Benutzer:Blade Runner/WS08-OSP-E07-21 11 08
Inhaltsverzeichnis
- 1 Open Source Philosophie - Einheit07: 21.11.2008
- 2 Organisatorisches
- 3 Ausblick: Wie gehts es in der Vorlesung weiter?
- 4 Über Wissen
- 5 Wissensextraktion und die Hybris des Sokrates
- 6 Zurück zu Open Source: Von Sokrates zu Stallman
- 7 Entwicklungsmodelle im Bereich der Free and Open Source Software
- 7.1 Was hat Emacs mit Kathedralen zu tun? (oder: Der hierarchische Entwicklungsstil)
- 7.2 Was tun Open-Source-Entwickler, wenn Uneinigkeit herrscht?
- 7.3 Wovon schreibt Raymond in seiner "Trilogy"?
- 7.4 Welche Tabus gibt es in der Open-Source-Szene?
- 7.5 Gibt es Kunsthandwerker unter den Open-Source-Programmierern? (oder: Donald Knuth's TeX)
- 7.6 Worin liegt nun der zentrale Unterschied zwischen Raymonds und Stallmans Ansichten?
- 7.7 Wie funktioniert verteilte Kooperation? (oder: Raymonds Fetchmail)
- 7.8 Wozu will Raymond die Benutzer in den Entwicklungsprozess einbinden? (oder: Kompatibilität und Debugging)
- 7.9 Und wie gehen kommerzielle Anbieter hier vor?
- 7.10 Woraus entstand die Produktivität laut Raymond?
- 7.11 Worin besteht der Kontrast zu Stallman? (oder: Why software should be free)
- 7.12 Wie sieht es mit der wirtschaftlichen Verwertbarkeit aus?
Open Source Philosophie - Einheit07: 21.11.2008
- Vortragender: Herbert Hrachovec
- Zur Stoffzusammenfassung: OSP praktisch
Organisatorisches
Zunächst eine Bemerkung zur Kooperation auf der technischen Ebene: Sie sehen hier im Philo-Wiki die Vorlesung vom letzten Mal von Dorothea zur Verfügung gestellt.
Wo finde ich die Diskussionen zu den Vorlesungsinhalten?
In der vergangenen Woche ist außerdem die Frage aufgetaucht, wo man in die Diskussionen zur Vorlesung einsteigen kann; Dazu drei Dinge:
- Einerseits gibt es zu jeder Wiki-Seite eine "Diskussion". Also wenn Sie bei den Präliminarien sind, haben Sie auch hier eine Diskussion. Sie können an jener Stelle jeweils die Diskussion zu den Inhalten der betreffenden Seite mitverfolgen.
- Außerdem haben Sie die Möglichkeit, auf "letzte Änderungen" zu gehen - die letzten Änderungen versetzen Sie in die Lage, alles nachzuvollziehen, was im Wiki passiert. Sie müssen also nicht alle Diskussionsseiten durchchecken, sondern können hier ablesen, was neu passiert ist.
- Zum Zeitpunkt der Frage ist die Diskussion etwas versandet und wieder aufgefrischt worden durch Beiträge von Andreas Kirchner, auf die ich jetzt auch gleich eingehen werde. Aber ich möchte nochmal darauf hinweisen, die Diskussion kann ganz eindeutig größere Diversität und ein größeres Engagement der KommilitonInnen vertragen, die sich das anhören. Mit den Worten von Andreas Kirchner: Es gibt natürlich den Modus des Absaugens, des Sitzens und Zuhörens. Sie haben ganz recht: In einer Vorlesung wird nicht mehr von Ihnen verlangt - aber Sie können mehr daraus machen. Ende der Werbedurchsage.
Ausblick: Wie gehts es in der Vorlesung weiter?
Es ist auf die Dauer etwas redundant und problematisch, schöne Perspektiven und ethische Forderungen zu formulieren. Belegt und bewiesen wird etwas dadurch, dass man es auch nachvollziehen kann und dass daraus etwas folgt. Zu diesem Zweck möchte ich Ihnen Reaktionen auf etwas vorstellen, was ich unter dem Titel Kooperationsmodelle vorgetragen habe.
Dabei habe ich Ihnen Himanen vorgestellt, wie er sich das mit der Net-Academy vorstellt und hier gibt es die ersten Diskussionsbeiträge dazu. In diesem Diskussionsbeitrag spricht Herr Kirchner einerseits von Themen, die ich natürlich im Hintergrund, aber noch nicht dargestellt habe, nämlich die bekannten Konsequenzen von Software, die kooperativ entwickelt worden ist und die wir zum Teil alle bedienen. Er fragt, ob in dieser Vorlesung davon noch die Rede sein wird und welche Aufgabe sich die Vorlesung im Hinblick auf die realisierte und von uns in Anspruch genommene Open Source Software stellt.
Diese Frage nehme ich zum Anlass, Ihnen kurz zu sagen, was ich noch plane; Sie können an dieser Stelle durchaus eingreifen und meinen Plan ändern. Ich bin gerade an jener Stelle, an der ich die grundlegende richtungsweisende Kontroverse zwischen Richard Stallman und Eric Raymond vorgetragen habe, die den Beginn der "Free und Open Software"-Debatte markiert und zentrale Themen erstmals anspricht.
