Aus E. Tugendhat: "Das Sein und das Nichts"

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Exzerpt aus: Ernst Tugendhat Philosophische Aufsätze. Frankfurt 1992 (stw 1017). S. 44-50

Platon hat, bevor er die parmenideische Position widerlegte, ihre Überzeugungskraft durch folgende Argumentation verständlich zu machen versucht (Soph. 237c-e, Theait. 188e-189a): Wer denkt, denkt etwas (ti) und d.h. ein Seiendes (on); daraus folgt: wer nicht ein Seiendes denkt, denkt nicht etwas, und wer nicht etwas denkt, denkt nichts, denkt überhaupt nicht. In neuerem Jargon: aus der »Intentionalität« des Denkens folgt, daß alles Denken auf etwas und das heißt auf Seiendes bezogen ist. Nichtseiendes läßt sich nicht denken.

Ich sehe keinen Grund, warum man bezweifeln sollte, daß genau diese Überlegung, die Platon Parmenides unterstellt hat, für Parmenides selbst maßgebend war, und alles weitere wird diese Annahme stützen.

Zunächst: zu der vorgeschlagenen Interpretation paßt jetzt das Fr. 3 : "to gar auto noein estin te kai einai", ganz genau, wenn man es, wie üblich, unmittelbar an Fr. 2 anschließen läßt und wenn man es in der Zeller-Burnetschen Version übersetzt: »Denn dasselbe kann gedacht werden und sein.« In diesem Satz würde dann lediglich das positiv gesagt, was in 2.7 negativ formuliert ist: man kann nur Seiendes denken. Auch das "gar" in diesem Satz würde genau passen, denn, wie die von Platon vorgeführte Argumentation zeigt, gründet die Evidenz des negativen Satzes (>Nichtseiendes läßt sich nicht denken<) in der des positiven (>Denken heißt: Seiendes denken<). Doch ich sage das alles nur im Konjunktiv, um an dem Vorsatz festzuhalten, Sätze, deren Konstruktion umstritten ist, keine entscheidende Beweislast tragen zu lassen. Da Fr.3 in dieser Konstruktion nur die positive Umkehr von 2.7 ist, ist es notfalls auch entbehrlich.

Was folgt nun aus diesem Satz des Parmenides für den Sinn von Sein? Man kann diese Frage auch so stellen: welche Auffassung von Denken (Sagen) liegt dem Satz zugrunde, und welche Auffassung von Sein folgt aus einer solchen Auffassung von Denken?

Es erscheint sinnvoll, hier noch einmal auf Platon vorzugreifen. An der zitierten Stelle im Theaitet exemplifiziert er den gemeinten Zusammenhang zwischen Vorstellen und Seiendem zunächst am Sehen, Hören und Tasten. Das geschieht deswegen, weil das Gemeinte beim sinnlichen Wahrnehmen deutlicher zu fassen ist, ja wie sich zeigen wird, in Wirklichkeit nur für das Wahrnehmen zutrifft: Wenn man hört, hört man etwas (also ein Seiendes); hört man (nicht ein Seiendes, hört man) nicht etwas, hört man also nichts, also hört man gar nicht. Beim Wahrnehmen gibt es wirklich nur die beiden Möglichkeiten, entweder etwas wahrzunehmen oder gar nicht wahrzunehmen. Aber die hier geltenden Verhältnisse – das will Platon zu verstehen geben – sind eben zu Unrecht auf dasjenige Vorstellen übertragen worden, das als Sagen (legein, Theait. 19oa, Soph. 237d) die komplexere Struktur hat, etwas als etwas zu meinen (Theait. 189d-19oa, Soph. 262d). Zu Unrecht, weil diese eigentümliche Struktur es mit sich bringt, daß die Negation hier nicht nur, wie beim Wahrnehmen, das Vorstellen selbst betreffen kann (er meint etwas, er meint nicht etwas), sondern auch in das, was vorgestellt wird, eingehen kann (er meint, daß ... nicht ...). Die parmenideische Arguemtation erweist sich beim legein als falsch: neben der Möglichkeit, nicht etwas zu denken, gibt es auch die Möglichkeit zu denken, daß etwas nicht ist, "ou phaskein" (Theit. 190a) heißt (wie unser "nicht glauben") nicht "nicht sagen", sondern "sagen, daß nicht", "bestreiten".

