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Die Grenzen des Unendlichen

  • Untertitel: Universum und menschlicher Geist bei Nicolaus Cusanus
  • Ein Vortrag von Stephan Grotz im Juni 2011 auf der Konferenz "Crossing Borders"
  • Ein Mitschnitt wurde in der Philosophischen Audiothek veröffentlicht

Vgl auch: A. Dunshirn, E. Nemeth und G. Unterthurner, 2012: Crossing Borders. Grenzen (über)denken. Beiträge zum 9. Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie. Wien: ÖGP. S.855-862. Verfügbar unter: https://fedora.phaidra.univie.ac.at/fedora/get/o:128384/bdef:Content/get (31.07.2014)

Das Transkript wird mit freundlicher Genehmigung von Stephan Grotz und Alfred Dunshirn hier veröffentlicht.


Unter dem Titel: "Die Grenzen des Unendlichen" möchte ich im Folgenden einigen Gedanken nachgehen, die Nicolaus Cusanus zum Universum und zum menschlichen Geist entwickelt hat. Ich tue dies allerdings nicht nur, um damit einen weiteren Beitrag zur Cusanus-Exegese im engeren Sinne vorzulegen. Vielmehr scheinen mir die cusanischen Erwägungen auch unter einem systematischen Gesichtspunkt von besonderem Interesse zu sein. Ich meine damit die grundsätzliche Frage, wie sich das Verhältnis von endlich und unendlich bestimmen lässt und welche Art von Grenzen sich dabei zwischen endlich und unendlich ziehen lassen. Diese Frage klingt und ist auch zunächst völlig abstrakt und daher beinahe inhaltsleer. Damit also diese Frage präziser und verständlicher wird, wird es nötig sein, dass wir uns in einem ersten Schritt zumindest in Grundzügen vor Augen führen, warum Cusanus die Welt überhaupt als eine unendliche denkt. In einem zweiten Schritt möchte ich dann ein Stück weit verfolgen, inwiefern Cusanus Annahme einer unendlichen Welt mit seiner Theorie des menschlichen Geistes zu tun hat. Der dritte und letzte Abschnitt öffnet sich dann der Frage nach dem Verhältnis von endlich und unendlich bei Cusanus und hierbei insbesondere der Frage in welchem Sinne die Unendlichkeit ein Konstituens der Endlichkeit sein kann.

Schrankenlosigkeit ist eine Einschränkung

Bekanntlich ist Cusanus einer der ersten oder gar der erste nach-antike Denker gewesen, der die Unendlichkeit des Universums affirmiert hat. Zu dieser Annahme gelangt Cusanus freilich nicht durch empirische Indizien, also durch astronomische oder entsprechend andere Beobachtungen. Die Unendlichkeit des Universums ist für Nicolaus Cusanus vielmehr ein metaphysisches Erfordernis. Sie ergibt sich gleichsam organisch im Kontext seiner Reflexionen auf den menschlichen Geist und auf den Gottesbegriff.

Es ergäbe also ein verzerrtes Bild, wenn man Cusanus zu einem Naturforscher stilisiert, der zunächst ein rein spekulativer Theologe gewesen sei, der sich aber im Laufe der Zeit durch eine erdrückende Last von faktischen Hinweisen auf die Unendlichkeit des Weltalls eines Besseren habe belehren lassen müssen. Zu der Annahme der Unendlichkeit der Welt kommt Cusanus vielmehr durch die Überlegung, dass es völlig unerklärlich wäre, wie die Welt ihren Ursprung in Gott haben könnte, wenn die Welt sich als eine bloß und rein endliche verstehen würde. Denn die Endlichkeit ist offensichtlich etwas, was zur Unendlichkeit Gottes in einem unvereinbaren Gegensatz steht, was daher auch nicht von Gott herrühren kann. Und so sagt Cusanus selbst, dass all das, was diese unsere Welt aus- und kennzeichnet, nämlich: "die Vergänglichkeit, die Teilbarkeit, die Unvollkommenheit, die Verschiedenheit, die Vielheit und dergleichen mehr, nicht vom größten, ewigen, unteilbaren, vollkommensten, ungeschiedenen Einen stammen kann." Wenn sich also das Unendliche mitteilt, dann kann es sich selbst dabei nicht verendlichen, sich sozusagen, scheibchenweise oder bruchstückhaft mitteilen. Und das wiederum bedeutet, dass die Welt als Produkt des Unendlichen ihrerseits, auf ihre Weise, unendlich sein muss.