- Ich werde in den weiteren Einheiten zeigen, was die ersten Vorkommen dieser Art von Software sind. Das ist in diesem Bereich eine vergleichsweise wunderschöne und leichte wissenschaftliche Recherche, weil es das Phänomen erst seit etwa 10 Jahren gibt und fast alles davon im Internet verfügbar ist. Sie können sich gar kein besseres Thema zur zugänglichen Recherche vorstellen, als etwas, das in 10 Jahren entstanden und massivst dokumentiert ist. Ich werde davon einiges vorstellen und mich dabei auf drei zentrale Themenfelder spezialisieren - und zwar im Besonderen auf die Frage, wie diese Entwicklungen einzuschätzen sind. Das wird nicht einfach Propaganda für Open Source sein, sondern der Versuch, auch mit kritischen Ansätzen umzugehen.
- Die Themenfelder sind:
- Ökonomie,
- das Themenfeld des Eigentums mit besonderer Berücksichtigung von Intellectual Property;
- Creative Innovation - Innovation und Kreativität als eine Kategorie, die sowohl im wirtschaftlichen als auch im philosophischen Umgang ihre Bedeutung hat.
Es haben sich in all den drei Fällen Probleme entwickelt, die zunächst nicht in der Philosophie entstanden sind, zu denen aber philosophische Beiträge interessant und wichtig sind.
Am Ende werde ich vor diesem Hintergrund - und das ist dann sozusagen die Endschleife - nochmal zu Sokrates und Platon zurückkehren. Im Speziellen wird es sich bei dieser Rückkehr um die Frage des gemeinschaftlichen Wissens und den Bedingungen drehen, unter denen dieses Wissen - in einer philosophischen Tradition - gefasst werden kann. Wissen soll demnach im Hinblick auf die Qualitäten, die gemeinschaftliche Tätigkeit und Entwicklung in sich haben, betrachtet werden. Dies wird am Ende dazu führen, dass eine enge Verbindung zwischen verschiedenen Phänomenen der Softwareentwicklung, der Organisation der Softwareentwicklung und der philosophischen Theorie dessen, was Wissen ist, erkennbar wird.
Über Wissen
Was ist "The Wisdom of the Masses"?
Eine nächste Reaktion auf einen Beitrag mache ich mir zunutze, um eine der Besonderheiten der Debatten, auf die wir später kommen werden, zu exemplifizieren. Ich werde beim Thema Kreativität auf ein Buch von Cass Sunstein zu sprechen kommen, einem US-amerikanischen Rechtsanwalt und informationstheoretisch informierten Autor, das vergangenes Jahr erschienen ist ( „Infotopia“ ). Er beschäftigt sich in diesem Buch mit einem Thema, das populär geworden ist durch Surowiecki „The wisdom of the masses“ (also die Weisheit der Menge), und das von der Sache her eine direkte Beziehung zu unserem Problem hat.
Die Themenstellung ist die Folgende: Man kann an bestimmten Phänomenen und in bestimmten Kontexten feststellen, dass eine große Anzahl von Menschen, die unter bestimmten Bedingungen Ziele des Wissens verfolgen, in einer überraschenden Genauigkeit Information und Wissen besser produzieren und prozessualisieren als Einzelpersonen, sogar besser noch als einzelne Experten. Dazu werde ich Ihnen Beispiele im Jänner präsentieren.
Wie lässt sich verteiltes Wissen extrahieren und nutzen?
Eine Frage, die ich jedoch aus Infotopia herausgreifen möchte, weil sie in dem Zusammenhang suggestiv zu sein scheint, ist: Unter welchen Umständen können wir das in der Bevölkerung verteilte Wissen optimal extrahieren und nutzen? Jeder von Ihnen trägt Informationen mit sich herum, die zum Teil mit Informationen von anderen übereinstimmen, die in einer anderen Weise aber nur für Sie zugänglich sind die nur Sie haben. Beispielsweise das Funktionieren einer bestimmten Software, die nur Sie ausprobiert haben. So etwas trägt jeder vielzahlig in sich.
Nun gibt es eine ganze Reihe von Möglichkeiten, das Wissen herauszuholen und zu explizieren. Fragebögen bei Meinungsumfragen sind ein deutliches Beispiel. Sunstein fragt nun: Was ist eigentlich die Rolle von Gruppen in der Aggregation solcher Informationen? Wie funktionieren Gruppen? Welche Gruppen funktionieren wie, damit ein Maximum an Informationen herausgebracht und für die Gruppe nutzbar gemacht werden kann? Im Hintergrund stellt er die Frage, ob die neuen Web-2.0-Technologien besser dazu geeignet sind, das Wissen zu mobilisieren und zu extrahieren, als andere Typen von sozialen Konglomerationen.
Wissensextraktion und die Hybris des Sokrates
Diese kleine Vorschau habe ich Ihnen deswegen gegeben, weil das Folgende ein Beispiel für eine solche Aggregation durch Kooperation ist: Sie erinnern sich, dass ich Ihnen das letzte Mal nebenher die Fußnoten zu Platon zur Verfügung gestellt habe. Ich habe noch dazugesagt: "Ich kann eigentlich nicht viel damit anfangen, da steht nichts Neues drinnen im Vergleich zu dem, was ich Ihnen gesagt habe. Sie können es aber noch einmal lesen, damit Sie zusätzliche Literaturhinweise haben." Das war für mich an dieser Stelle abgeschlossen. Interventionen auf der Wiki-Seite nehmen aber nun genau die Zitate aus Himanen im Zusammenhang mit Sokrates zum Anlass, die Rolle von Sokrates aufzurollen und zu sagen: "Was ist das eigentlich für eine sonderbare Position, die er da hat?", und beleuchten auf eine verschobene Art und Weise Probleme, die mir auch wichtig sind. Die Intervention ist an dieser Stelle gut plaziert, weil ich am Ende nochmal zu Sokrates zurückkommen möchte. Wir können also ein kleines Interludium mit diesem Thema gut vertragen:
Worin besteht der "Columbo-Effekt" bei Sokrates?