Aber wenn das parmenideische Argument sich beim legein als falsch erweist, erweist es sich als falsch schlechthin: Parmenides hat nicht umsonst das, was er mit "noein" gemeint hat, immer wieder als "legein", "phanai" und "phrasai" expliziert (2.8, 6.1; 8.8): Nichtsein können wir nur im Sagen meinen, und d.h. freilich: auch Sein können wir nur im Sagen (in Sätzen) meinen. Daß Parmenides erstmalig aufs Nichtsein und infolgedessen auch aufs Sein aufmerksam geworden ist, bedeutet, daß er erstmalig aufs Sagen reflektiert hat. Und nun ist es nicht verwunderlich, daß diese erstmalige Reflexion aufs Sagen dessen Struktur verfehlt und es nach dem Modell eines sinnlichen Vorstellens versteht. Die Verwendung des Wortes "noein" mag dafür charakteristisch sein. Wichtiger als manches, was über die Bedeutung dieses Wortes gesagt worden ist, ist für unseren Zusammenhang die Art, wie es grammatisch konstruiert wird, nämlich mit einem einfachen Akkusativobjekt, und d. h.: es steht fur ein einfaches Vorstellen (oder Bemerken oder Erfassen) im Unterschied zum legein, das einen Nominalsatz als gramatisches Objekt nehmen kann. In das Objekt des noein kann also in der Tat kein »ist nicht«, aber von Rechts wegen auch kein »ist« eingehen. Es ist diese widersprüchliche Verbindung von legein und noein, die für den parmenideischen Begriff des Denkens charakteristisch ist: von seinem Gegenstand her (»... ist ...«) wird das Denken legein genannt, von seiner Struktur her (schlichtes Vorsichhaben) noeine, aber der Gegenstand widerspricht dieser Struktur. Platon und Aristoteles haben dann das legein vom noein unterschieden, jedoch hielten auch sie – jetzt neben dem legein – an der Idee eines nichtsinnlichen noein von Seiendem (!) fest, als ob man sich in einem schlichten Schauen, ohne »ist« zu sagen, auf »Seiendes« beziehen könnte. So blieb die nach der Analogie des sinnlichen Wahrnehmens konzipierte Idee eines »intellektuellen Schauens« in den Begriffen nous, intuitus, Anschauung erhalten. In diesem terminologischen Sinn mag es erlaubt sein, auch schon von Parmenides zu sagen, daß er das Denken des Seienden als ein Schauen interpretiert hat.

Es ist dieser in sich widersprüchliche Begriff des Denkens als schauendes Sagen oder sagendes Schauen, der bestimmend geworden ist für den besonderen Sinn von »Sein« bei Parmenides. Das Denken hat »das Seiende« vor sich wie das sinnliche Wahrnehmen seinen Inhalt. Da die komplexe Struktur des »etwas als etwas« zu einem schlichten »etwas« komprimiert wird, kann vom »etwas« deswegen nicht mehr gesagt werden, daß es »nicht ist«, weil das »ist« mit dem »etwas« quasi eins geworden ist (das »Sein« wird, wie Heidegger sagt, mit dem »Seienden« »verwechselt«). Und das ist auch der Grund der für Parmenides so charakteristischen Vorstellung, daß das Seiende gar nichts anderes ist als eben Seiendes: wie der Ton der qualitative Inhalt des Hörens ist, so ist das Existierende (oder die Existenz) der qualitative Inhalt des Denkens.

Schließlich findet die vorgeschlagene Interpretation noch eine bedeutsame Bestätigung an (2b), dem Beweis der Homogenität des Seienden. Der Nachweis, daß das eine Seiende keine Vielheit in sich schließt, wird von Parmenides zweimal geführt: 8.22-25 und 8.44-48. An beiden Stellen ist das entscheidende Argument für die Ungegliedertheit des Seienden, daß es nicht »da oder da« schwächer oder stärker »sein« könne (23 f., 44 f., 48); nur an der zweiten Stelle setzt Parmenides noch ein zweites Argument hinzu (46 f.): »und es gibt auch kein Nichtseiendes, das es verhindern würde, zur Einheit zu kommen«. Dieses zweite Argument bietet keine Verständnisschwierigkeit, hingegen kenne ich keine Interpretation, die das an beiden Stellen vorgebrachte Argument, an dem sich also Parmenides vor allem orientiert hat, befriedigend erklärt. Weder das existentielle noch das prädikative Sein, vom veritativen ganz zu schweigen, kann die Rede von Seinsgraden, von einem schwächeren und stärkeren Sein, verständlich machen. Freilich, die Vorstellung, es könne verschiedene Grade des Seins geben, wird von Parmenides gerade widerlegt. Aber was man widerlegt, muß man doch verstehen können.

