Akademische Qualifikationsmuster in der Wissensgesellschaft (G. Franck)

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Aus Georg Franck: Mentaler Kapitalismus. Eine politische Ökonomie des Geistes. München 2005 S. 160ff


Selbstachtung und Selbstverachtung

Identitäspolitik und "Klassenkampf"

Identitätspolitik und politische Korrektheit verstehen sich als Strategien der Emanzipation. Anliegen ist die Egalisierung der Chancen im Kampf um die Beachtung, von der das affektive Selbstbewußtsein sich nährt. Mit der Identitätspolitik steigen die in den Ring, die immer nur Acht gegeben haben, ohne Beachtung zu finden. Die politische Korrektheit artikuliert, was Gleichheit der Chancen im Verteilungskampf heißt. Nimmt man sie zusammen, dann wird nun allerdings klar, daß sie mehr bedeuten als eine einfache Ausweitung der Konkurrenz. Sie bedeuten, daß sich die Landschaft der Parteien, die im Verteilungskampf engagiert sind, verändert hat. Der organisierte Kampf um die Beachtung hat aufgehört, ein Privileg derer zu sein, die über die Mittel der Attraktion verfügen. Die Konkurrenz hat nicht länger den Charakter der bloßen Verwertungskonkurrenz. Die Klasse der Nichtbesitzenden beginnt sich zu organisieren. Der Kampf um die Verteilung des Sozialprodukts an Beachtung nimmt, anders gesagt, Züge des Klassenkampfs an.

Diejenigen, die sich im Klassenkampf engagieren, sind nicht immer die Ärmsten. Es sind diejenigen, die aufgehört haben, ihre Klassenlage als Schicksal hinzunehmen. Arm im mentalen Kapitalismus sind die, die nicht genug Beachtung verdienen, um das affektive Selbstbewußtsein gut zu ernähren. Die Aktivistinnen und Aktivisten der Identitätspolitik sind zur Arbeit auch am reflektiven Selbstbewußtsein übergegangen. Sie arbeiten an der Entstabilisierung der Vorstellung, daß die Identität, auf die das Selbstbewußtsein reflektiert, vorgegeben sei. Sie attackieren die Vorstellung, die Identität des Ich sei ein Wesenskern. Sie haben die Botschaft der Dekonstruktion verstanden. Oder anders: Sie haben angefangen, von der Dekonstruktion praktischen Gebrauch zu machen.

Selbstwertgefühl und Selbstachtung

Die Leiden am Selbst sind nicht auf Probleme der Unterernährung beschränkt. Sie sind es nicht, weil der Selbstwert von zweierlei Instanzen beurteilt wird. Er wird erstens beurteilt von dem Selbstwertgefühl, das sich von empfangener Wertschätzung ernähren muß. Der Selbstwert wird aber auch beurteilt von der unmittelbaren Selbstachtung. Die unmittelbare Selbstachtung ist das Urteil, das in den Spiegel der Selbstreflexion schaut. Sie ist die moralische Instanz, vor der das Selbst ebenfalls bestehen muß, wenn es sich gut fühlen will. Wie das Selbstwertgefühl, so ist auch die Selbstachtung nicht ganz unflexibel. Wenn das Selbst gut verdient, dann ist die Selbstachtung nicht immer so streng. Zum Schweigen kann die Selbstachtung aber nur um den Preis der Selbstverachtung gebracht werden.

Die Selbstachtung ist jene moralische Instanz, an die der Aufruf zur Solidarität mit den Leidensgenossen im Klassenkampf appelliert. Diese Solidarität ist für die Besitzlosen, was die Verfügung über die Attraktionsmittel für die Besitzenden ist. Sie ist die Waffe in der Hand derer, die über nichts als ihre Arbeitskraft verfügen. Auf Arbeitskraft -- nämlich auf die Kraft zu geistiger Arbeit -- ist die kulturelle Produktion angewiesen. Aller Besitz an sachlichen Mitteln nützt nichts, wenn diese nicht mit frischer Aufmerksamkeit kombiniert werden. Charakteristisch für die Arbeiter der Kultur ist nun aber, daß sie nicht völlig mittellos sind. Arm sind zwar die "armen Künstler und die Debütantinnen". Arm ist die große Zahl der kulturell Arbeitenden aber nur, wenn man sie mit dem schweren Reichtum der Medienbesitzer und der Medienprominenz vergleicht. Im typischen Fall sind sie Aufsteiger, die im gehobenen Dienst der besitzenden Klasse stehen.

