedlichen Arten des Lesens und damit des Verstehens ein. Ausgangspunkt ist dabei die Ansicht, daß es sich bei der Philosophie auch um eine Buchwissenschaft handelt und „Bücher danach verlangen, gelesen zu werden“. Lesen wird in diesem Zusammenhang als eine hochkomplexe Kulturtechnik des Kodierens und Dekodierens verstanden. So wie ein Fechter mehrmals das Gehen lernen muß (als Kind, beim Tanzen, beim Fechten, als alter Mann mit Gehhilfe), können/müssen wir auch das Lesen mehrmals erlernen. Die Stufen dabei sind:

1. ABC Lernen (als Kind)
2. Sätze/Texte Verstehen (Gang der Schule)
3. Philologisches Lesen und Verstehen (historisch – synchron – diachron)
4. Philosophisches Lesen im engeren Sinn (systematisch – synchron – diachron)
5. Ästhetisch-emotionales Lesen (z.B. Lautgestalt u.ä.)


Philosophie kann immer auch als ein Gespräch verstanden werden, das entweder auf Aspekte der aktuellen Zeit Bezug nimmt, d.h. synchron geführt wird (zwei historische Ballungsräume vieler Konzeptionen: Griechenland der Antike und Deutscher Idealismus) – oder es handelt sich um einen Zeiträume-übergreifenden Dialog, d.h.zumeist eine Auseinandersetzung mit der Geschichte/Tradition in der Achse der Zeit, was dann als diachron bezeichnet wird.

Den Begriff der „Geschichte der Philosophie“ im strikten Sinn gibt es nicht, wie die Geschichte der Philosophie-Geschichte aufzeigt. Stattdessen gibt es die Texte und Kommentare und Interpretationen zu ihnen. Welche Schriftstücke gelesen werden, ist hingegen eine Frage des Zeitgeistes und hängt davon ab, welche Fragen zu einer gegebenen Zeit an die Philosophie gestellt werden. Deshalb läßt sich festhalten, daß jede Zeit ihre eigene Geschichte der Philosophie entwickelt.

Beim Textverständnis spielen deshalb die Fragen, mit denen man an die Werke herantritt, eine wesentliche Rolle. Der Text fordert einen zwar, bietet aber auch neue Perspektiven und eröffnet neue Fragen und Sichtweisen, die zuvor gar nicht bedacht wurden. Insofern ist ein systematisches Erarbeiten eines Textes sinnvoll. Das Schriftstück wird gleichsam von jedem Lesenden „neu erfunden“. Man tritt in einen dialogischen Prozeß mit dem Text, der einmal niedergeschrieben wurde, ein und findet und erfindet darin Neues. Dabei handelt es sich um eine Wechselbeziehung, die in der eigenen Perspektive ihren Ursprung hat.


1. Das ABC erlernen

Hierbei handelt es sich um ein Verstehen, das weit von der philosophischen Erfahrung entfernt ist. Nichtsdestotrotz kann man dieses Stadium mehrmals im Leben durchlaufen, z.B. wenn man eine Fremdsprache mit einem eigenen Alphabet erlernt oder sich die Zeichensprache der Musik, die Gebärdensprache oder die Blindenschrift aneignet. Anhand dieses Aspekts wird sehr deutlich, daß eine Sprache immer auch ein Kodifizieren und Dekodifizieren bedeutet.

Wie anspruchsvoll diese Stufe durchaus sein kann und welche Erfahrungen man dabei durchlebt, ist jedem wohl vom Erlernen von Fremdsprachen bewußt. Zudem wird hier der Unterschied zwischen Sprechen und Lesen sehr deutlich. Während sich das gesprochene Wort verflüchtigt, ist bei der geschriebenen Sprache eine Wiederholbarkeit gegeben. Das führt in vielen Kulturen dazu, dem Textuellen ein größeres Gewicht, eine größere Überzeugungskraft, zuzusprechen, ohne daß diese verdient sein muß. (Überlegungen zur „Macht des geschriebenen Wortes“ bilden sicher einen guten Bezugspunkt)


2. Zusammenhängende Texte verstehen

Auf dieser Stufe geht es darum, Texte zu verstehen und den inneren Verlauf zu erkennen. Dadurch entsteht eine Ansammlung von Wissen, die zwar geordnet sein kann, bei der aber nicht weiter auf die innere Struktur und Komposition der Werke geachtet wird.

