Benutzer:Andyk/Badiou/M1

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Meditation 1 - Das Eins und die Vielheit: apriorische Bedingungen jeder möglichen Ontologie

Der Name der Meditation umschreibt sehr gut den Fokus des ersten Kapitels: Es geht um das Verhältnis zwischen dem Eins (l'un) und der Vielheit (la multiplicité).

  • Es lässt sich bemerken, dass die französische Entsprechung von Einheit (l'unité) nicht verwendet wird. Üblicherweise ist in der Philosophie jedoch die Redewendung das Verhältnis von Einheit und Vielheit geläufig.
  • Beim Versuch, den Unterschied in der Redeweise zu verstehen, stößt man sehr bald auf eine der zentralen Thesen dieses Buches: Das Eins ist nicht.
  • Schon in den ersten beiden Absätzen der Meditation wird darauf hingewiesen, dass sich die bisherige, gegenteilige Annahme (das Eins ist) für die Themenstellung der Ontologie als ungangbar herausgestellt hat. Begeben Sie sich in die nun folgende Simulation. Sie trägt den Untertitel "Livelock", das ist eine Verklemmung von Prozessen, die das Abarbeiten der Aufgabe verhindert:
    • "Was nicht wahrhaft ein Sein ist, das ist auch nicht wahrhaft ein Sein" Leibniz.
    • Das Sein ist also Eines.
    • Jedoch: Was sich zeigt ist Vieles.
    • Wenn aber das Sein Eines ist, kann das, was sich zeigt, nicht Vieles sein.
    • Also: Was sich zeigt ist Eines.
    • Wenn das Gezeigte aber Vieles ist, kann es nicht Eines sein.
    • Das Eine ist das einzige, das wahrhaft ist.
    • Also: Da das Viele nicht Eines ist und da nur das Eine wahrhaft ist, ist das Viele wahrhaft nicht.
    • Da das Gezeigte Vieles ist, ist das Gezeigte wahrhaft nicht.
  • Wie aber kommen wir zu dem einen Sein, wenn es sich nicht zeigt? Mit diesem Geheimnis kämpft die Philosophie seit Parmenides, so Badiou. Im verlinkten Blog-Eintrag wird gezeigt, dass man den Gegensatz von Sein und nicht Sein bei genauer Lektüre von Parmenides nicht notwendigerweise findet. Sollte man hier weiterdenken wollen, müsste man Badiou weglegen und erst Parmenides lesen. Um bei Badiou zu bleiben kann man sich klarmachen, dass die oben simulierte Dialektik nicht von Badiou zum Zwecke der Abgrenzung erfunden wurde, sondern in der Auseinandersetzung mit Parmenides und Platon tatsächlich praktiziert wurde (Leibniz-Zitat) und in phiosophischen Lehrveranstaltungen dargestellt wird.

Warum also die Formulierung 'das Eins' und nicht 'die Einheit'? L'unité vs. la multiplicité wäre doch viel homogener? Man findet in der ersten Meditation keine explizite Antwort darauf, doch hätten Sie das in einem philosophischen Werk erwartet? Versuchen wir zunächst, die These "Das Eins ist nicht" genauer zu verstehen. Das Eins ist nicht (l'un n'est pas), und trotzdem - mit Verweis auf Lacan: Es gibt Eins (Il y a de l'Un):

"Alles entscheidet sich in der Beherrschung des Abstands zwischen der (zurückzuweisenden) Annahme eines Seins des Eins und der These von dessen "Es gibt". Was kann es geben, das nicht ist?" (Badiou)

Im Unterschied zum "Es gibt" im Deutschen ist das il y a (deutsch wörtlich: Es hat da) nicht ganz korrekt, weil hier mit y(deutsch: da) die Möglichkeit einer Lokalisierung im Gezeigten angedeutet wird. Das Eins ist aber kein Gezeigtes. Der Grund dafür: Das Eins ist eine Operation, keine Entität:

Es gibt nicht "das Eine" (l'Un), es gibt nur die Zählung-als-Eins.