Sehr vorsichtig, aber ich glaube: präzise, kommt Herr Kirchner auf eine gewisse Hybris des Sokrates zu sprechen, die darin besteht, dass in dieser berühmt-berüchtigten Attitüde Sokrates anscheinend sagt: "Ich bin doch einer, der überhaupt nichts weiß. Wie kommt das Orakel zu Delphi dazu zu sagen, ich bin der Klügste, der Beste?" Das ist eine Form von Spannung, von eitler Bescheidenheit, die im Umgang mit anderen Menschen eine durchaus sonderbare Qualität impliziert.
- Sie impliziert nämlich die Qualität, auf der einen Seite zu sagen: "Also bitte erkläre mir worum es da geht, ich habe keine Ahnung." Ich hab das in einer früheren Lehrveranstaltung als den "Columbo-Effekt" bezeichnet. Sokrates ist an dieser Stelle ein klassischer Columbo. Er tritt quasi ahnungslos auf und sagt: "Was war denn das? Was ist denn das?"
- Auf der anderen Seite wird diese Ahnungslosigkeit als Attacke benutzt gegen die Schuldigen (bei Columbo) oder (bei Sokrates) gegen jene, die behaupten, sie wüssten etwas.
Diese Form nimmt Andreas Kirchner zum Anlass, um zu fagen: "Was passiert eigentlich, wenn Sokrates einen anderen Sokrates findet? Das wäre doch mal interessant." Eine Competition zwischen zwei Zauberern, wer dem anderen etwas entlockt, wer dem anderen diese Art von Gesprächskonstellation aufzwingt. Würde dabei etwas rauskommen können? Und wenn nichts rauskommen kann, dann ist es eine interessante Konsequenz für diese Art von Unternehmung.
Was ist die Besonderheit an der sokratischen Kommunikationsstrategie?
Diese obige Bemerkung möchte ich zum Anlass nehmen, Ihnen ein bisschen mehr zu sagen über die Sokrates-Strategie und die Frage, wie das mit dem Geschäft der Philosophie, mit Wissen und Wissenskooperation, zusammenhängt. Denn darauf werde ich im Laufe der VO noch zu sprechen kommen. Ich glaube, dass es an dieser Stelle hilfreich ist - und in Wirklichkeit geht es dabei um die Vorstellung der Philosophie, wie wir sie kennen - sich klar zu machen, dass es vielfältige, vielgestaltige Gesprächssituationen gibt. Menschen können auf die verschiedensten Arten miteinander reden, plaudern, schimpfen. Sie können phantasieren, kommandieren, was auch immer. Die Bedeutung von Sokrates lässt sich so fokussieren: Er hat eine ganz neue Art des miteinander Redens eingeführt, die an so etwas wie das Kreuzverhör anknüpft. Das hat als Genre die Besonderheit, dass es jemanden gibt - den gegnerischen Anwalt -, der die Äußerungen einer Person abklopft, abtastest und Widerspruche zu finden versucht. Er versucht mit gezielten Fragen, eine Recherche, eine Überprüfung von vorhandenen Behauptungen durchzuführen.
Man könnte auch sagen, dass nicht das Kreuzverhör, sondern so etwas wie das Gewerbeinspektorat eine Metapher für diese Art von Kommunikationsmodus ist: Jemand ist beauftragt, zu überprüfen, ob beispielsweise eine Halle eine bestimmte Menge von Schneemassen trägt. Diese Überprüfung muss kontrolliert, nachgerechnet werden. Das geht im Beispiel vom Gewerbeinspektorat in den juridischen Bereich hinein. Das sind Dinge, die allgemein von Interesse sind, weil Menschen zu leiden haben oder zu Tode kommen können, wenn das Gebäude einstürzt. Damit das nicht passiert, prüfen Fachleute die Schlüssigkeit oder Gültigkeit.
Dieses Beispiel mit dem Gewerbeinspektorat ist eine andere Variante von dem, was ich Ihnen bis jetzt fast jede Stunde vor Augen geführt habe: dass nämlich Sokrates die fachspezifischen Fertigkeiten in einem wohl entwickelten früh-abendländischen Gemeinwesen als Ausgangsbedingung hatte. Der darauf folgende sokratische Dreh besteht darin, den Gesprächstypus des Kreuzverhörs auszuweiten auf Fragen der politischen Öffentlichkeit. Statt der Frage: "Was ist ein guter Schuh?", die die Innung der Schuhmacher, also ein qualitätsgeprüftes Gremium, zu beantworten hat, stellt er die Frage: "Was ist Tapferkeit?" und organisiert sie nach demselben Muster. Nämlich: Wir haben Schuster zum Erzeugen von Schuhen auf der einen Seite und auf der anderen Seite Feldherren, die die Tapferkeit realisieren und ausnützen.
Wie schafft es Sokrates, neue Perspektiven aufzuwerfen?
Und nun können Sie verstehen, woher die radikale neue sokratische Frage herkommt: Sokrates bekommt vom Feldherrn auf die Frage nach der Tapferkeit zur Antwort: "Tapferkeit ist, nicht davonzulaufen und seinen Mann zu stehen". Sokrates antwortet darauf: "Na gut, das ist die brancheninterne Betrachtungsweise." Und jetzt kommt die Neuigkeit von Sokrates, die er in all seinen Fragen nach Tapferkeit, Frömmigkeit, Wahrheit etc. anwendet: "Tut mir leid, du hast mich nicht richtig verstanden. Du gibst mir da jetzt ein Beispiel, das bei euch im speziellen Fall gilt. Ich kann dir aber ein Gegenbeispiel sagen." Sokrates antwortet an einer Stelle ironisch, indem er sinngemäß sagt: "Mein Gott bist du großzügig. Ich habe dich nach einem Ding gefragt und du gibst mir gleich zwanzig. Zwanzig Beispiele. Ich wollte eigentlich nur wissen, was das ist und nicht diese verschiedenen Beispiele."