Lesen kann aber auch durch eigenes Verfassen von Texten gelernt werden. Dieses selbständige Produzieren von schriftlichen Werken ist eine andere Art und Weise sich mit Textualität auseinanderzusetzen und bietet durch die Vielzahl an verschiedenen Textsorten einen gänzliche anderen Zugang zu Texten und in weiterer Folge auch zum Verstehen von fremden Schriftstücken. Ähnliches gilt für die Erfahrungen, die man beim Erlernen und Übersetzen von Fremdsprachen macht.

Die ersten zwei Stufen können auch als „vorwissenschaftliches Lesen“ bezeichnet werden, die das „wissenschaftliche(re) Lesen, das im Folgenden näher erläutert wird, erst möglich machen.


3. Philologisches Lesen und Verstehen

Auf dieser Stufe geht es darum, die Texte als „gemachte Texte/Artefakte“ zu verstehen und nach der spezifischen inneren Struktur zu fragen, die ebenfalls wesentliche Informationen transportiert. So wie es in der Literatur grundsätzlich viele Arten wie Lyrik, Epik oder Dramatik gibt, existieren auch in der Philosophie zahlreiche verschiedene Textsorten, z.B.:

- geschlossene Abhandlungen, die zum Druck freigegeben wurden
- Abhandlungen im Kontext eines großen Werkes (z.B. die KdrV im größeren Zusammenhang gemeinsam mit der KdpV und der KU gesehen)
- Vollständige Texte, die aber nicht zur Publikation freigegeben wurden
- Texte, die Fragmente geblieben sind

Jede dieser Textsorten verlangt nach einer unterschiedlichen Herangehensweise und ist anders zu lesen.

Als Beispiel werden von Violetta Waibel die Wissenschaftslehren von Fichte aufgeführt, von denen der Autor die ersten veröffentlichen ließ, es aber zahlreiche Fassungen gibt und auch Fragmente von Studenten, die seine Vorlesungen besucht haben, existieren (sogenannte Kolleg-Nachschriften). Bei letzteren gehört es zum Wissen um den Text, daß es sich nicht um die Worte Fichtes selbst handelt, sondern sie die subjektive Sicht desjenigen darstellen, der die Schrift verfaßt hat.

Ebenso kann es sich beim Text um Briefzeugnisse (die Form der „fingierten Briefe“ war im 17. und 18. Jahrhundert sehr beliebt) oder um Selbstverständigungsversuche handeln. Als Beispiel für letztere wären z.B. die „Fichte Studien“ von Novalis/Friedrich von Hardenberg zu nennen, bei denen es sich um ein Konglomerat von Texten handelt, die die Versuche aufzeigen, Fichte und Kant zu verstehen, und dabei viele innere Widersprüche aufweisen.

Aber auch der Werktypus des Fragements spielt in der Philosophie eine wesentliche Rolle. Als Beispiele können hier das „Opus Postumum“ von Kant oder die Poetologie von Hölderlin dienen, die dieser nach eingehender Auseinandersetzung mit Kant und Fichte um 1800 herum geschrieben hat und die zwar zur Publikation vorgesehen war, aber immer nur im Fragmentzustand verblieb. Für die Rezeption eines solchen Textes muß bedacht werden, daß er nicht die Eindeutigkeit aufweist, wie dies bei einem zur Veröffentlichung freigegebenen Werk der Fall ist.

Ein weiterer wesentlicher Aspekt im Rahmen des philologischen Lesens ist die Frage der Intertextualität. Dabei kann der Bezug zu anderen Werken auf zwei Arten hergestellt werden:

- Es wird explizit Bezug auf einen anderen Autor von früher oder der eigenen Zeit genommen.
- Weit häufiger ist es jedoch der Fall, daß der Bezug nur versteckt bzw. implizit erfolgt und die Auseinandersetzung mit anderen Werken nicht erwähnt wird.