Wissenschaftsautonomie durch Zitat

Aufsteiger im mentalen Kapitalismus sind all die, die von der Mengenexpansion der medial umgesetzten Aufmerksamkeit profitieren. Die Solidarität, mit der sie in Konflikt kommen, ist die der Geistesarbeiter, die sich nicht kaufen lassen wollen. Dieser Konflikt wirkt bis hinein in die Wissenschaft. Ohne das Zahlungssystem der Zitation wäre es nicht zur Ausbildung des geistigen Eigentums gekommen, das hinter dem Wandel vom amateurhaften Forschen zur professionellen Forschung steckt. Ohne die Solidarität der in der Forschung Arbeitenden wäre es aber nicht zur Ausbildung eines autonomen Forschungsbetriebs gekommen. Die Solidarität der Forschenden besteht darin, daß sie auf die Herkunft der Beachtung achten, die sie verdienen. Diese Solidarität ist ein anderer Ausdruck für das Berufsethos der Forscherin und des Forschers. Ihre Instanz ist die Selbstachtung. Ihr Verlust ist, woher der Zynismus im Betrieb herrührt. Allerdings ist die Solidarität der Forscher nun keine Frage der bloß privaten Moral. Sie hat sich als Berufsethos durchgesetzt, weil sie eine wichtige Funktion erfüllt. Nur darauf nämlich, daß die Beachtung seitens der anderen Produzenten mehr zählt als die Aufmerksamkeit des konsumierenden Publikums, gründet die Selbststeuerung der Wissenschaft.

Hochkultur, Popkultur, Expansionsstrategien

Das Achten auf die Herkunft der Beachtung gehört auch zum Berufsethos von Künstlern und Publizisten. Es ist, worauf der Anspruch der hohen Kultur und das Gefälle zwischen hoher und populärer Kultur beruht. Daß es auf die Herkunft der Beachtung zu achten gilt, will sagen, daß es den Beifall von der richtigen und den Beifall von der falschen Seite gibt. Die Unterscheidung zwischen einer richtigen und einer falschen Seite wird nun aber zum Luxus, wenn es darum geht, die kritische Masse an Beachtung zusammenzubringen, die man braucht, um den Effekt der Selbstverstärkung zu zünden. Auf diesem Effekt beruht die Technik, mit der es gelingt, Personen und sogar Sachen in den Starhimmel zu schießen. Bei diesem Geschäft wird es unprofessionell, ja kontraproduktiv, heikel zu sein. Man muß nehmen was kommt. Schließlich kann man sich die Wahllosigkeit leisten. Hat der Effekt einmal gezündet, dann fragt niemand mehr, woher der Beifall ursprünglich kam. Der schlagende Erfolg macht die fraglichen Mittel vergessen.

Die professionelle Wahllosigkeit hatte es im Kulturbetrieb auch früher gegeben. Sie hatte aber unter schweren Vorwürfen zu leiden. Sie war es, auf die die Kulturkritik sich eingeschossen hatte. Und die traf schwer mit dem Vorwurf des Zynismus. Der Preis der opportunistischen Anpassung an den populären Geschmack war der Ausschluß aus der hohen Kultur. Die Moderne hielt die populäre und die hohe Kultur scharf getrennt. Das steile Gefälle war noch bezeichnend für die Situation, die Bourdieu in seiner großen Bestandsaufnahme beschrieb. Das Ende der Moderne war nun aber der Anfang einer schweren Erosion. Die populäre Kultur hat aufgehört, die Errungenschaften der elitären Kultur unters Volk zu bringen. Das Verhältnis hat sich umgekehrt. Die hohe Kultur ist in den Sog der populären geraten.

Wer keinen Alkohol mag, hat im Museumsquartier nichts verloren: Das Klangforum Wien bietet ein "Symposium".

Nicht einmal dieser Sog ist völlig neu. Schon immer hat die hohe Kultur sich vom Volkstümlichen inspirieren lassen. Allerdings waren die volkstümlichen nicht die Genres, die die Maßstäbe in der technischen Performanz und ökonomischen Effizienz setzten. Sie waren für das Schlichte und Anrührende zuständig. Das hat sich umgekehrt. Die populären Genres bieten inzwischen die härteren Sachen, die stärkeren Reize und raffinierteren Effekte. Die populäre Seite ist überlegen professionell im Geschäft der Attraktion. Sie ist technisch überlegen, was die Effizienz des Sachkapitals, sie ist ökonomisch überlegen, was die Produktivität des sozialen Kapitals betrifft.

Wissenschaftliche Hagestolze

Die Umkehr des Sogs bedeutet, daß der Kulturbetrieb als ganzer in das Spannungsfeld zwischen den Massenmedien und dem Finanzwesen der Beachtlichkeit gerät. Dieses Spannungsfeld überlagert die Spannung, in der die künstlerisch und intellektuell Produktiven ehedem standen. Es war ja nicht so, daß Auflagenhöhen, Besucherzahlen und Auslastungsquoten unwichtig gewesen wären. Nur war es eben auch nicht zu viel gefragt, gegen den Strom zu schwimmen. Der unbeugsame Dienst an der Sache war das Zeichen avancierten Künstlertums und fortgeschrittener Intellektualität. Sie wurden geschützt durch die Solidarität der Produzenten untereinander. Sie wurden geschützt durch den Vorwurf des Opportunismus, der Prostitution oder gar des Zynismus an die, die vom rechten Pfad abwichen.

