Antike (ÄMZ): Unterschied zwischen den Versionen

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aus: '''Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Frankfurt 1979'''
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Der Römer Lukrez hat die Konfiguration geprägt. Das zweite Buch seines Weltgedichtes beginnt mit der Imagination, vom festen Ufer her die Seenot des Anderen auf dem vom Sturm aufgewühlten Meer zu betrachten: ''... e terra magnum alterius spectare laborem''. Nicht darin besteht freilich die Annehmlichkeit, die dem Anblick zugeschrieben wird, daß ein Anderer Qual erleidet, sondern im Genuß des eigenen unbetroffenen Standorts. Es geht überhaupt nicht um das Verhältnis unter Menschen, leidenden und nicht-leidenden, sondern um das Verhältnis des Philosophen zur Wirklichkeit: um den Gewinn durch die Philosophie Epikurs, einen unbetreffbaren festen Grund der Weltansicht zu haben. Sogar der von den Gefahren des Krieges nicht bedrohte Zuschauer gewaltiger Schlachten hat die Differenz zu veranschaulichen, die zwischen dem Glücksbedürfnis und dem rücksichtslosen Eigensinn der physischen Wirklichkeit besteht. Nur die philosophische Absicherung des Betrachters kann diese Differenz zur Distanz entschärfen. Es ist der Weise - oder wenigstens der durch die ''doctrina sapientum'' auf den Naturprozeß und den Weltbetrieb eingestellte Mensch -, der das Theorie-Ideal der klassischen griechischen Philosophie in der Figuration des Zuschauers sowohl zu Ende führt als auch ihm in einem entscheidenden Punkt widerspricht.
 
Der Römer Lukrez hat die Konfiguration geprägt. Das zweite Buch seines Weltgedichtes beginnt mit der Imagination, vom festen Ufer her die Seenot des Anderen auf dem vom Sturm aufgewühlten Meer zu betrachten: ''... e terra magnum alterius spectare laborem''. Nicht darin besteht freilich die Annehmlichkeit, die dem Anblick zugeschrieben wird, daß ein Anderer Qual erleidet, sondern im Genuß des eigenen unbetroffenen Standorts. Es geht überhaupt nicht um das Verhältnis unter Menschen, leidenden und nicht-leidenden, sondern um das Verhältnis des Philosophen zur Wirklichkeit: um den Gewinn durch die Philosophie Epikurs, einen unbetreffbaren festen Grund der Weltansicht zu haben. Sogar der von den Gefahren des Krieges nicht bedrohte Zuschauer gewaltiger Schlachten hat die Differenz zu veranschaulichen, die zwischen dem Glücksbedürfnis und dem rücksichtslosen Eigensinn der physischen Wirklichkeit besteht. Nur die philosophische Absicherung des Betrachters kann diese Differenz zur Distanz entschärfen. Es ist der Weise - oder wenigstens der durch die ''doctrina sapientum'' auf den Naturprozeß und den Weltbetrieb eingestellte Mensch -, der das Theorie-Ideal der klassischen griechischen Philosophie in der Figuration des Zuschauers sowohl zu Ende führt als auch ihm in einem entscheidenden Punkt widerspricht.
  

Aktuelle Version vom 9. November 2005, 14:36 Uhr

aus: Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Frankfurt 1979

Der Römer Lukrez hat die Konfiguration geprägt. Das zweite Buch seines Weltgedichtes beginnt mit der Imagination, vom festen Ufer her die Seenot des Anderen auf dem vom Sturm aufgewühlten Meer zu betrachten: ... e terra magnum alterius spectare laborem. Nicht darin besteht freilich die Annehmlichkeit, die dem Anblick zugeschrieben wird, daß ein Anderer Qual erleidet, sondern im Genuß des eigenen unbetroffenen Standorts. Es geht überhaupt nicht um das Verhältnis unter Menschen, leidenden und nicht-leidenden, sondern um das Verhältnis des Philosophen zur Wirklichkeit: um den Gewinn durch die Philosophie Epikurs, einen unbetreffbaren festen Grund der Weltansicht zu haben. Sogar der von den Gefahren des Krieges nicht bedrohte Zuschauer gewaltiger Schlachten hat die Differenz zu veranschaulichen, die zwischen dem Glücksbedürfnis und dem rücksichtslosen Eigensinn der physischen Wirklichkeit besteht. Nur die philosophische Absicherung des Betrachters kann diese Differenz zur Distanz entschärfen. Es ist der Weise - oder wenigstens der durch die doctrina sapientum auf den Naturprozeß und den Weltbetrieb eingestellte Mensch -, der das Theorie-Ideal der klassischen griechischen Philosophie in der Figuration des Zuschauers sowohl zu Ende führt als auch ihm in einem entscheidenden Punkt widerspricht.