Die Gefahr bei diesen Verweisen auf andere Werke und Autoren besteht darin, daß man gleichzeitig mehrere Texte zu lesen beginnt. Sinnvoller wäre es jedoch, zunächst das ursprüngliche Werk vollständig zu erfassen, da der Bezug auf andere immer bereits eine Interpretation durch den Autor beinhaltet. Deshalb sollte zuerst daran gegangen werden, diese Thesen zu filtern und zu verstehen. Zu Beginn wird diese Tätigkeit wohl in einer „sehr nahen Rekonstruktion“ des Werks bestehen, in einem Verstehen der Terminologie und einem Erarbeiten des Textes in seiner Struktur. Als Hilfen bieten sich dabei sowohl der Titel des Werks, als auch die Titel der einzelnen Kapitel an, die ein Erschließen ausgehend von der gegebenen Struktur aus ermöglichen. Zudem ist zu beachten, daß auch innerhalb eines Textes verschiedene Textsorten auftreten können. Ist man sich über dieses Spektrum philologischer Momente im Klaren, führt dies schließlich zur nächsten Stufe des Lesens und Verstehens:


4. Philosophisches Lesen im eigentlichen Sinn

Auf dieser Stufe stellt sich zunächst die Frage der Wechselwirkung zwischen Autorintention und Leserintention. Hat man als Rezipient die innere Struktur eines Textes erfaßt und die Intention verstanden, geht es darum, diese strukturierenden Schritte, die Komposition, nicht nur wiederzugeben, sondern die zugrundeliegenden Argumente zu verstehen. In Bezug auf Kant würde das z.B. bedeuten zu erkennen, daß „Raum und Zeit“ nur als idealistische Vorstellungen gedacht sind und nicht als in der Wirklichkeit existierend.

Anders formuliert läßt sich sagen, daß es auf dieser Stufe nicht nur um die Inhalte, sondern auch um die Methodologie eines Werkes geht. In welcher Tradition steht es? Welcher Methode bedient es sich? Ist es der mathematischen Methode, der Dialektik, der Transzendentalphilosophie, der Phänomenologie zuzurechnen? Auch wenn eine Zuordnung getroffen werden kann, müssen dabei immer die Unterschiede innerhalb dieser Gruppen beachtet und die innere Struktur einer bestimmten Dialektik (Rede – Widerrede bzw. Frage-Antwort-Spiel) oder einer Phänomenologie berücksichtigt werden.

Zunächst sollte demnach versucht werden, von der Textstruktur aus diese Aspekte zu verstehen. Wird man mit dem Werk vertrauter, kann man mehr eigene Intentionen einbringen und über die internen Zusammenhänge reflektieren. Bei den meisten Texten, entsteht dabei eine zusätzliche Spannung aufgrund der Zeitdifferenz zwischen Entstehung und Rezeption. Diese Zeitbrücke sollte beachtet und verstanden bzw. mitreflektiert werden. Aber gerade diese Spannung ist es auch, die Lesen im Endeffekt zusätzlich spannend macht und weshalb die Aussage gerechtfertigt erscheint, daß jede Zeit ihre eigene Geschichte der Philosophie hat.


Sprache der Philosophie

Bei der Sprache der Philosophie handelt es sich um eine „entwickelte Sprache“, die erst „erfunden“ werden mußte. In der deutschen Philosophie war daran Christian Wolff maßgeblich beteiligt. Aufgrund dieses speziellen „Codes“ kommt es auch zu Reibungen zwischen dem Alltagsverständnis und philosophischen Konzeptionen von Begriffen (z.B. Raum-Zeit, Subjekt, Freiheit). Dadurch scheint die Tätigkeit von Philosophen auf den ersten Blick banal zu sein, stellen sie doch nur das scheinbar Selbstverständliche in Frage. Das Beispiel des Augustinus zeigt aber deutlich, daß dem nicht so ist. Auf die Frage nach dem Wesen der Zeit antwortete er: „Wenn mich niemand fragt, dann weiß ich es; sobald ich aber gefragt werde, kann ich es nicht erklären.“ Wesentlich ist dabei zudem, daß es nicht nur eine Theorie zu den jeweiligen Begriffen gibt, sondern mehrere, die sich untereinander ergänzen.

Deshalb gilt es in einem ersten Schritt, die spezifische Terminologie eines Werkes zu erarbeiten, d.h. bestimmte Begriffe zunächst wie Vokabeln zu erlernen. Dabei konzentriert man sich auf den „Umfang von Worten, die spezifisch und wesentlich eine Theorie tragen“. Auf Kants KdrV bezogen handelt es sich dabei z.B. um Begriffe wie „Transzendental-Philosophie“, „Erscheinung“, „Erörterung“, „Metaphysik“ usw. Klar sein muß dabei jedoch, daß der Begriff von Autor zu Autor eine unterschiedliche Bedeutung bzw. einen unterschiedlichen Umfang haben kann. So bezeichnet der Begriff „Substanz“ bei Spinoza, Kant oder Hegel jeweils Unterschiedliches. Insofern ist es auch nicht sinnvoll davon zu sprechen, daß ein Begriff e i n e Bedeutung hat (z.B. „Substanz ist ...“), sondern immer in der Tradition der Philosophie und der Verwendung beim jeweiligen Autor gesehen werden muß („Substanz bei .. bezeichnet ..“).

