Anmerkungen zur Bologna-Reform (bpb): Unterschied zwischen den Versionen

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An der Kritik der Bologna-Reform in den Geisteswissenschaften verwundert, dass kaum einmal auf die Studienpläne Bezug genommen wird, welche die Neuordnung ersetzt. So kommt es, dass die Schlüsselbegriffe der Umstellung – Module, Lernziele, ECTS-Anrechnungspunkte – kräftig zerzaust werden, während die vorhergehenden Regelungen unkommentiert bleiben. Für Disziplinen, die sich ein hohes Maß an Urteilskraft zuschreiben, ist das ein erstaunlicher blinder Fleck. Nimmt man hinzu, dass es – folgt man dem Protest gegen die „Ökonomisierung“ - die ehemaligen Studienpläne waren, die das freie akademische Lehren und Lernen möglich machten, verblüfft das Fehlen des Engagements für die nun abgelösten Regelwerke. Module bedeuten, so wenden Kritikerinnen (m/w) ein, Verschulung; Lernziele seien redundante pädagogische Krücken und ECTS-Punkte eine fehlkonstruierte neue Maßeinheit, die davon ablenkt, dass an einer Hochschule nach wie vor der Lehrinhalt zählt, nicht die Zeit, die eine Durchschnittstudentin (m/w) braucht, sich ihn anzueignen. Das sind ernstzunehmende, weitreichende Vorwürfe. Aber sie überzeugen nur, wenn festgehalten wird, dass das alte System in wichtigen Punkten überlegen ist. Es empfiehlt sich,  einen Blick auf die früheren Verhältnisse zu werfen.
 
An der Kritik der Bologna-Reform in den Geisteswissenschaften verwundert, dass kaum einmal auf die Studienpläne Bezug genommen wird, welche die Neuordnung ersetzt. So kommt es, dass die Schlüsselbegriffe der Umstellung – Module, Lernziele, ECTS-Anrechnungspunkte – kräftig zerzaust werden, während die vorhergehenden Regelungen unkommentiert bleiben. Für Disziplinen, die sich ein hohes Maß an Urteilskraft zuschreiben, ist das ein erstaunlicher blinder Fleck. Nimmt man hinzu, dass es – folgt man dem Protest gegen die „Ökonomisierung“ - die ehemaligen Studienpläne waren, die das freie akademische Lehren und Lernen möglich machten, verblüfft das Fehlen des Engagements für die nun abgelösten Regelwerke. Module bedeuten, so wenden Kritikerinnen (m/w) ein, Verschulung; Lernziele seien redundante pädagogische Krücken und ECTS-Punkte eine fehlkonstruierte neue Maßeinheit, die davon ablenkt, dass an einer Hochschule nach wie vor der Lehrinhalt zählt, nicht die Zeit, die eine Durchschnittstudentin (m/w) braucht, sich ihn anzueignen. Das sind ernstzunehmende, weitreichende Vorwürfe. Aber sie überzeugen nur, wenn festgehalten wird, dass das alte System in wichtigen Punkten überlegen ist. Es empfiehlt sich,  einen Blick auf die früheren Verhältnisse zu werfen.
  
 
Maßgeblich ist das  Universitätsstudiengesetz 1997. Paradigmatisch beziehe ich mich auf die Diplomstu­dien­plä­ne für die Bildungswissenschaft, Philosophie und Politikwissenschaft. Sie sehen 72 Semesterwochenstunden Pflichtfächer und 48 SWS sogenannte „freie Wahlfächer“ vor, für die  der Plan keinerlei Sachbindung vorschreibt. Im Hauptkontingent finden sich darüber hinaus weitgehden frei disponible „Wahlfächer“. Das gibt ein gemischtes Bild. Einerseits wird der fachinterne Kanon der jeweiligen Disziplin festgehalten; eine Überschriftsliste definiert einen Parcours, der im Verlauf des Studiums abzuschreiten ist. Andererseits wird dieser Positivismus durch ein hohes Maß an Freizügigkeit in mehr als einem Drittel der erforderlichen Studienleistun­gen konterkariert. Die Studierenden erwartet ein Fächer-Skelett, darin kann der gelobte humanis­tische Effekt nicht bestehen, und zusätzlich ein undefinierter Platzhalter für freie Fächerwahl. Er trägt das Bildungspathos. Besonders die Philosophie tut sich hervor:
 