Diese Formulierung ist leider etwas unglücklich, da der subtile Unterschied zwischen l'Un (das Eine) und l'un (das Eins) zu Verwirrung führt. Wir als Leserinnen sind daher ständig in der Versuchung, in l'Un/das Eins eine lokalisierbare Entität zu lesen und müssen uns ermahnen, das Eins als Operation zu deuten. Sehen wir uns die englische Übersetzung an:

There is no one, only the count-as-one.

Und Il y a de l'Un wird übersetzt mit:

There is Oneness.

Oneness ist aber die Übersetzung für Einheit, d.h. l'unité. Ohje, sind wir nun endgültig verloren? Oder ist die Wahl des Abstraktums (ob Eins,Eines oder Einheit) gar nicht so wichtig? Die Herausforderung, den Abstand zwischen 'Das Eins ist' und 'Es gibt Eins' zu beherrschen, stößt in den unterschiedlichen Sprachen und Übersetzungen auf Widerstände. Versuchen wir anhand einer Tabelle zu rekapitulieren (Mir steht die französische Version nur über die Suche von Google Books zur Verfügung, ich schließe sie sonst aus den Anmerkungen der Übersetzung der deutschen Ausgabe):

Französisch Deutsche Übersetzung (diaphanes-Verlag) Englische Übersetzung (continuum-Verlag) Kommentare
l'un n'est pas das Eins ist nicht the one is not
"Il y a de l'Un" bzw. "Y a d' l'Un" es gibt Eins there is Oneness Das ist die Stelle, an der Lacan zitiert wird, zumindest in der deutschen Ausgabe: Seminaire XXIV, Mai 1977, (Version rue CB), S.4) Die englische Übersetzung ist zwar für Badious Terminologie unglücklich, jedoch soweit ich sehe eine der Standardübersetzungen von Lacans Satz - neben "There is some One".
"il n'y a pas d'un, il n'y a que le compte-pour-un." es gibt nicht "das Eine" [l'Un], es gibt nur die Zählung-als-Eins. there is no one, only the count-as-one. Im französischen Original: l'un, in der Anmerkung des deutschen Übersetzers: l'Un. Hier scheint mir die deutsche Übersetzung Interpretation präziser als Badious Original und die englische näher am Original.
l'un das Eins -- zu finden in der deutschen Ausgabe in "Gloassar der wichtigsten Begriffe und ihrer französischen Entsprechungen"
l'Un das Eine -- zu finden in der deutschen Ausgabe in "Gloassar der wichtigsten Begriffe und ihrer französischen Entsprechungen"
l'unité --- --- Einheit/oneness kommt im Original nicht als terminus technicus vor

Das passiert in den ersten drei Absätzen der ersten Meditation. Sie werden bemerkt haben, dass noch offen ist, ob und wie Badious neue These "das Eins ist nicht", bei aller Widerspenstigkeit der Sprache, die oben simulierte Dialektik stört. Zunächst möchte ich aber die obige Begriffsverwirrung nicht stehen lassen und folgenden Kompromiss vorschlagen:

  • Was wäre mit dieser Formulierung? Das Eins ist keine Einheit.
  • Das Eins ist Operation, ist Zählung-als-Eins.
  • Das Ergebnis von Eins ist Einheit. Oder in der längeren, bevorzugten Formulierung: Das Ergebnis der Zählung-als-Eins ist Einheit.

Bitte beachten Sie, dass Einheit (l'unité) soweit ich sehe nicht in der Terminologie des Werks vorkommt (als Wort nur neunmal). Die Leserin ist eingeladen, bei der weiteren Lektüre die Haltbarkeit dieses Vorschlags zu prüfen. In jedem Fall werden wir weiter unten die Fruchtbarkeit dieser Formulierung bei der Überführung von inkonsistente Mannigfaltigkeit in konsistente Mannigfaltigkeit prüfen.