Sokrates stellt diese WAS-IST-Fragen im Bereich (AKA: Scope) einer Öffentlichkeit, die über (AKA: den Scope der) Fachmeinungen hinausgehen. Damit verblüfft Sokrates seine Gesprächspartner zunächst einmal; er lässt sie ratlos sein. Dadurch gelingt es ihm, deren Einzelmeinungen zu zerlegen.
Wir sind es heute in der Philosophie gewohnt, dass es legitim ist, Fragen zu stellen wie: "Was ist Wahrheit? Was ist Gerechtigkeit?" zu stellen. (AKA: In anderen Bereichen ist es heute jedoch auch verpönt). Wir brauchen uns nur in die Bibliothek zu setzen und finden jede Menge an Büchern oder Zeitschriften-Artikel zu diesem Thema, sodass es uns zunächst einmal nicht so auffällt, dass wir gar nicht wissen, WAS Warheit eigentlich ist. Das kann man genauso gut mit einem Achselzucken quittieren und sagen: "Ich weiß nicht, was du da sagst."
Gleichzeitig ist Philosophie jene Unternehmung, sich auf die sonderbare Frage unter diesen sonderbaren Umständen einzulassen und darauf eine Antwort zu versuchen. Diese Art von Frage ist eine Störung des Allgemeinverständnisses. Die Menschen wissen zunächst nicht, was sie darauf antworten sollen. Dieser Typus von Frage bringt also eine neue Perspektive auf alte Situationen.
Und was ist so störend daran?
Beispielsweise hat die erste Person, die gefragt hat: "Wie viele Frauen sitzen eigentlich im Parlament?", eine Frage gestellt, auf die so noch niemand gekommen ist. Man könnte prinzipiell fragen: "Was soll das denn jetzt? Im Parlament sitzt man, weil man gewählt ist und weil und man einer Partei zugehörig ist. Das betrifft mich nicht, ich kann nichts anfangen mit der Frage." Wenn die Frage zu greifen beginnt, dann dreht das die Betrachtung von einem solchen Phänomen wie dem Parlament, plötzlich taucht eine neue Perspektive auf.
Auf eine ähnliche Art wird durch die störenden Fragen: "Was ist Gerechtigkeit, was ist Frömmigkeit?" ein neues Feld aufgerissen. Aber das Aufreißen neuer Felder hat es an sich, dass sie noch nicht bearbeitet sind, dass sie unbekannt und riskant sind. Nicht umsonst werden die Fragen als Störungen betrachtet.
Diese Art von Störung ist also asozial. Sie ist in einem sozialen Kontext gegeben und knüpft an eine Gesprächssituation an, aber sie ist konstitutiv irritierend. Als eine solche irritierende Intervention ist sie nicht per se der Beginn eines Wissensprozesses. Es ist nicht Wissen, sondern es ist Störung; kurz gesagt.
Ihnen ist klar, dass Sokrates und diese Art von Fragen in weiterer Folge mit Platon und mit philosophischen Standardüberlegungen und Deduktionen zu tun haben, wie die Diskussion über Wissen, Ideen, Begriffe. Dies hat sich herausgebildet im Rahmen einer Akademie - einer Gruppe von Leuten, die sich auf die Störungspotentialität dieser Frage konzentriert haben. Die Leute aus der Akademie haben aus dieser Störung nach bestimmten Gesetzlichkeiten eine Lehre gemacht. Aus diesem unsozialen Anfangsimpuls heraus wurde eine Form von Wissen produziert.
Was hat das mit Eliten zu tun?
Sokrates muss an dieser Stelle in einer Weise elitär sein - wie jemand, der es wagt, eine Frage zu stellen, die die Befragten nicht verstehen und zu sagen: "Ich zeige euch trotzdem, dass sie gut ist." Das kann in dieser Weise beim Plaudern nicht passieren. Es gibt also in der philosophischen Konstitution eine Störungskapazität und damit verbunden ein erhöhtes Qualitätsbewusstsein und höhere Qualitätsansprüche der Leute an diese Frage.
Wie aus einer Wortmeldung einer der vorherigen Einheiten bereits bemerkt wurde: Die Philosophie ist an dieser Stelle als ständige Meta-Instanz angelegt - aber wie verhält sich dieses ständige "Meta", diese inhärente Hybris in der Philosophie zu dem anderen Moment, dem Moment der Kooperativität, das nur jenseits der Störung möglich ist? Wenn in einer Gruppe immer jemand dabei ist, der all die entstehenden Gemeinschaftlichkeiten mit gezielten Fragen wie: "Wisst ihr eigentlich, worüber ihr redet?" unterwandert, dann wird diese Gruppe zu keiner Produktivität kommen. Es gibt also gewisse Produktivitätskriterien (AKA: Spielregeln des Teams), aber wie stehen diese zu diesem Typus von Philosophie?
Zurück zu Open Source: Von Sokrates zu Stallman
Bei Stallman und Raymond gibt es - als etwas verschobenes gegenwärtiges Beispiel - auch diese Debatte über die erleuchtete Einzelposition und die Kommunikationsfunktion.
Wie passen Beweislast und Schriftkritik zusammen?