Maßgeblich ist das  Universitätsstudiengesetz 1997. Paradigmatisch beziehe ich mich auf die Diplomstu­dien­plä­ne für die Bildungswissenschaft, Philosophie und Politikwissenschaft. Sie sehen 72 Semesterwochenstunden Pflichtfächer und 48 SWS sogenannte „freie Wahlfächer“ vor, für die  der Plan keinerlei Sachbindung vorschreibt. Im Hauptkontingent finden sich darüber hinaus weitgehden frei disponible „Wahlfächer“. Das gibt ein gemischtes Bild. Einerseits wird der fachinterne Kanon der jeweiligen Disziplin festgehalten; eine Überschriftsliste definiert einen Parcours, der im Verlauf des Studiums abzuschreiten ist. Andererseits wird dieser Positivismus durch ein hohes Maß an Freizügigkeit in mehr als einem Drittel der erforderlichen Studienleistun­gen konterkariert. Die Studierenden erwartet ein Fächer-Skelett, darin kann der gelobte humanis­tische Effekt nicht bestehen, und zusätzlich ein undefinierter Platzhalter für freie Fächerwahl. Er trägt das Bildungspathos. Besonders die Philosophie tut sich hervor:
  
Im Hinblick darauf, daß das Fach Philosophie eine Sonderstellung im Vergleich zu allen anderen Wissenschaften einnimmt, wurden für die freien Wahlfächer keine spezifischen Empfehlungen ausgesprochen. Den Studierenden soll dadurch auch die Möglichkeit geboten werden, im Interesse künftiger beruflicher Flexibilität Qualifikationen, die über das Fach Philosophie hinaus gehen, in freier Entscheidung zu erwerben.1
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Im Hinblick darauf, daß das Fach Philosophie eine Sonderstellung im Vergleich zu allen anderen Wissenschaften einnimmt, wurden für die freien Wahlfächer keine spezifischen Empfehlungen ausgesprochen. Den Studierenden soll dadurch auch die Möglichkeit geboten werden, im Interesse künftiger beruflicher Flexibilität Qualifikationen, die über das Fach Philosophie hinaus gehen, in freier Entscheidung zu erwerben.1
  
 
Aus der Praxis der Bologna-Umstellung ist zu berichten, dass sich die Mehrzahl der Human-, Sozial- und Kulturwissenschaftlichen Studienrichtungen mit ähnlich formulierten Argumenten gegen die Neuordnung zur Wehr setzten. Hier liegt ein Knackpunkt des Regimewechsels.
 
Aus der Praxis der Bologna-Umstellung ist zu berichten, dass sich die Mehrzahl der Human-, Sozial- und Kulturwissenschaftlichen Studienrichtungen mit ähnlich formulierten Argumenten gegen die Neuordnung zur Wehr setzten. Hier liegt ein Knackpunkt des Regimewechsels.

Version vom 19. April 2008, 13:40 Uhr

An der Kritik der Bologna-Reform in den Geisteswissenschaften verwundert, dass kaum einmal auf die Studienpläne Bezug genommen wird, welche die Neuordnung ersetzt. So kommt es, dass die Schlüsselbegriffe der Umstellung – Module, Lernziele, ECTS-Anrechnungspunkte – kräftig zerzaust werden, während die vorhergehenden Regelungen unkommentiert bleiben. Für Disziplinen, die sich ein hohes Maß an Urteilskraft zuschreiben, ist das ein erstaunlicher blinder Fleck. Nimmt man hinzu, dass es – folgt man dem Protest gegen die „Ökonomisierung“ - die ehemaligen Studienpläne waren, die das freie akademische Lehren und Lernen möglich machten, verblüfft das Fehlen des Engagements für die nun abgelösten Regelwerke. Module bedeuten, so wenden Kritikerinnen (m/w) ein, Verschulung; Lernziele seien redundante pädagogische Krücken und ECTS-Punkte eine fehlkonstruierte neue Maßeinheit, die davon ablenkt, dass an einer Hochschule nach wie vor der Lehrinhalt zählt, nicht die Zeit, die eine Durchschnittstudentin (m/w) braucht, sich ihn anzueignen. Das sind ernstzunehmende, weitreichende Vorwürfe. Aber sie überzeugen nur, wenn festgehalten wird, dass das alte System in wichtigen Punkten überlegen ist. Es empfiehlt sich, einen Blick auf die früheren Verhältnisse zu werfen.