Freilich beginnt hier erst das philosophische Problem. Denn was soll dies besagen? Dass die Welt auf ihre Weise unendlich ist? Darauf hält Cusanus eine Antwort parat, die zwar in sich selbst konsequent ist, aber zunächst keinen großen Erkenntnisgewinn mit sich bringt. Dass die Welt auf ihre Weise unendlich ist, heißt: Sie ist endliche Unendlichkeit, infinitas finita, wie er sagt, in De Docta Ignorantia ("Über die belehrte Unwissenheit"). Diesen zunächst befremdlichen Terminus der endlichen Unendlichkeit könnte man nun so ausbuchstabieren, dass damit eine unendliche Anzahl finiter, das heißt bestimmter und voneinander genau abgegrenzter Dinge im Universum gemeint ist. So aber denkt Cusanus nicht. Er verteilt nicht gleichsam die beiden Aspekte des endlichen und des unendlichen gesondert auf zwei Instanzen. Mit der Annahme von endlichen Gegenständen in einem ansonsten unendlichen Raum hätten wir nämlich wieder dasselbe Problem wie vorhin: Woher kommt diese Endlichkeit der Gegenstände?

Wie und wo ist aber dann die Endlichkeit des unendlichen Universums zu denken? Oder anders gefragt: Worin zeigt sich der endliche Zug an der Unendlichkeit des Universums? Wo liegt die Grenze einer solchen Unendlichkeit? Cusanus Antwort mag vielleicht nur auf dem ersten Blick überraschen. Die Grenze des unendlichen Universums liegt in dessen Unbeschränktheit. Damit ist zunächst gemeint, dass das Universum keine Beschränkung von außen kennt. An unser Universum stößt kein anderes, wirkliches Universum an, so wie ein Grundstück an ein anderes, wirkliches, grenzt. Cusanus will jedoch nicht bloß auf eine solche Ungenauigkeit in der Extension hinaus, also auf den Umstand, dass das Universum keine trennscharfen, genau bestimmbaren Ränder hat. Vielmehr geht es ihm um eine Einschränkung, um eine contractio, die man als eine intensive Ungenauigkeit bezeichnen könnte. Ich will dies etwas näher erläutern: Cusanus kennzeichnet das Universum bekanntlich als maximum contractum, als das eingeschränkt Größte. Im strengen Begriff des Maximums liegt nun, dass es nicht überbietbar ist. In grammatischen Kategorien gesprochen: Das Maximum in diesem strengen Sinn ist ein Elativ, kein Superlativ, also ein absoluter Superlativ, kein vergleichsweise, über andere Referenzpunkte gewonnenes Höchstmaß. Als das eingeschränkt Größte, besitzt das Universum nun einen superlativischen Charakter im zweitgenannten Sinn: Höchstmaße und Höchstformen ergeben sich im Universum aus einem skalierten mehr und mehr.

Keine Individualität in der Welt ohne Unabschließbarkeit

Das Universum kennt also Maxima, über die hinaus stets und notwendig Größeres gedacht und gemessen werden kann.