Frage aus dem Auditorium: Wie kann trotzdem Produktivität entstehen?
- "Könnte man nicht auch sagen, dass Sokrates diese Methode - immer nachzufragen was der andere macht - in seiner Schriftkritik ausgelebt hat? Durch dieses "Zurückgeben der Beweislast" entsteht ja quasi die Schriftkritik: Sobald ich etwas niedergeschrieben habe, kann ich mich nicht mehr dagegen verteidigen, was ein anderer damit macht. Solange ich selbst darüber sprechen kann, solange ich selbst immer wieder dem anderen die Beweislast zuschieben kann, bin ich im Gespräch und kann diese Methode verwenden. Würde das auf die Open-Source-Bewegung umgelegt nicht bedeuten, dass daraus zwar nie etwas wirklich Konkretes entsteht, aber dann - so wie bei Smith - seltsamerweise doch irgend etwas?"
Danke sehr für diese Bemerkung! Wenn also Gemeinschaftlichkeit darin lebt und entwickelt werden kann, dass zwei Personen im Einverständnis sich die Beweislast jeweils zuspielen - und zwar in einem symmetrischen Verhältnis. Ein Plaudern am Stammtisch ist nicht vergleichbar mit einer Arbeitsgruppensituation, in der Sie etwa Befehlsansprüche aneinander haben, in der Sie Ihre Behauptungen begründen können und damit eine Beweislast haben. Hier können Sie testen, ob diese Aussagen und Ansprüche belastbar sind und ob somit die Beweislast eingelöst werden kann. Wenn es so ist, haben wir eine kommunikative Situation, die man im Zusammenhang mit Open Source mit Programmfragmenten wie etwa Patches ausprobieren kann - ein Randphänomen. Wenn - wie es in der Philosophie entwickelt worden ist - sich Leute zusammensetzen und vernünftig miteinander sprechen, dann hätten wir schon eine Antwort auf die Frage, ob die Philosophie an dieser Stelle mit Fairness, Ausgeglichenheit und Kooperativität zusammengeht. Ich will darauf hinweisen, dass es in der von mir beschriebenen sokratischen Strategie ein disruptives Moment gibt: Sokrates plaudert nicht - obwohl es teilweise so dargestellt wird -, sondern Sokrates redet vernünftig mit den Leuten am Marktplatz, um mit ihnen ihre Begründungsansprüche zu testen.
Wo liegt in dieser Vorgehensweise die Asymmetrie?
Es gibt hier eine Asymmetrie: Sokrates sagt eben nicht: "Ich habe diese Auffassung und du hast jene - testen wir uns gegenseitig!" Sondern Sokrates sagt: "Ich weiß ja nichts; bei dir teste ich es aber." Somit ist seine Strategie, unschuldige Leute zu adressieren, die aus durchaus guten Gründen behaupten, sie wüssten etwas und könnten es zum Teil begründen.
In dieser Konstellation gibt es also kein Tauziehen zwischen unterschiedlich stark überzeugenden Begründungen, wie es in einem rationalen Diskurs der Fall wäre. Die Leute werden stattdessen mit einer Frage konfrontiert, auf die sie prinzipiell nichts sagen können, weil er sie auf eine Weise aufrollt, die jenseits ihres Kompetenzgebietes liegt. Dieser hybride Anspruch des Sokrates ist eine Kühnheit und ein Risiko, das dazu angelegt ist, eine Dimension zu erschließen, die über dieses geteilte demokratische Verfahren hinausgeht - darum habe ich Demokratiedilemma geschrieben.
Und welche Rolle spielt hier die Vernunft?
Diese Beschaffenheit der Philosophie im Umgang mit Wissen ist nun zu testen im Hinblick auf die Praxis der Open-Source-Bewegung. Die Theorie von Habermas funktioniert nur aufgrund einer voreingestellten Vernunft, auf die man sich berufen kann. Diese kantisch-hegelianisch-habermasianische Theorie eines Vernunftraums, in der diese Art von Gemeinschaftlichkeit vorgesehen ist, liegt in einem gewissen Sinne noch immer in der Kontinuität mit dem Vernunftbegriff, den Platon begonnen hat. Dieser läuft darauf hinaus, dass Leute - egal, ob sie Schuster, Schneider oder Bäcker sind - alle vernünftig miteinander reden können, da sie als Menschen vernunftbegabte Wesen sind. Das ist sozusagen die Vernunftvoraussetzung innerhalb einer geteilten Kooperationsumgebung.
Warum stellt Open Source die Philosophie in Frage?
Die Herausforderung der Open-Source-Bewegung ist, dass diese Idee des Vernunftraums die Produktivität des gemeinschaftlichen Austausches nicht über den sokratischen Bruch und damit sozusagen traumatisierend und Elite bildend laufen muss. Linus Torvalds, ist - dreist gesagt - kein Philosoph, aber er hat sich zusammengetan mit einer großen Anzahl von Leuten und über das entsprechende Entwicklungsmodell etwas qualitativ Neues erschaffen - und zwar ohne diese elitäre Fragestellung. Wir sehen also in der Open-Source-Bewegung Anzeichen davon, dass Kooperativität ohne Prinzipienbruch - ohne die ontologische und metaphysische Frage - zu Resultaten führen kann, die hohe qualitative Eigenbestimmung und kognitive Wertigkeit haben. Und damit steht die Attraktivität der Philosophie als eine ereignisorientierte Wissenschaft in Frage.