Maßgeblich ist das Universitätsstudiengesetz 1997. Paradigmatisch beziehe ich mich auf die Diplomstu­dien­plä­ne für die Bildungswissenschaft, Philosophie und Politikwissenschaft. Sie sehen 72 Semesterwochenstunden Pflichtfächer und 48 SWS sogenannte „freie Wahlfächer“ vor, für die der Plan keinerlei Sachbindung vorschreibt. Im Hauptkontingent finden sich darüber hinaus weitgehden frei disponible „Wahlfächer“. Das gibt ein gemischtes Bild. Einerseits wird der fachinterne Kanon der jeweiligen Disziplin festgehalten; eine Überschriftsliste definiert einen Parcours, der im Verlauf des Studiums abzuschreiten ist. Andererseits wird dieser Positivismus durch ein hohes Maß an Freizügigkeit in mehr als einem Drittel der erforderlichen Studienleistun­gen konterkariert. Die Studierenden erwartet ein Fächer-Skelett, darin kann der gelobte humanis­tische Effekt nicht bestehen, und zusätzlich ein undefinierter Platzhalter für freie Fächerwahl. Er trägt das Bildungspathos. Besonders die Philosophie tut sich hervor:

Im Hinblick darauf, daß das Fach Philosophie eine Sonderstellung im Vergleich zu allen anderen Wissenschaften einnimmt, wurden für die freien Wahlfächer keine spezifischen Empfehlungen ausgesprochen. Den Studierenden soll dadurch auch die Möglichkeit geboten werden, im Interesse künftiger beruflicher Flexibilität Qualifikationen, die über das Fach Philosophie hinaus gehen, in freier Entscheidung zu erwerben.1

Aus der Praxis der Bologna-Umstellung ist zu berichten, dass sich die Mehrzahl der Human-, Sozial- und Kulturwissenschaftlichen Studienrichtungen mit ähnlich formulierten Argumenten gegen die Neuordnung zur Wehr setzten. Hier liegt ein Knackpunkt des Regimewechsels.

Der Widerstand ist nachvollziehbar, denn die Aufteilung des Uni-STG spiegelt die konventionelle Auffassung vom tertiären Bildungssektor, zumindest was die ehemaligen Geisteswissenschaften angeht, ausgezeichnet. Erstens sollen die Absolventinnen (m/w) etwas lernen und zweitens sollen sie genügend Zeit zur akademischen Persönlichkeitbildung haben. Unausgesprochen wird folgende Voraussetzung gemacht: der Unterricht im Fachdiskurs versetzt sie in die Lage, eigene Frage­stellun­gen zu finden und ohne Bevormundung durch Regelvorgaben zu verfolgen. Die enge Nachbarschaft von Lehre und Forschung tut ein Übriges, denn auch die Vortragenden haben in der Interpretation ihres Lehrauftrages weitgehende Freiheiten. Es reichte in vielen Fällen, wenn sie ihr Lieblingsthema einer Rubrik des Kanons zuordneten.

Die alten Studienpläne basierten auf einem eindrucksvollen, doppelten Vertrauensvorschuss, dass nämlich die Unterrichtenden genügend Verantwortungsbewusstsein aufbringen, nicht ihre Idiosynkrasien, sondern die fachlichen Erfordernisse zu verfolgen, und dass – zweitens – die Unterrichteten ungegängelt die richtigen, statt der billigen, Entscheidungen treffen. Alle Beteiligten wissen, dass das Vertrauen in beiden Teilen häufig unangebracht war. Im Übergang zur Massenuniversität ist seine Grundlage ausgehöhlt worden. Das Resultat ist ein gänzlich unausgeglichenes Bild. Während in kleineren Disziplinen wie Ägyptologie oder Musikwissenschaft noch immer individuelle Überschaubarkeit herrscht, werden überlaufene Fächer (Publizistik, Politologie, Bildungswissenschaft) hauptsächlich zur Schadensbegrenzung gezwungen.