Ein cusanisches Paradebeispiel hierfür ist die aufsteigende Reihe der natürlichen Zahlen. Während des Zählvorgangs ergibt sich immer ein jeweils aktualer, maximaler Zahlenwert, der unablässig überboten werden kann. Jeder einzelne Zahlenwert steht mit jedem anderen Zahlenwert der Reihe in einem Bezug, genauer in einem proportionalen Bezug. Mehr noch: Erst aus diesem Bezug ergibt sich der Stellenwert einer Zahl, ihr Zahlenwert. Da aber die Zahlenreihe unabschließbar ist, so kennzeichnet jeden Zahlenwert eine unabsehbare, da unendliche Anzahl von Bezügen in denen dieser Zahlenwert zu allen anderen Zahlenwerten steht. Was Cusanus damit verdeutlicht ist Folgendes: Finitheit, Endlichkeit, ist gerade nicht, wie es uns einfachhin in der Regel erscheint, eine Frage der Präzision. Insbesondere der Zahlenwert der natürlichen Zahlen gilt uns als ein Mittel der genauen Erfassung des damit Gezählten. Wir sehen zum Beispiel bei einem Spaziergang genau sieben Entenküken auf der Donau schwimmen, nicht mehr und nicht weniger. Und doch ist in Cusanus Augen diese präzise Zahlenangabe nur möglich auf dem Hintergrund unendlich vieler anderer Zahlenwerte, die wesentlich jenen der Zahl Sieben mitkonstituieren. Die Zahl Sieben erlangt sozusagen als ganz individuelles Mitglied der Zahlenreihe ihren, das heißt den einzig und allein mit ihr verbundenen Zahlenwert dadurch, dass die Zahl Sieben ebenso wie jede andere in der Zahlenreihe nicht noch einmal vorkommt und sich wiederholt. Und Garant für die Einmaligkeit, für die Individualität einer jeden Zahl ist die Unendlichkeit der Zahlenreihe. Andernfalls, wenn also die Zahlenreihe abschließbar wäre, wären auch genaue Wiederholungen von bestimmten Zahlenfolgen denkbar. Solch eine Unendlichkeit, wie die der Zahlenreihe, schließt das wiederholte Auftreten von immergleichen Bestandteilen aus. An der Zahlenreihe zeigt sich demnach: Zwischen der Individualität und einer Unendlichkeit, der die Abschließbarkeit und bestimmte Grenzen versagt sind, besteht für Cusanus ein unauflöslicher Zusammenhang. Individuelle Dinge, einzelne Phänomene, setzen diese Form von Unbestimmtheit voraus. Das aber bedeutet zugleich:

  • Damit etwas genau es selbst sein kann, darf es eigentlich nicht vergleichbar sein; also nicht unter einem gemeinsamen Nenner anderen Einzelwesen angeglichen werden. So erfasst man seine Individualität gerade nicht. Strikte Individualität beruht wesentlich auf seiner Ungleichheit mit anderen.
  • Es zeichnet nun aber die endlichen Dinge aus, dass sie sich stets zu anderen Dingen in Beziehung setzen lassen: Jedes Ding, jedes Ereignis in diesem Universum ist nicht nur unvergleichlich es selbst, sondern immer zugleich ein Fall von xy. Erst damit sind die Dinge in eine Ordnung zu bringen und werden verständlich.
  • Die Ordnung wird damit notwendig erkauft mit einer Ungenauigkeit, die die Dinge als Einzelwesen betrifft.
  • Der Verzicht auf Exaktheit im Individuellen ermöglicht die Exaktheit im Allgemeinen. Ungenau bleibt daher jede Bestimmung eines Einzelwesens als solchen, solange sie im Allgemeinen verbleibt, solange also ein Einzelding an anderen und mit anderen gemessen wird. Diese Ungenauigkeit ist dabei von zweierlei Art: Es werden nicht bloß die ganz individuellen Merkmale eines bestimmten Dinges marginalisiert, wenn man dieses Ding unter allgemeinen Aspekten bestimmt, welches es mit vielen anderen Dingen teilt. Es geht hier nicht bloß um eine Ungenauigkeit, die mit Allgemeinbestimmungen naturgemäß verbunden ist. Es handelt sich dabei nicht bloß um ein epistemologisches Problem, sondern auch die Dinge selbst sind ungenau.
  • Um genau es selbst sein zu können, müsste jedes einzelne Ding sein eigenes Maß an sich selbst sein, welches nur für dieses Ding gilt. Kein Ding ist aber allein auf der Welt. Es steht in mannigfachen, ja in unendlich vielen Bezügen in dieser Welt. Und diese Beziehungen sind alles andere als marginal für ein Einzelding als Einzelding, wie eben am Beispiel der Zahl Sieben als Bestandteil des Systems der natürlichen Zahlen gesehen.