Entwicklungsmodelle im Bereich der Free and Open Source Software
Was hat Emacs mit Kathedralen zu tun? (oder: Der hierarchische Entwicklungsstil)
Ich habe letztes Mal das berühmte Papier von Eric Raymond mit dem Titel „Die Kathedrale und der Bazar“ erwähnt, das im Titel eine Andeutung und Auseinandersetzung mit der Vorgabe von Richard Stallman gewesen ist. Was Stallman geleistet hat:
- 1985 - Gründung der Free Software Foundation;
- die GNU License und die
- GPL - General Public Licence;
- Produktion des GNU-C-Compilers (GCC);
- Produktion eines berühmten programmierbaren Texteditors, der in der Zeit 80er- und 90er- Jahre im Unix-Bereich maßgebend gewesen ist - Emacs.
In der Windows-Welt ist dieser nicht populär geworden, aber in der Unix-Welt hat er eine große Wichtigkeit gehabt: Ein unglaublich leistungsfähiger Editor, der alles kann was man wünscht: Er enthielt Module zum Webbrowsen, zum Mailversand, eine Versionsverwaltung oder etwa zusätzliche Module für alle möglichen Programmentwicklungen - also ein zentraler Instrumenten- Baustein in der freien Entwicklung von Software. Emacs ist an dieser Stelle aber ein gutes Beispiel für einen einigermaßen hierarchisch strukturierten Entwicklungsstil.
Was tun Open-Source-Entwickler, wenn Uneinigkeit herrscht?
Es kommt selten zu großflächigen und lautstarken Konflikten in der Free-Software-Bewegung, aber bei Emacs ist es passiert: Die Entwickler haben sich in zwei verschiedene Richtungen gespalten - eine sogenannte Fork. Diese Fork im Entwicklungsprozess ist darauf zurückzuführen, dass Stallmann über die weitere Entwicklungsrichtung bestimmte Vorstellungen gehabt hat, die andere Leute nicht akzeptiert haben. Die Schönheit der GNU Software Foundation ist an dieser Stelle auch sichtbar - das ist ein empirisch und theoretisch signifikanter Punkt: Deren Freiheit besteht darin, dass jede Person zu jedem möglichen Zeitpunkt sagen kann: "Hier mache ich nicht mehr mit in der Gruppe - ich nehme das, was bisher gemacht worden ist; Ich habe Zugang zum gesamten Quellcode und ich entwickle das in eine andere Richtung!"
Wovon schreibt Raymond in seiner "Trilogy"?
Es gibt drei einigermaßen wegweisende Artikel von Eric Raymond:
Welche Tabus gibt es in der Open-Source-Szene?
In "Homesteading the Noosphere" ("homesteading" bedeutet hier so viel wie "kolonialisieren") weist Raymond auf etwas hin, das mir sehr instruktiv zu sein scheint und das es in jeder ethnologisch beschreibbaren Gruppe gibt: Zentrale Tabus, also Aktionen, durch die man sich eigentlich disqualifiziert. Diese Tabus sagen natürlich etwas über die Bedingungen in der jeweiligen Gemeinschaft aus.
Eine Fork zählt jedoch nicht ganz zu diesen Tabus - bei Raymond geht es hier eher um Eigentumstabus. Es gibt eine interessante Beobachtung: Durch die offizielle Ideologie der GNU Public License, nach der immer der gesamte Quellcode zur Verfügung steht, wären eigentlich viele Verzweigungen bei der Softwareentwicklung möglich. Nun ist es aber so, dass das Unternehmen einer Abspaltung ausgesprochen selten, begründungs- und entschuldigungsbedürftig ist. Im speziellen Fall von Emacs ist es aufgrund des "Kathedralen-Entwicklungsstils" zu einer Abspaltung gekommen. Es lag eine durchaus bekannte Situation vor, bei der ausgesprochen gute Leute Bewundernswertes leisteten, und sich gerade deshalb nicht zurückpfeifen lassen wollten. Wir sprechen hier also von "Autorität durch Kompetenz" und damit letztendlich von der Extraktion von Wissen.
Gibt es Kunsthandwerker unter den Open-Source-Programmierern? (oder: Donald Knuth's TeX)
Nach "Infotopia" gibt es eine große Zahl an Softwareentwicklern, deren Potenzial sich ausnützen und organisieren lässt. Beispielsweise könnte ein hochkompetenter Informatiker kommen und etwas entwickeln - so wie im Falle von TeX. Knuth, der als IT-Guru gilt, hat - parallel zu herkömmlichen Textverarbeitungsprogrammen - ein Schriftsatzprogramm entwickelt, das höchsten Ansprüchen an Qualität und Internationalisierung gehorcht: TeX, das er über Jahrzehnte hinweg mehr oder weniger alleine geschrieben hat. Spaßeshalber hat er einen Preis ausgeschrieben für jene, die einen Bug darin finden - und je länger das dauert, umso mehr zahlt er dafür, dass jemand einen Fehler darin findet. Das ist ein klassisch homogenes, eigenverantwortliches, großes Kunstprojekt.
Worin liegt nun der zentrale Unterschied zwischen Raymonds und Stallmans Ansichten?
Kathedralen sind organisiert von Bauhütten, aber man braucht einen Dombaumeister, also einen oder mehrere Personen, die das organisieren. Eric Raymond hat 1997 einen Vortrag geschrieben und veröffentlicht (Ausschnitt aus "Rebel Code"), in dem er das, was nach 6 Jahren Linux-Entwicklung entstanden ist, programmatisch und systematisch dem hochmotivierten und hauptsächlich durch ethische Postulate gestützten Entwicklungsstil von Stallmann gegenübergestellt hat.