Die Zahl der positiven Studienabschlüsse an der Universität Wien liegt bei unter 50%. Man muss weder Finanzminister, noch Erfolgsfanatikerin (m/w) sein, um den Verdacht zu hegen, dass an diesem System etwas nicht stimmt. Es ist für eine Klientel geschaffen worden, die schon zu Beginn recht gut wusste, wohin der Weg führt. Das war die ehemalige Bildungsschicht. Für die Ausweitung der Belegzahlen war weder der gesetzliche Rahmen, noch die Institution gut geeignet. Diese Umstände sind seit langem bekannt und dennoch hat sich an den Universitäten keine wirksame Initiative ergeben, den Schwierigkeiten zu begegnen. Vor diesem Hintergrund sieht die beredte Anti-Bologna-Front nicht überzeugend aus. Sie promulgiert in schöner Eintracht ein Universitätsmodell des 19. Jahrhunderts, als ob es nicht an faktischen Ergebnissen zu prüfen, zu korrigieren und auch in prinzipieller Hinsicht zu reflektieren wäre. Die Universitäten haben die Herausforderung ausgelassen, ihre Lehr- und Lernwelt mit den Folgen des Massenstudiums zu konfrontieren und beklagen sich jetzt, dass sich extrerne Agenturen darüber Gedanken machen, wie sich die Ausbildungsordnung verbessern läßt.

Vor diesem Hintergrund sind die Prinzipien der Umstellung zu bewerten. Sie richten sich tatsächlich gegen eine Studienorganisation, welche die akademische Ausbildung für einen überschaubar kleinen Teil der Bevölkerung als abschließenden Bonus vorgesehen hatte. Insofern ist eine Lebensform unterminiert worden. Die Gegenfrage lautet allerdings, wie lebendig und praktikabel die Wunschziele in den hergebrachten Strukturen noch gewesen sind. Ohne darauf näher einzugehen, skizziere ich zum Abschluss, wie sich das neu entworfene Instrumentarium kontrastiv zum Bildungsideal verhält. Drei Punkte sind erwähnenswert: die Einführung dreijähriger Bachelor-Studien, die Strukturierung in Module und schließlich das revidierte System der Anrechnung von Studienleistungen.

In den mir vertrauten Studienrichtungen trat folgendes Problem auf. Die Grundausbildung in der jeweiligen Disziplin wurde gewährleistet. Das betraf meist den ersten Studienabschnitt. Anschließend war die selbstverantwortete Fachvertiefung vorgesehen. Hier trennten sich die Wege. Einem Teil der Studierenden gelang es, mit entsprechender Unterstützung durch die Lehrenden, einen für beide Seiten zufriedenstellenden Abschluss zu erreichen. Viele fanden diesen Anschluss nicht und quittierten das Studium in dieser späten Phase. Dazwischen manövrierte eine dritte Gruppe, die es trotz unzureichender Betreuung und mehr aus Pflicht, als aus Neigung, zu einer Masterarbeit brachte, für die sich kaum jemand interessierte. Die politische Entscheidung zum Bachelor-Studium hebt diesen Zustand auf. Sie fällt gegen jene Kommilitonen aus, die sich in den 4-5 Jahren selbständig in der Unübersichtlichkeit des multidisziplinären Freiraums zurechtgefunden haben, aus dem die Anstöße zu wissenschaftlichen Leistungen kommen. (Das sind natürlich jene Kolleginnen, die Hochschullehrerinnen gerne sehen.) Die Segmentierung nach drei Jahren nützt dagegen jenen Studierenden, die im bisherigen System suboptimal betreut wurden oder verlorengingen.