am anderen Maß nehmen

Nun kann kein Ding sein eigener Maßstab sein. Es wäre ja sonst etwas ganz und gar unikes, absolut einzigartiges und mit nichts in ein Verhältnis zu bringendes. Gerade deshalb bleiben aber auch alle anderen Maßstäbe diesem Ding in gewissem Maße äußerlich. Es gibt also zum Beispiel keinen natürlichen Maßstab für die Zeit, den diese von sich selbst aus anbieten könnte und an dem sie dann gemessen werden könnte. Ebensowenig gibt es ein absolutes Maß für die Schwere von Gegenständen, das diese von sich aus anbieten und an dem sie gemessen werden könnten. Und so mag es zwar verschiedene, präzise, unendlich verfeinerte Verfahren für die Zeit- und Gewichtsmessung geben, doch selbst die aktuell präziseste Messtechnik kann nicht den Umstand umgehen, dass etwas an etwas anderem, an einer Maßeinheit, gemessen wird. Nirgendwo in dieser Welt findet sich indes ein zeitlicher oder örtlicher Nullpunkt, etwa eine genau zu lokalisierende Mitte des Universums oder ein genau datierbarer Weltanfang. Darin liegt also die Einschränkung, die contraction, oder, wenn sie so wollen, die innere Grenze, die der Unendlichkeit des Universums eignet. Es gibt kein absolutes Maximum, kein Ende des Universums, weil sich kein absoluter Anfangspunkt in ihm finden lässt. Alle Anfänge und Enden sind relativ, weil auf einander bezogen. Die Frage nach den letzten Anfangsgründen, zum Beispiel nach dem Anfang der Zeit, ist daher a limine keine Frage der proportionalen Verhältnismäßigkeit mehr. Sie ist nicht zu beantworten im Ausgang von einer noch so präzisen Maßeinheit. Das Universum als maximum contractum, ist demnach für Cusanus kein Weltbehälter oder Ähnliches sondern eher eine Struktur, die für alle Phänomene der Wirklichkeit gilt. Endlichkeit gibt es nur auf Grundlage der Unendlichkeit, und das heißt hier, unter der Bedingung systemischer Ungenauigkeit. Ungenauigkeit ist somit für Cusanus nicht einfach eine Mangelerscheinung oder ein Störfaktor auf dem Weg zur Genauigkeit in der Welterfassung. Diese Ungenauigkeit ist vielmehr von der Art, dass sie eine permanente Überbietbarkeit eines bestimmten status quo allererst erlaubt und möglich macht. Und so ist es dieser strukturellen Ungenauigkeit zu danken, dass Messungen nicht bloß auf alle möglichen Gegenstände ad infinitum ausgedehnt und riesige Datenmengen erhoben werden können, sondern dass auch diese Messungen aufeinander aufbauen und so immer präziser werden können.

Wissen basiert auf Fest-Stellung und Vergleich

Hier ist nun der Ort, wo der menschliche Geist ins Spiel kommt. Diese strukturell bedingte Ungenauigkeit, wonach die Dinge nie sie selbst sein können, sondern zugleich immer anhand ihrer überindividuellen also ihrer generischen und spezifischen Bestimmungen vergleichbar bleiben, zieht für Cusanus nun gerade keine Preisgabe aller Wissensansprüche nach sich. Das zentrale cusanische Konzept der Docta Ignorantia, der gelehrten Unwissenheit, meint daher auch nicht, dass sich unser Geist belehren lassen und eingestehen muss, dass wir letztlich nichts wissen können. Im Gegenteil: Die Docta Ignorantia bedeutet ein reflektiertes Bewusstsein über die Leistung unseres Geistes, also darüber, wie und warum etwas gewusst beziehungsweise nicht gewusst wird. Dieses titelgebende Konzept aus seinem ersten philosophischen Hauptwerk wird Cusanus in den nachfolgenden Schriften insbesondere in den Dialogen des Laien, also in den Idiota-Dialogen, weiter vertiefen und ausbauen.