Um das in Zusammenhang mit Beweislast und Begründung zu bringen: Stallmann ist davon überzeugt, dass die Free Software Foundation der richtige Verlauf der Softwareentwicklung ist, weil wir davon ausgehen müssen, dass SoftwareentwicklerInnen nach ethischen Prinzipien funktionieren - denn alles andere wäre unmoralisch. Letztlich ist die Idee von Stallman: Es ist unmoralisch, mit Software anders umzugehen, als sie frei zur Entwicklung nach der GPL zur Verfügung zu stellen. Vor diesem stark ethischen Begründungsmoment tritt nun Raymond auf und macht etwas, das Linus Torvalds niemals machen würde. Und zwar ein konzeptuelles Gegenbild, das nicht auf Ethik oder Wissensaggregation durch Kompetente zurückgreift. Als expositorische Kunstfigur, die seine Prinzipien demonstrieren soll, verwendet Raymond ein selbst geschriebenes Programm namens Fetchmail.
Wie funktioniert verteilte Kooperation? (oder: Raymonds Fetchmail)
Fetchmail ist ein vergleichbar bescheidenes Programm und kann von der Komplexität her nicht mit dem C Compiler verglichen werden. Aber Raymonds Story dient dazu, einen anderen Entwicklungsstil zu produzieren. Er will zeigen, dass die gemeinschaftliche Produktion von Wissen nicht über den ethischen Impuls und nicht über den Qualitätsbruch zu erzeugen genötigt ist, sondern dass es mithilfe von Internettechnologien möglich ist, qualitativ hochwertigste Wissensentwicklung zu produzieren - und das verteilt auf die ganze Welt. Das ist auch die Weise, wie Linux produziert worden ist.
In den 80er- und 90er-Jahren, als das World Wide Web noch nicht in jedem Haushalt verfügbar war, gab es oft folgende Konstellation: Einerseits ein großes, von der Firma oder der Uni betriebenes, sehr teures Rechenzentrum, das 24 Stunden lief und wo die Mails jeweils hingeschickt wurden - diese Rechner fungierten also als Mailhubs. Und zu Hause gab es dann eine Dial-Up-Verbindung mit Modem - mit dieser Verbindung konnte man sich beim Rechenzentrum anmelden, um dort Befehle durchzuführen oder Files zu herunterzuladen, wie etwa über Telnet.
Man will sich nun aber nicht nur die Mail kopieren und am großen Rechner liegen lassen, sondern man will sie sich nach Hause holen. Und die Frage ist nun: Wie automatisiert man in einer Unix-Umgebung diesen Prozess - die Mail von dieser Adresse zu holen und sie dann auch gleichzeitig so umzuschreiben, dass man darauf antworten kann, obwohl man nicht zu Hause dieselbe Adresse hat wie die Großrechenanlage? Raymond erzählt mit Fetchmail eben von einem Gegenbeispiel dazu, dass jemand - so wie Knuth - dasitzt, eine Idee hat und das skizziert, sich Hilfe nimmt und dann mit dem Resultat zu einem zufriedenstellenden Ende kommt. Hier kommt der Handwerksaspekt - im Gegensatz zum Kunstaspekt - ins Spiel, wenn Raymond sagt: "Was gibt es denn schon? Welche Ansätze?" Er beginnt mit dem Wunsch, dann kommt die Recherche um herauszufinden, welche Software es gibt, an der er weiter arbeiten kann.
Die wesentlichen Faktoren in diesem Modell sind also
- die freie Verfügbarkeit von Quellcode;
- der Wunsch, etwas zu machen;
- die Möglichkeit, eine Internetrecherche zu starten.
Es sind zunächst offensichtlich Infrastrukturfaktoren, die zum Beispiel das Internet betreffen.
Wozu will Raymond die Benutzer in den Entwicklungsprozess einbinden? (oder: Kompatibilität und Debugging)
Raymond verwendet hier den Pool der bereits vorhandenen Software. In diesem Handwerksgebiet liegt es in der Natur der Sache, dass man alles Mögliche Versucht und dabei auch Fehler macht. Ein wichtiger Zusammenhang in dem Fall ist jener, dass die Vielfalt der Hard- und Softwareumgebungen, die man in diesem zusammenhang braucht, von einer einzelnen Person umöglich zu durchschauen ist. Man hat beispielsweise eine bestimmte Version von Unix auf einem Rechner und wenn man sich nun einen neuen Rechner oder neues Zubehör anschafft, dann ist nicht ganz gesichert, dass das Programm unter diesen Bedingungen noch immer laufen wird.
Ich erinnere hier an die Erfahrung mit WebCT Vista: Man kann es einrichten, aber wenn man ein Java Update macht, dann kann es passieren, dass Sie nicht mehr ins WebCT Vista einsteigen können. Das ist der Punkt, wo die Verteilung der Benutzer, die Community eine Rolle spielt. Dadurch, dass jemand anderer an einem anderen Computer sitzt, kann dieser schon einen gewissen Beitrag leisten, indem er darauf aufmerksam macht, dass etwas nicht funktioniert. Wie im Schulalltag, wo jeder aus seiner Nationalküche etwas mitnehmen soll. Es besitzt also jeder etwas, das er dazu beitragen kann, was auf eine ganz banale organisationstechnische Art umzusetzen ist. Die Empfehlung von Raymond ist:
- „treating your users as co-developers is your least-hassle route to rapid code improvement and effective debugging“
Anstatt schöner ethischer Prinzipien gibt es hier Kategorien wie ein System zur raschen Codeentwicklung und effektives Debugging. Wenn man will, dass ein Programm auf einer möglichst großen Anzahl von Maschinen läuft, braucht man die Benutzer als Co-Developers, um das Entwicklungsziel zu erreichen. Das ist auch in unserem Wiki so, wenn jemand zum Beispiel danach fragt, wo die Diskussionsseite ist. Indem Ihnen geholfen wird, wird auch anderen geholfen. Das Philo-Wiki ist ein Medium, um Wissen mitzuteilen.