Ein Szenario des akademischen Reifeprozesses ist also abgeschafft worden. Was tritt an seine Stelle? Das Angebot eines Aufbaustudiums. Die unverbindlichen Formulierungen zur autonomen Schwerpunktsetzung werden damit formalisiert. Eine neue Entscheidung ist nötig, um das Basiswissen zu erweitern. Dies wird, vermute ich, in Zukunft eine Hauptwirkung der Curricularreform sein: Für motivierte Absolventinnen (m/w) werden Masterstudien in ganz Europa zur Verfügung stehen. Die akademische Perspektive erweitert sich dadurch nachhaltig und eröffnet Gelegenheiten, die das Diplomstudium strukturell nicht vorgesehen hat. In dieser Institutionalisierung – das ist zuzugeben – wird aus „freien Wahlfächern“ ein vergleichsweise reglementiertes Studienangebot. Der Ort der selbstbestimmten Entscheidung hat sich verlagert, indem die Gelegenheit zur Mobilität nach kürzerer Zeit ins System eingebaut wird. Studierende werden nicht mehr ungefragt nach einem Maß akademischer Vollausbildung gemessen; sie können die Fortsetzung einer Grundstufe differenziert wählen.

Ein zweiter gravierender Einschnitt in die Lehrplanung betrifft den Wechsel von addierten Einzelveranstaltungen zu Modulen mit Lernzielen. Das ist, was leicht übersehen wird, eine untergründig revolutionäre Vorgabe. Bisher legte das österreichische Parlament fest, aus welchen Bestandteilen ein Fach besteht und das Lehrpersonal füllte die derart national verordneten Funktionen aus. Ich habe nicht gehört, dass die Bolognakritiker (m/w) diese hochbürokratische Regelung beanstandet hätten. Sie waren damit zufrieden, dass ihnen der Staat die Zuständigkeit für vorweg akkordierte Fachgebiete garantierte. Modulbildung in den Curricula besagt dagegen, dass die Segmentierung der Lehrinhalte sich nicht nach dem Fächerkanon, sondern nach den ausgewisenenen Studienzielen richten sollte. Die Universitätsautonomie neuer Prägung sieht vor, dass die einschlägigen Entscheidungen an den einzelnen Hochschulen fallen. Sie bestimmen ihr Studienangebot, sein Profil und seine Substrukturen. Dabei geben sie Auskunft darüber, in welche Phasen sich ihre Lehrprogramme gliedern und welche Qualifikationen in ihnen vermittelt werden. Die Festlegungen werden sich, vernünftigerweise, nach fachspezifischen Standards halten. Dennoch bedeutet die Neuregelung einen dramatisch erweiterten Gestaltungsspielraum.

Die angedeutete revolutionäre Note ist auch system-immanent ein Risiko. Sie stellt die eben dargestellte Mobilität in Frage, weil nichtmehr davon ausgegangen werden kann, dass sich die Lehrpläne an Universitäten gleichen. Dahinter steht die resolute Option für einen marktähnlichen Mechanismus, in dem sich das europäische Bildungssystem autoregulativ zum jeweils erwünschten und nachgefragten Studienangebot einpendelt. Zugespitzt ausgedrückt kann das bedeuten, dass ein Bachelor in einer Nachbarstadt nicht mit einem fachlich passenden Master fortgesetzt werden kann, weil die Curricula zu stark divergieren. Umgekehrt kann der Fall eintreten, dass sich – hier kommt der internationale Angleichungsprozess zur Geltung – problemlose Fortsetzungen an entlegenen Stellen finden. Den möglichen (Miss-)Erfolg dieser Strukturumstellung kann man noch nicht beurteilen. Jedenfalls werden durch sie bisher weitgehend selbstgenügsame Kreise aufgemischt. Der Horizont der Universitätsausbildung ist nicht mehr ein nationales Bildungssystem, sondern die einzelne Institution in einem internationalen Kontext. Für Weltbürger (m/w) sollte das durchaus attraktiv sein.

Die interne Spannung zwischen der lokalen Befugnis, die neuen Curricula zu gestalten, und den Erfordernissen (trans-)nationaler Vergleichbarkeit, soll eine weitere Neuerung abfangen, das „European Credit Transfer System“ (ECTS). Die numerische Registriereung von Semesterwochenstunden ist ja tatsächlich ein wenig ausdrucksvoller Parameter zur Beschreibung der Fähigkeiten, welche ein Studium vermitteln soll. Daher wählte man den umgekehrten Weg. Statt diese Information aus der Zahl der Prüfungen über abgeleistete Lehrveranstaltungsstunden zu aggregieren, orientiert man sich an der gesamten Arbeitsleistung, die von Studierenden verlangt wird. Entsprechend der Schwerpunktsetzung des jeweiligen Curriclums kommt einem Modul (Teilfach) ein bestimmtes Arbeitspensum zu, das in Lernstunden ausgedrückt werden kann. Die Anforderungen des Curriculums werden nicht mehr als eine Funktion der Anwesenheit von Hochschullehrerinnen (m/w) (mit stark abweichendem Anspruchsniveau) dargestellt, sondern als Erfüllung einer gewissen, idealtypisch normierten, Arbeitszeit. In dieser Maßeinheit sollten sich, so lautet die Absicht, die faktisch erworbenen Kompetenzen der Studierenden sachgerechter erfassen lassen.