In zunehmender Deutlichkeit tritt dabei das für unseren Geist wesentliche Merkmal hervor, dass er die Wahl hat, sich selbst zu überbieten, sich selbst zu überschreiten. Wie beim Universum so finden wir auch hier wieder das Moment der Unendlichkeit in dem Sinne, das unseren Geist keine Grenzen gesetzt sind. Er kann immer mehr erkennen, eben weil ihm keine Grenzen gesetzt sind, sodass er nicht bei einer bestimmten Erkenntnis stehenbleiben muss. Diese, unserem Geist inhärente Unendlichkeit oder Grenzenlosigkeit, das heißt die Kraft zur Selbstüberschreitung, ist eine notwendige Bedingung für den Erwerb von neuem Wissen. Wie aber wird nun neues Wissen konkret erworben? Für Cusanus kann es neues Wissen nur im Ausgang von bereits Gewusstem und im Rückbezug der neuen Erfahrung auf dieses Gewusste geben. Diese Inbezugsetzung hat den Charakter des Vergleichens. Die Vergleichung wiederum hat Aussicht auf Genauigkeit, von der ja der Gewissheitsgrad des erworbenen Wissens abhängt, wenn sich diese Vergleichung numerisch ausdrücken lässt, also als ein proportionales Verhältnis ausdrücken lässt. Damit hat Cusanus eine strukturelle Konstante alles Wissens namhaft gemacht. Jeder Wissensinhalt steht in einem proportionalem Verhältnis zu anderen Wissensinhalten. Und Proportionen mögen sich zwar genauer errechnen oder verfeinern lassen, doch sie lassen sich niemals proportionaler machen. Und so ist die Tätigkeit des Messens für den menschlichen Geist alles andere als nebensächlich. Es ist die Tätigkeit, mit der er der Welt begegnet. In Konsequenz davon reflektiert der cusanische Idiota nicht nur über unseren Geist, sondern tritt mit seiner Waage selbst messend in Aktion. Nicht wenige Interpreten haben in diesem Versuch de staticis experimentis ("Der Laie über Versuche mit der Waage") allerdings einen blinden Aktionismus gesehen, der über das Ziel hinausschießt, und alles und jedes einer Messung unterziehen möchte, ohne zu fragen, ob es überhaupt messbar ist, also zum Beispiel das Verhältnis von Lebendigem und Toten (Man misst den lebendigen Körper, und wenn er gestorben ist, wird er nochmal gemessen und die proportionale Differenz zeigt uns etwas über die Differenz von Lebendigem und Totem). Aber auch wenn dieser Furor des Messens zunächst sehr naiv vor-neuzeitlich aussieht, so hat er doch seinen guten Grund. In der Struktur des Universums findet sich kein einheitlicher und universeller Maßstab im Sinne eines Nullpunktes, auf den sich alle Gegenstände des Wissens beziehen lassen könnten. Das aber bedeutet: Den Vergleichsmöglichkeiten sind keine Grenzen gesetzt und zwar keine Grenzen für unseren Geist. Auch in dieser Hinsicht zeigt sich also die Unendlichkeit unseres Geistes, in seinen unbegrenzten Möglichkeiten, Einteilungen und Vergleichsparameter zu schaffen. Messen ist also keine Abbildung von naturhaft vorgegebenen Verhältnissen, sondern eine kreative, aktive Zuordnung der Dinge zueinander unter immer neuen Parametern.

Wo sind meine Grenzen?