Insofern stimmt Frau Waibel auch Kant zu, der festgehalten hat, daß es in der Philosophie keine Definitionen, sondern höchstens Worterklärungen gibt. Kants Ansichten stammen aus seinen Wurzeln in der mathematischen Methode, weshalb er Definitionen auch nur der Mathematik zuschreibt. In diesem Sinne versteht er unter einer Definition eine allgemein-verbindliche und notwendige Begriffserklärung, die gilt. Die Tatsache, daß in der Philosophie derselbe Begriff wie z.B. Substanz in sehr unterschiedlicher Bedeutung gebraucht wird, zeigt deutlich das Problem auf, das entstehen würde, wenn man von Definitionen in diesem Bereich spricht.

Als Gegenposition kann Spinoza angesehen werden, der an den Anfang jedes seiner Ethik-Bücher „Definitionen“ stellt. Formulierungen wie „unter Substanz verstehe ich ...“ machen jedoch deutlich, daß es sich auch dabei nur um Worterläuterungen und nicht um Definitionen im mathematischen Sinne handelt (obwohl sich Spinoza selbst auf diese Methode beruft).


Systematisches und Historisches Verstehen

Während heutzutage häufig nur mehr von „Theorien“ die Rede ist, haben Autoren der Tradition oft ganze Systeme entwickelt. Darunter wird ein zusammenhängendes, auf Prinzipien begründetes und aus diesen bestehendes Ganzes verstanden. Am anderen Ende des Spektrums der „systematischen Organisation“ steht das „Stückwerkdenken“ bzw. das „Denken in Fragmenten“. In diesen können innere Widersprüche auftreten, die dann jedoch nicht im nachhinein geglättet oder systematisiert werden sollen, sondern die in einer eigenen Reibung ihre Wirkung entfalten. Aber auch innerhalb von Systemwerken kann es bewußt zu großen inneren Reibungen kommen, die es herauszuarbeiten gilt.

Einen wesentlichen Anhaltspunkt zum Verständnis des Systemdenkens in der Philosophie liefert Kant im „Architektonik-Kapitel“ der KdrV. Die Anleihen bei der Baukunst wählt der Autor dabei bewußt, da sich für ihn ein Werk genauso zu gliedern hat wie ein architektonisches Bauwerk. Es ist notwendig, sich über die Systemlehre Gedanken zu machen, sich zu verständigen und eine Methodenlehre und in weiterer Folge eine Methodologie zu entwickeln. Die Gegenüberstellung von Systemen und Aggregaten zieht sich dabei kontinuierlich durch Kants Werk, da es um den Kernpunkt der Philosophie als Wissenschaft geht. Deshalb muß es nach seiner Auffassung auch der Anspruch der Philosophie sein, eine systematische Einheit darzustellen und nicht bloß eine Nebeneinanderstellung von Aggregaten.

Letzteres kann dabei dem vorwissenschaftlichen Lesen gleichgestellt werden und als eine Aneinanderreihung von Wissen ohne innere Struktur angesehen werden. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß diese bloße Aneinanderfügung auch bewußt erfolgen kann, wie dies bei Novalis „Fichte-Studien“ der Fall ist.

In seinen weiteren Ausführungen schreibt Kant: „Ich verstehe unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee.“ Das heißt, daß das in einem Werk entwickelte Ganze, einen bewußten Fokus haben soll. Kant entwickelt daneben aber noch ein zweites Systembild, das als organalogisch bezeichnet werden kann. Diesem Ansatz nach enthält die Idee bereits Zweck und Form des Ganzen. Jeder Teil steht bewußt an seiner Stelle, es gibt keine zufälligen Hinzusetzung. Die vorgegebene interne Systemstruktur steht fest, das System kann zwar wie ein Organismus wachsen, bleibt dadurch aber in seiner grundlegenden Art unverändert. Diese Sichtweise läßt sich auch auf Kants Gesamtwerk übertragen, das ein System der Prinzipien darstellt, aber noch kein System einer Metaphysik (s. Einleitung zur KdrV).