In dem Moment, in dem der Betrieb der hohen Kultur in den Sog der Massenmedien gerät, bekommt dieser Vorwurf etwas Hagestolzes. Unglücklich macht sich hier nicht nur, wer den 'hohen Anspruch' verrät. Unglücklich macht sich auch, wer an den rigorosen Maßstäben eisern festhält. Nicht überall sind die Verhältnisse so klar wie in der Wissenschaft. Und selbst hier wirkt der Sog aus den umliegenden Märkten der Beachtlichkeit. Mit dem Festhalten an den rigorosen Maßstäben vertut man die Chance, an der Mengenexpansion der zahlenden Aufmerksamkeit zu partizipieren. Das Risiko, auf das man sich einläßt, ist die Existenz am unbedeutenden Rand des Geschehens.

Eine Lösung: Dekonstruktion

Ein Berufsethos, das die Bereitschaft zur Existenz am unbedeutenden Rand des Geschehens verlangt, wird dysfunktional. Wie dieses Ethos nun aber aufweichen, wenn nicht durch Korruption? Retten kann eine neue Deutung und Definition der Situation. Retten kann eine Theorie, die die Ansprüche relativiert. Am besten, die Theorie macht klar, daß es naiv wäre, an den rigorosen Ansprüchen festzuhalten. Je anspruchsvoller die Theorie, um so weiter reichen die Möglichkeiten einer radikalen Redefinition der Situation.

Die Theorie, die diesen Dienst leistet, braucht nicht -- ja sollte nicht einmal -- für diesen Zweck gedacht sein. Am besten, die Relativierung erfolgt aus ganz unabhängigen Gründen. Am allerbesten, die entlastende Funktion kommt nicht einmal in den Blick. Ganz unabhängig waren die Gründe des Zweifels, die an der Identität in der Zeit aufkamen. Keine entlastende Funktion kam in den Blick, als die Rede vom Tod des Subjekts aufkam. Bemerkenswert war allerdings, wie groß die Bereitschaft zur Aufnahme der traurigen Botschaft war. Der wahrlich nicht populären Rede vom Ende des Subjekts, der Kunst, der Philosophie und so weiter wurde ein geradezu populärer Erfolg zuteil. Der post-moderne Diskurs kam an trotz der Hermetik des poststrukturalistischen Jargons. Ein wahrer Furor der Relativierung brach los. Nicht nur die Identität des Bewußtseins, auch die Differenz der Geschlechter, die biologische Konstitution des Körpers, die Natur der Naturwissenschaften wurden als Konstruktionen entlarvt, die anders sein könnten, wenn die Gesellschaft nur wollte.

Mit keiner Stringenz des Denkens und keiner Brillanz der Argumentation läßt sich erklären, warum der Funken der Relativierung einen solchen Flächenbrand entfachte. Tatsächlich wurde die Relativierung der Ansprüche aber zur Signatur der Zeit. Die Moderne erschien plötzlich als die Epoche, die sich verbohrt und hartnäckig auf scharfe Grenzen, harte Gegensätze und puristische Grundsätze festgelegt hatte. Als typisch modern gerieten die scharfe Trennung von Natur und Kultur, von männlich und weiblich, von hoher und populärer Kultur, von Kunst und Wissenschaft ins Visier. Der Epochenbruch wurde erlebt als Durchbruch einer umfassenden Tendenz zur Auflösung und Verflüssigung. An die Stelle der Wesensunterschiede traten Systeme der Variation und Differenz. Wo vorher die scharfen Schnitte und binären Dichotomien gesucht wurden, kamen gleitende Übergänge, unsaubere Schnittstellen, hybride Mixturen hervor.

Ganz und gar nicht unverständlich ist diese Tendenz, wenn man sie in den Zusammenhang mit dem Wandel stellt, den der Kulturbetrieb im mentalen Kapitalismus durchmacht. Der postmoderne Diskurs hat unschätzbare Dienste für die Umdeutung der Situation und die Redefinition der Ansprüche geleistet. Er hat denen die Argumente geliefert, die sich weder der ökonomischen Rationalität verschließen noch sich den Vorwurf des Opportunismus gefallen lassen konnten. Er lieferte die Theorie für die gebotene Flexibilität. Die Botschaft von der sozialen Konstruiertheit der Identität kam gerade nicht nur bei den Minderheiten an, die traditionell unter ihrer Identität zu leiden haben. Sie wurde zur frohen Botschaft für alle, die sich in Loyalitätskonflikte mit ihrer künstlerischen oder intellektuellen Gruppenidentität verwickelt sahen. Die Last der Legitimierung, die der postmoderne Diskurs geleistet hat, wird deutlich, wenn man bedenkt, daß an der Stelle des Rigorismus in Sachen der künstlerischen und intellektuellen Moral ein desillusionierter Pragmatismus zum Zeichen avancierten Künstlertums und fortgeschrittener Intellektualität wurde.




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