Unser Geist setzt sich also in Bezug zu den Dingen, indem er diese untereinander in Beziehung bringt. Mit dieser unablässigen Verknüpfung und Vermessung der Dinge durch unseren Geist steigt zwar fortwährend die Transparenz, die Kehrseite davon aber ist, dass jede menschliche Erkenntnis niemals ihren vorbehaltlichen und mutmaßlichen, also ihren konjekturalen Charakter abschütteln kann. Es bleibt freilich die Frage, warum sich unser Geist das überhaupt antut? Die Welt möglichst umfassend und präzise zu vermessen, ohne dabei eine Aussicht auf ein Ende haben zu können. Cusanus wäre nicht Cusanus, wenn er nicht auch darauf eine Antwort hätte. Unser Geist sucht bei all seinen Messungen und Vermessungen sein eigenes Maß, das er auf diese Weise allerdings nicht finden kann. Maßlosigkeit ist demnach eine zweiseitige Angelegenheit. Bei all der unermesslichen Extension unseres Geistes findet er kein Maß, woran er selbst gemessen werden könnte. Nicht in sich, nicht im Universum. Unser Geist erfasst demnach sich selbst als unermesslich und zugleich als beschränkt, eben weil er sich selbst nicht ausmessen, seine Grenzen nicht exakt bestimmen kann. Und so ist der Geist der Ort, wo Gegensätze, der Gegensatz von beschränkt und unbeschränkt, von endlich und unendlich, koinzidieren. Wir haben es hier mit einer Form von Unendlichkeit zu tun, die mit ihrem Gegenteil koinzidiert. Dies hat zur Folge, dass die Einheit keine Präponderanz vor der Mannigfaltigkeit haben kann. Weder der menschliche Geist noch das Universum bilden ein abgeschlossenes und abschließbares Ganzes, in das eine Mannigfaltigkeit integriert wäre. Beidemal handelt es sich also nicht um eine Ganzheit im Sinne von Einheit in der Vielheit. Nimmt man den Koinzidenzgedanken ernst, dann sind Einheit und Vielheit hier vielmehr gleichwertige Momente, die ineinander verwoben sind.

Unendlich, das heißt bestimmt unbestimmt

Re­sü­mee: Das Endliche und das Unendliche sind für Cusanus alles andere als strikt voneinander abhebbare Bereiche. Sie greifen vielmehr von Vornherein untrennbar ineinander. Daher kann auch die Unermesslichkeit zum Signum aller Endlichkeit werden. Dies gilt sowohl für das Universum als für unseren, den menschlichen Geist.

  1. Wenn aber unser Geist das Universum und dessen Bestandteile als unermesslich begreift, dann begreift er ja immerhin etwas. Dies aber niemals ganz exakt. Insofern sind dem denkerischen Zugriff auf die Welt immer schon Grenzen gesetzt. Die Unermesslichkeit und die Ungenauigkeit sind zwei Seiten derselben Medaille. Das Infinitum versteht sich in diesem Sinne als Indefinitum, welches sich ins Unbestimmte, ins Grenzen - und Maßlose verläuft (Die Kenner unter Ihnen merken vielleicht, dass ich bei Ernst Cassirer geklaut habe: Vgl. Cassirer, Ernst (1927): Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Leipzig, Berlin. S.22).
  2. Diese Grenze des menschlichen Denkens, das heißt die Unermesslichkeit, gilt aber nicht bloß von den möglichen Gegenständen unseres Denkens, sondern auch von unserem Geist selbst. Unser Geist begreift auch sich selbst nicht exakt. Unser Geist hat einen Begriff davon, dass er selbst unermesslich ist, unendlich viele Parameter zur Erschließung der Welt entwickeln kann, und daher aufgrund dieser Unermesslichkeit nicht auf sich selbst gründet. Der Geist ist zwar das Maß für alle Dinge, aber nicht das Maß seiner selbst.
  3. Letzteres meint aber sogleich: Selbstverhältnisse sind keine proportional ausdrückbaren Verhältnisse. Damit wird unser Geist mit einer letzten Grenze konfrontiert: mit dem absolut Unendlichen. Erst dort haben wir es mit einem absoluten Verhältnis, also einem Selbstverhältnis zu tun, in dem die messende Instanz, das Gemessene, und der Maßstab koinzidieren. Cusanus begnügt sich also nicht mit dem resignativen Hinweis auf die Endlichkeit und Vorläufigkeit alles menschlichen Wissens, das vor der Erkenntnis des Unendlichen letztlich kapitulieren muss. Im Gegenteil: Eben weil in Cusanus Augen die Unendlichkeit selbst ein Konstituens der Endlichkeit, weil also das Unendliche nicht das schiere Gegenteil des Endlichen ist, kann die Unendlichkeit in ihren verschiedenen Spielarten allererst zum Gegenstand unserer begreifenden Bemühungen werden.