Lassen wir das Verhältnis von un (1), l'un, l'Un und l'unité für eine Weile stehen und treten ein Stück zurück: Was sind die Konsequenzen der These "das Eins ist nicht"? Eine davon ist, dass das Sein weder Eins noch Vielheit ist. Das erklärt sich folgendermaßen:

  • Was sich zeigt ist Vieles. Dieser Bestandteil von der obigen Dialektik hat sich nicht geändert.
  • Was mit der These zusammengebrochen ist, ist die Verbindung von Sein und Eins. (Obwohl die Frage nach dem Verhältnis zwischen 1 (un),Einem und Einheit bleibt).

Sie könnten fragen: Welche Bestimmung hält das Sein nun ab, im vielfältig Vorhandenen aufzugehen? Badiou fragt nicht auf diese Weise, denn Sein ist seit jeher das, was (sich) zeigt, präsentiert, vorstellt, darstellt - weshalb es sich nicht erschöpfend darstellen lässt. Warum eigentlich nicht? Das eingeklammerte 'sich' scheint mir aufschlussreich zu sein. Das Sein hat zwar die Fähigkeit, sich selbst zu präsentieren (so die Hoffnung), doch nicht notwendigerweise. Das Vorhandene enthält Darstellungen, die keinen eindeutigen Rückschluss auf das Sein zulassen. Es besteht - augrund der 'Mechanik' der Darstellung - die Möglichkeit, dass die Art wie sich etwas darstellt, das Dargestellte verzerrt. Es könnte also sein, dass das Sein uns nicht immer etwas über sich selbst erzählt. Wie kommen wir zu dieser Annahme? Nunja, beim Versuch diese Art von 'reverse engineering' tatsächlich durchzuführen, stoßen wir auf Widersprüchlichkeiten. Indem wir das vielfältig Vorhandene auflesen, aufsammeln und zu vereinheitlichen suchen, bemerken wir, dass es sich nicht ausgeht. Die Puzzleteile scheinen fallweise von verschiedenen Puzzles zu sein, fallweise nahtlos zusammenzupassen. Durch Badious These wird nun sogar die Annahme zurückgewiesen, dass das Sein die Eigenschaft hat, dass sich am Ende alles ausgehen muss. Das heißt die Überzeugung von Leibniz, dass nur ein Sein wahrhaft ein Sein sein kann, bricht zusammen. Völlig ratlos stehen wir nun vor der Frage nach dem Sinn von Sein (würde Heidegger sagen), oder zumindest haben wir keine Eigenschaft zur Verfügung, die wir dem Sein zuschreiben könnten. Wir halten nur daran fest, dass das Sein das ist was sich zeigt und dass es nicht nur Gezeigtes ist. (Zum Weiterdenken: Wenn Sein nicht mehr notwendig Eines ist, dann kann man sich die Frage stellen, ob die Unterscheidung zwischen Sein und Seiendem noch einen Sinn hat.)

Näher an Badiou's Worten ist folgende Zusammenfassung:

  • Das Sein selbst ist nicht Eins, denn das Eins (d.h. die Operation der Zählung-als-Eins) operiert nur auf Vorhandenem, auf Gezeigtem, auf einer Präsentation. (Die deutsche Ausgabe übersetzt (présentation) mit Präsentation, darüber kann man uneins sein.)
  • Das Sein selbst ist nicht Vielheit, denn sie ist eine Eigenschaft für das Reich des Vorhandenen, sie ist "das Regime der Präsentation".

Der Effekt von Badious neuer These ist also, dass sich der oben simulierte Livelock nicht mehr herleiten lässt:

  • Aufgrund der These ist es nicht der Fall, dass 'das Eine das einzige ist, das wahrhaft ist'.
  • Und daher können wir auch nicht schließen, dass 'das Gezeigte wahrhaft nicht' ist.

Das Spielfeld ist nun offen für eine neue Theorie im Rahmen der Ontologie, für die Badiou zunächst die Terminologie bestimmt: Situation, Zählung-als-Eins, inkonsistente Mannigfaltigkeit, konsistente Mannigfaltigkeit. Diesen Termen wollen wir uns im Folgenden widmen.

Warum sind Situationen axiomatisch?

Referenzen