Und man versteht es auch ohne weiteres, wenn man auf die oben vorgeschlagene Interpretation von (1b) zurückgreift und berücksichtigt, daß für Parmenides das Denken das Seiende vor sich hat wie das Hören einen Ton oder das Sehen eine Farbe. Diese Analogie legt die Frage nahe, ob das Seiende nicht ebenso an einer Stelle stärker, an einer anderen schwächer sein kann wie eine sinnliche Qualität. Und diese Frage wird von Parmenides negativ beantwortet, nicht etwa, weil sie beim Sein aus kategorialen Gründen nicht gestellt werden dürfte, sondern weil die besondere Qualität des Seins durch ihre Entgegensetzung zum Nichtsein eine Minderung und Steigerung ausschließt. Das Sein ist nicht ohne Intensität, sondern seine Intensität ist eine überall gleichmäßige.

Auf die Frage, was denn nun also Parmenides genau mit »Sein« gemeint hat, läßt sich keine klar formulierte Antwort geben: Wie sein Begriff des Denkens aus einer inkongruenten Verbindung von Sagen und schlichtem Vorstellen hervorgegangen ist, so ergab sich auch eine entsprechend inkongruente Auffassung dessen, was wir im  »ist«-Sagen meinen, nach dem Modell eines sinnlich wahrnehmbaren Inhalts. Nun liegt es im Wesen einer prinzipiell inkongruenten Vorstellung, in der gegen die Grammatik der Sprache verstoßen wird, daß sie sich sprachlich nicht mehr exakt kennzeichnen läßt. Man kann lediglich zeigen, von welchem sprachlich noch faßbaren Gedanken sie ihren Ausgang nahm und von welchen Modellvorstellungen sie sich leiten ließ. Was Parmenides mit »sein« meinte, entspricht also im Ergebnis keiner der Bedeutungen, die das Wort »sein« in unserer (oder der griechischen) Sprache hat. Das kann auch kaum verwundern, da ja Parmenides den Gebrauch, den »die Sterblichen« von dem Wort »sein« machen, von seinem Begriff des Seins her als einen widersinnigen verworfen hat (6.4 ff.).

Es bleibt jetzt noch zu fragen, was aus Parmenides' Auffassung vom »Sein« für sein Verständnis des »Nichtseins« folgt. Bei der sinnlichen Wahrnehmung, z. B. dem Hören, gibt es nur die beiden Möglichkeiten, daß etwas gehört wird oder nichts, und die zweite Möglichkeit besagt zugleich, daß nicht gehört wird. Bei der Wahrnehmung kann von einem vermeinten Nichtsein irgendeiner Art überhaupt nicht die Rede sein. Parmenides überträgt das aufs Denken. Aber hier sieht er sich nun faktisch mit einem Sagen von Nichtsein konfrontiert, und dieses muß er, gerade um es ausdrücklich verwerfen zu können, deuten. So wird nun das Denken-daß-es-nicht-ist an das nichts-Denken assimiliert. Man kann natürlich genauso gut sagen >er denkt jetzt nichts< wie >er hört jetzt nichts<. Voll ausformuliert heißt das: >es gibt nichts (nicht etwas), was er jetzt denkt (hört).< In beiden Fällen heißt das gleichviel wie >er denkt (hört) jetzt nicht<. Nach Parmenides ist nun der Satz

(1) >er denkt, daß x nicht ist<

dem Satz

(2) >er denkt nichts<

gleichzusetzen. Und da Parmenides diesen Satz (2) mit Recht dem Satz

(3) >er denkt nicht<

gleichsetzt, kann er (zu Unrecht) (1) mit (3) gleichsetzen, und daraus folgt, daß es unmöglich ist zu denken, daß etwas nicht ist. Aber um diese Unmöglichkeit zu erweisen, muß Parmenides doch von ihr sprechen, und es sind die Formulierungen,. die er dabei gebraucht, auf die es jetzt ankommt.