Und wie gehen kommerzielle Anbieter hier vor?
Im kommerziellen Softwareentwicklungsbereich, wie zum Beispiel bei Microsoft, ist dieses Problem auch bekannt: Dort gibt es Beta-Tester, die billig oder gratis auf eine gewisse Zeit die Vorversion des kommerziellen Programms bekommen. Über diese sinnvoll zusammengestellten Testgruppen kann man Korrekturvorgänge in das zu verkaufende Produkt mit einbeziehen.
Woraus entstand die Produktivität laut Raymond?
Raymond weist an dieser Stelle auf eine Besonderheit im Falle der Open Source Software hin, nämlich dass hier die Möglichkeit besteht, an etwas mitzuarbeiten, das ständig zur Verfügung steht und das - wenn genügend Leute mitarbeiten - auch ständig besser wird; und aus dem sich die Mitarbeiter nehmen können, was sie brauchen. Diese Offenheit der Ressourcen war mit ein Grund dafür, dass in diesem Entwicklungsmodell Produktivität entstanden ist.
Raymonds Endbeschreibung
- „The history of Unix should have prepared us for what we're learning from Linux (and what I've verified experimentally on a smaller scale by deliberately copying Linus's methods). That is, while coding remains an essentially solitary activity, the really great hacks come from harnessing the attention and brainpower of entire communities.
- The developer who uses only his or her own brain in a closed project is going to fall behind the developer who knows how to create an open, evolutionary context in which feedback exploring the design space, code contributions, bug-spotting, and other improvements come from from hundreds (perhaps thousands) of people.
- But the traditional Unix world was prevented from pushing this approach to the ultimate by several factors. One was the legal constraints of various licenses, trade secrets, and commercial interests. Another (in hindsight) was that the Internet wasn't yet good enough.
- Linux was the first project for which a conscious and successful effort to use the entire world as its talent pool was made. I don't think it's a coincidence that the gestation period of Linux coincided with the birth of the World Wide Web, and that Linux left its infancy during the same period in 1993–1994 that saw the takeoff of the ISP industry and the explosion of mainstream interest in the Internet. Linus was the first person who learned how to play by the new rules that pervasive Internet access made possible.
- Another vital factor was the development of a leadership style and set of cooperative customs that could allow developers to attract co-developers and get maximum leverage out of the medium.”
Worin besteht der Kontrast zu Stallman? (oder: Why software should be free)
Stallmann bildet den Kontrast und hat eine Argumentationsweise die viel massiver philosophisch argumentiert und nicht den Pragmatismus von Raymond enthält. Er stellt das in einer erhabenen philosophischen Perspektive dar: Wir haben ein Phänomen und das ist Softwareentwicklung. Diese erzeugt eine neue Form von Produkt - und wir müssen uns fragen: "Soll diese Art von Produkt unter das Regime des Eigentums fallen oder nicht? Unter welchen Umständen könnte es berechtigt unter die Ordnung des Eigentums fallen? Unter welchen Umständen müssen wir sagen, dass es nicht darunter fallen soll?"
Die Argumentation von Stallman fragt nicht nach dem kommerziellen Interesse, sondern nach der sozialen Nützlichkeit. Also danach, was der Gemeinschaft am meisten nützt. Es ist demonstrativ, nachzuweisen, dass bestimmte Eigenschaften einer kommerziell gestützten Software schaden.
Wenn man Software kostenpflichtig macht, ...
- ... steht sie nicht allen Menschen zur Verfügung;
- ... man beraubt Menschen der Möglichkeit, sie zu verwenden;
- ... sie kann nicht weiterentwickelt werden.
- ... die Kreativität ist eingeschränkt.
Insgesamt ist der Nachteil durch die Behinderung der Gleichberechtigung und Kreativität größer als der Nutzen, der dadurch geschieht, dass man selber damit etwas machen kann; Deswegen ist es die Pflicht eines ethisch orientierten Softwareentwicklers, die Option zu verwerfen, dass es Eigentum an Software geben soll, und die Software in die GNU Public Licence zu entlassen. Man hat infolgedessen keine andere Möglichkeit, als in Richtung der Free Software zu gehen.
Raymond hingegen beschreibt die Entstehung einer Kooperation ohne Ethik, die aber mit großem Erfolg die Features von Ethik und auch Features von Eigentumslosigkeit hervorbringt. Diese sind aber nicht geleitet von der Art von Prinzipienüberlegung, die Stallman vornimmt, und somit eine weniger prinzipienorientierte Form. Linus Torvalds hat sich im Moment der Entwicklungsentscheidung von Linux auf die GPL gestützt. Dahinter steckte Stallmans Idee.
Wie sieht es mit der wirtschaftlichen Verwertbarkeit aus?
Raymond weist darauf hin, dass die klare Grenze zwischen Eigentum und Nicht-Eigentum zumindest problematisch erscheint. Die Idee der Open-Source-Bewegung gegen die Free Software Foundation ist nun, modulierte Verhältnisse zu propagieren, und mit allen möglichen Lösungen inklusive neuen Geschäftsmodellen zu operieren. Es gibt also statt dieser "schönen Dichotomie" neue Formen, innerhalb des Kapitalismus einen Profit zu machen, und zwar mit Hilfe der in der GNU Bewegung entstandenen sozialen Organisationsformen.
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