Dieser Aspekt des Bolognasystems ist, soweit ich sehe, derzeit im besten Fall ein Glasperlenspiel. Die Orientierung am Zeitaufwand, den ein Studium erfordert, mag plausibel erscheinen. Aber im Bestreben, eine Verrechnungskategorie für Lehreinheiten durch die Angabe von Arbeitsstunden für Lernende zu ersetzen, ist man in eine Kollektivvertrags-Mentalität geraten, die vom faktischen Lehr-Lern-Prozess mindestens so weit entfernt ist, wie die frühere Zählung. Bedenken lassen sich gegen die statistische Normalisierung vorbringen, denn Qualifikationsforderungen werden von unterschiedlichen Begabungsgruppen ungleich abgearbeitet. Aber das ist eine vergleichsweise einfach auszutarierende Divergenz. Ein gänzlich unkontrollierbarer Problembereich entsteht dadurch, dass – gegeben die Autonomie der Curricularentwicklung – in jedem einzelnen Curriculum verschiedene Verhältnisse zwischen den zur Verfügung stehenden, in Veranstaltungstypen gegliederten, Lehrleistungen und den ihnen zugeordneten ECTS-Punkten möglich sind und auch realisiert werden. Je weniger ein Studium die Universität kosten darf, desto höher werden die entsprechenden Punktezahlen anzusetzen sein. Umgekehrt ist zu beobachten, dass gut dotierte Disziplinen für ihre Lehrveranstaltungen, um sie nicht einzubüssen, vergleichsweise wenig ECTS-Punkte vergeben.

Wie die damit fällige Ausmittelung zwischen fachwissenschaftlichen Erfordernissen, Finanz und investierter Lebenszeit transparent, konsistent, international vergleichbar und korrigierbar stattfinden soll, ist nicht zu sehen. Als Hilflinien, die wieder ausradiert werden, wenn die Zeichnung fertig ist, wäre der Arbeitsaufwand in der Konstruktion von Curricula ganz praktisch. Als Anrechnungsstandard europaweit sind ECTS-Punkte eine Scheinarchitektur. Meine Einschätzung des einschlägigen Bologna-Instrumentariums fällt also zwiespältig aus. Im Resumee ergibt sich, dass die europäischen Regierungen eine gewagte Initiative zur Behebung von Schwierigkeiten gesetzt haben, angesichts derer die Universitäten weitgehend den Mut verloren haben.

Was wird aus dem Bildungsideal? Wir sollten es in eine Gruppe mit anderen Idealen, wie „gesunde Ernährung“, „geschützte Privatsphäre“ oder „intakte Umwelt“ sehen. Eine gebildete Lebensweise zählt zu den Privilegien, welche in einer konsumorientierten Massendemokratie überall begehrt sind und sich dadurch aufzulösen beginnen. Zu viele hätten gern ein Seegrundstück. Der Vergleich zeigt den dominanten gesellschaftlichen Verteilungsmechanismus, nämlich das monetäre System. Wenn das Dilemma am Bildungssektor nicht über Geldmittel gelöst werden soll, sind neue Denkansätze nötig. Die alte Villa am Strand ist unvergleichlich, eine sozial gerechte Raumplanung kann zwar ihre Noblesse nicht ersetzen, aber eine Erinnerung an die vergangene Ordnung bewahren. Humanistische Bildung ist nicht multiplizierbar. Sie ist Merkmal einer auf unserem Kontinent entstandene Lebenskunst. Die Ausbildungsreform nach Bologna ist eine unausgewogene, aber ambitionierte Anknüpfung daran.



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