Wer, gemäß (1), denkt, daß x nicht ist, meint x als nicht seiend und meint also ein Nichtseiendes (me on), etwas, das nicht ist. Da für Parmenides (1) dasselbe besagt wie (2), wird nun auch der Satz (4) >er denkt das (ein) Nichtseiendes< mit (2) gleichgesetzt. Diese Gleichsetzung von (2) und (4) ist vollkommen konsequent und sie würde an und für sich auch keine neuen Schwierigkeiten mit sich bringen, wenn sie nicht dazu verführen würde, das in (2) vorkommende Wort »nichts« an den in (4) vorkommenden Ausdruck »das (ein) Nichtseiendes« anzugleichen. Wenn (4) und (2) dasselbe besagen, liegt es dann nicht nahe, das Wort »nichts« in (2) als Objektausdruck zu »denken« zu verstehen, genauso wie den Ausdruck »das (ein) Nichtseiendes« in (4)? In diesem Fall wird man auch vor das Wort »nichts« in (2) einen bestimmten oder unbestimmten Artikel setzen und statt »er denkt nichts« sagen »er denkt das (ein) nichts«. Die nun auch grammatische Wort-für-Wort-Entsprechung von (2) und (4) führt dann dazu, die beiden Worte »Nichtseiendes« und »nichts« als Synonyma zu gebrauchen.

Eben dies ist bei Parmenides geschehen: anstelle von "to me on" gebraucht er auch geradezu den Ausdruck "to meden" (8. io, 6.2).

Es ist erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit die Parmenidesinterpreten es hinnehmen (und auch manche andere Leute meinen), daß, wenn etwas nicht ist, es »ein« Nichts ist. Folgt dann auch, daß, wenn von mehreren Dingen gesagt wird, sie seien nicht, man mehrere Nichtse hat? Oder bilden sie alle zusammen ein Nichts, »das« Nichts? Offenbar ist es ebenso sinnlos von »dem« nichts im Singular wie im Plural zu sprechen, weil »nichts« überhaupt kein Substantiv ist. Man braucht das Wort »nichts« nur durch die beiden Ausdrücke »nicht etwas« zu ersetzen, für die es steht, und die Sinnlosigkeit der ungrammatischen Konstruktion springt in die Augen: >er denkt ein/das nicht etwas<.

Um besser zu verstehen, wieso Parmenides zu dieser Rede von »dem« nichts gekommen ist und was sie besagt, ist es nötig, die eben durchgeführte sprachliche Überlegung durch eine intuitive zu ergänzen. Angenommen, wir können, was Parmenides freilich bestreitet, Nichtseiendes denken, wie müßte man sich dann, immer von Parmenides her gesehen, dieses Denken des Nichtseienden vorstellen? Wenn das Denken des Seienden nach dem Modell einer sinnlichen Wahrnehmung als ein anschauliches Vorsichhaben einer Qualität, eines Inhalts verstanden wird, so liegt es nahe, sich das Denken des Nichtseienden als Anschauung eines leeren Inhaltes, als Anschauung einer Leere oder, wie Hegel es dann treffend formulierte, als »leere Anschauung« vorzustellen. Ich gestehe, daß das alles etwas unklare Ausdrücke sind, aber am Ende ist die Rede von einer Anschauung eines »leeren Inhaltes« nicht eben phantastischer als die von einer Anschauung des Seienden, und man mag zur Analogie daran denken, wie ein Ton, den man hört, immer schwächer wird, bis er, wie man bezeichnenderweise sagt, in »nichts« übergeht und wir uns noch einbilden mögen, eben dieses »nichts« — die »Stille« — zu hören. Dieser Sprachgebrauch zeigt zugleich, wie naheliegend es ist, das quasi-Objekt einer »leeren Anschauung« als »ein nichts« zu bezeichnen. (Wenn in einem Raum nichts (= nicht etwas) zu sehen oder überhaupt wahrzunehmen ist und wir ihn infolgedessen »leer« nennen und wenn wir uns nun einbilden, daß wir sein Leersein seinerseits sehen, so legt es sich nahe zu sagen, wir sehen ein »nichts«. Es ist wichtig zu beachten, daß diese Verwendung des Wortes »nichts« überhaupt nur eingeführt werden kann auf dem Wege über seine primäre Verwendung im Sinn von »nicht etwas«.)

Der Vergegenständlichung des »... ist ...« bei Parmenides, derzufolge das Seiende bzw. das Sein als angeschauter Inhalt verstanden wird, entspräche also eine analoge Vergegenständlichung des »... ist nicht ...«, derzufolge das Nichtseiende bzw. das Nichtsein als Leerinhalt gedacht würde, der es nahelegt, als ein bzw. das »nichts« bezeichnet zu werden. Das scheint der Ursprung der Rede von »dem Nichts« in der abendländischen Philosophie zu sein. Parmenides hat dieses »nichts« verworfen, in der richtigen Erkenntnis, daß, es zu denken, heißt: nicht zu denken.




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Besser Wissen (Vorlesung Hrachovec, 2006/07)</root>