Der Widerspruch bedeutet: Der Zuschauer genießt nicht die Erhabenheit der Gegenstände, die ihm seine Theorie erschließt, sondern das Selbstbewußtsein gegenüber dem Atomwirbel, aus dem alles besteht, was er betrachtet - sogar er selbst. Der Kosmos ist nicht mehr die Ordnung, deren Anschauung den Betrachter mit Eudaimonie erfüllt. Er ist allenfalls ein Rest der Zusicherung, daß es solchen festen Grund überhaupt gibt, an den das feindliche Element nicht heranreicht. Insofern ist nicht allein erheblich, daß Epikur Grieche, Lukrez Römer ist, sondern noch mehr vielleicht; daß zwischen ihnen zwei Jahrhunderte liegen. Die Indifferenz der Theorie hat sich der Indifferenz der Wirklichkeit gegenüber ihrem Teilstück Mensch gleichrangig, gleichmächtig, gewachsen gemacht.

Wie überhaupt im Weisen bei Epikur und Lukrez etwas vom Bild ihrer wie durch die Philosophie hindurchgegangenen und außerhalb der Welten situierten Götter verkörpert wird. Sie können nur deshalb selig sein, wie von ihnen gesagt wird, weil sie weder Urheber noch Verwalter des Weltgeschehens sind und ganz mit sich selbst beschäftigt. So rein vermag es der Weltzuschauer nicht zu sein. Er bedarf zumindest der Physik der Atome, um seine eigene bescheidene Quasi-Außerweltlichkeit überhaupt zu konsolidieren. Wahrer Zuschauer könnte nur ein Gott sein, und der will nicht einmal dies. Doch hat das ausgehende Mittelalter - der Lehren des Aristoteles über die Ausschließlichkeit der Selbstzuwendung des unbewegten Bewegers vergessend - auch Gott zum Zuschauer des Welttheaters gemacht. Als hätte er seine Ewigkeit nur dazu unterbrochen, werden ihm alle Kreaturen nach Luthers Wort zu Larven und Mummereien, ein Spiel Gottes, der sie hat lassen ein wenig aufgehen.

Wenn Lukrez nochmals auf die Metapher von Seenot und Schiffbruch zurückgreift, spricht er folgerichtig von seinem Universum der regellosen Bewegung der Atome als dem Stoffozean (pelagus materiae), aus dem die Gestalten der Natur wie Trümmer gewaltiger Schiffbrüche (quasi naufragiis magnis multisque coortis) an den Strand der sichtbaren Erscheinung geworfen werden, den Sterblichen zu warnenden Zeichen vor der Tücke des Meeres. Nur weil der Vorrat der Atome unerschöpflich ist, können die Katastrophen der physischen Wirklichkeit fruchtbar an Gestaltung bleiben und für den am Ufer der Erscheinungen stehenden Menschen den Prospekt einiger Regelmäßigkeit erzeugen. Man sieht, was das indicium mortalibus hier bedeutet: der Mensch tut gut, sich mit der Rolle des Zuschauers zu begnügen und seinen philosophischen Standort vor und über der Naturwelt nicht zu verlassen. Als Individuum kann er aus der Identität von Katastrophe und Produktivität in dieser Theorie vom werdenden und zerfallenden Universum keinen Gewinn ziehen.

In der großen Kulturkritik des fünften Buches wird nochmals auf die nautische Metaphorik zurückgegriffen. Wie im zweiten Buch alle Hervorbringung physischer Gestalten, so ist hier die Geburt des Menschen als Schiffbruch gesehen. Die Natur wirft das Kind aus dem Leib der Mutter an die Strände des Lichts (in luminis oras), wie der Schiffer von den wütenden Wogen ans Land geschleudert wird. Schon der Beginn, nicht erst Verlauf und Ende des Lebens, steht unter der Metapher des Schiffbruchs. Auch hier bleibt im Hintergrund, kulturkritisch noch verschärft, die Vorstellung von der Widernatürlichkeit der Seefahrt. Der in seinen Grenzen naturgemäß lebende Urmensch kannte sie genauso wenig wie den Tod in der Schlacht zu Tausenden sub signis. Vergeblich verlockte das Meer den mit seinem kargen Dasein zufriedenen Menschen zum Fehltritt der Kultur: inproba navigii ratio tum caeca iacebat.

Der metaphorische und der reale Vorgang der Überschreitung der Grenze des festen Landes auf das Meer hinaus überblenden einander, wie das metaphorische und das reale Risiko des Schiffbruchs. Was den Menschen auf die hohe See treibt, ist zugleich die Überschreitung der Grenze seiner natürlichen Bedürfnisse. Und so müht sich das menschliche Geschlecht fruchtlos und vergeblich, verzehrt seine Lebenszeit in nichtigen Sorgen, weil es Ziel und Grenze des Besitzes nicht einhält und schon gar nicht bescheid weiß, wie weit wirkliches Vergnügen noch gesteigert werden kann. Derselbe Reiz, der allmählich das Leben auf die See hinausführt, bewegt auch das Aufbranden der Kriege. Der Frevel der Seefahrt bestraft sich selbst schon durch die Angst vor den übermächtigen Gewalten, denen der Mensch sich ausliefert und die er übersetzt in die Bilder seiner Götter, denen diese Gewalten substituiert werden. Daß er mit solchen Mächten nicht im Bunde stehen kann, erfährt er gerade an der Vergeblichkeit seines Aufwandes, sie zu beschwören - ganz vergeblich, da er um nichts weniger von dem gewaltigen Wirbel oft in die Todestiefe hinabgerissen wird.




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