Sehr ähnlich zu Kants Ansatz ist jener zum systematischen Denken, der bei Christian Wolff zu finden ist. Bei ihm wird nicht nur das Werk eines Autors als System angesehen, sondern auch der eigene Verstand. Die Vernunft, die Möglichkeit des Denkens, wird als System verstanden, mit dem uns die Natur ausgestattet hat und das es im Werk zur Darstellung zu bringen gilt. Ausgehend von diesem als systematisches Ganzes begriffenen Geist, der sich gut mit Kants organalogischem Systembegriff verbinden läßt, wird auch die Organisation in der Natur als eine innere Einheit angesehen, die einem Systembau folgt, den es zu ergründen und zu verstehen gilt. Es ist das Ziel der Naturwissenschaften, diese innere Struktur als mathematisch verkürztes Ganzes zu verstehen. Die kritische Vernunft ist demnach jener Systemteil, der Wissenschaftlichkeit überhaupt erst möglich macht.

Wolff spricht in dieser Hinsicht vom „Unterschied des zusammenhängenden und nicht-zusammenhängenden Verstandes“. Diese Teilung läßt sich auch auf die Erkenntnis als Ganzes übertragen: Während der zusammenhängende Verstand (intellectus systematicus) für die philosophische Erkenntnis zuständig ist (zusammenhängendes Ganzes hergestellt), sind es beim nichtzusammenhängenden die einzelnen Wissensmomente, die aneinandergereiht werden, die sogenannte historische Erkenntnis. Nur der intellectus systematicus hilft demnach beim Aufdecken der verborgenen Strukturen und Verbindungen der Welt.


Systembegriff bei Lambert

Ein noch allgemeinerer Systembegriff findet sich schließlich bei Johann Heinrich Lambert. In seinem Fragment „Systematologie“ entwickelt er in 47 Paragraphen, was ein System überhaupt erst ausmacht und inwiefern die Verschiedenheit und die Absicht bei Systemen von Bedeutung sind. Lambert kann deshalb die erste allgemeine Systemtheorie zugeschrieben werden, die auch Kant später beeinflußt hat. Die „Definition“ von Lambert hat dabei den Vorteil, daß es sich um einen sehr offenen Begriff handelt, der viele Anwendungsmöglichkeiten erschließt und sich auf nahezu jeden Sachverhalt übertragen läßt – das trifft sowohl auf Systeme der Natur zu als auch auf Systeme, die Kraft des Willens entstanden sind, d.h. „menschliche Artefakte“ wie z.B. bestimmte „Lehrgebäude“.

Nach Lambert gibt es 5 Kriterien, die zu einem System gehören und die dieses bestimmen:

- Materialität
- Die Teile, die das verborgene Ganze ausmachen
- Die verbindenden Kräfte bzw. das „gemeinsame Band“
- Eine oder mehrere Absichten des Ganzen (bei Kant wäre dies die „Idee“)
- Gleichgewichtszustand bzw. Form der Ordnung

Dabei gibt es sowohl geschlossene Systeme als auch offene bzw. durchlässige (s. organalogische Konzeption, die als engerer System-Begriff angesehen werden kann als jener bei Lambert).

Was sich als System explizit oder implizit darbietet, muß demzufolge als systemisches Ganzes verstanden werden. Die Anordnung der Teile erfolgt nicht zufällig, sondern absichtlich. Sie stehen in ausdrücklicher Weise zusammen, und mit der Ordnung geht die Methode einher und schließlich die Methodologie der philosophischen Präsentation. Auch wenn in der modernen Philosophie diese Konzeption zurückgewiesen wird, so hat die systematische Philosophie bzw. der Begriff der Systematizität nicht bloß historischen Wert, sondern es bietet sich an, diesen Aspekt zum besseren und tieferen Verständnis von Texten und Strukturen zu berücksichtigen. Nur so kann ermittelt werden, ob das System, das von einem Autor vorgelegt wird, den eigenen Ansprüchen genügt. Zudem bietet sich diese Herangehensweise an, damit überhaupt die implizite Systematik bzw. der systematische Ansatz in einem Text oder Gesamtwerk rekonstruiert und erschlossen werden kann.