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Naturgemäß werden die Unterschiede zu eingespielten Verhältnissen schneller und leichter wahrgenommen, als diese Vorgegebenheiten selber. Mobiles Lernen - zu Hause, unterwegs und in selbstgewählten Zeitsegmenten - steht in plastischem Kontrast zur Welt der Klassenzimmer und Hörsäle. Die Aussichten sind sensationell, ein Umbruch des Erziehungswesens könnte bevorstehen. Das virtuelle Seminar und die Vorlesung, an welcher Hörerinnen über das Internet live teilnehmen, scheinen ungeahnte Perspektiven zu eröffnen. Der Eindruck täuscht. Als Datenstrom im Kabel ist ein Vortrag ebenso interessant bzw. uninteressant, wie der Download des Treibers einer neuen Graphikkarte. Das Interesse für die pädagogischen Möglichkeiten des technischen Szenarios bedarf eines Rückhaltes im Universitätsbetrieb, seine historische Entwicklung und seine sozio-ökonomische Einbettung in den Lebenszusammenhang westlich geprägter Gesellschaften. Mindestens ebenso wichtig wie die "Innovationen" sind darum die Entdeckungen, die daraus entstehen, dass vertraute Zusammenhänge in neuem Licht erscheinen. Die Attraktivität des Neuen und die vertiefte Wahrnehmung des Alten können gut zusammen auftreten.

Jacques Derrida hat unlängst das Bekennen ("professer") als einen zentralen Bestandteil des Universitätsgedankens hervorgehoben:

Man muß ausdrücklich hervorheben, daß konstative Äußerungen und rein wissensvermittelnde Diskurse, in der Universität oder wo immer, als solche nicht der Ordnung der profession in diesem strengen Sinne angehören. Sie sind vielleicht Sache des "Metiers", des "Handwerks" (Kompetenz, Wissen, Sich-auf-etwas Verstehen), aber nicht des Berufs im strengen Sinn dieser profession. Der Professionsdiskurs ist stets, auf die eine oder andere Weise, eine freie profession de foi; er überschreitet die Ordnung des reinen techno-wissenschaftlichen Wissens im bindenden Übernehmen einer Verantwortung. Professer heißt sich verpflichten, indem man sich erklärt, indem man sich für etwas ausgibt - und hingibt, indem man verspricht, dieses oder jenes zu sein. (Die unbedingte Universität, Frankfurt 2001, es 2238. S. 35)

Der pathetische Ton sollte nicht von einem prosaischen Umstand ablenken. Persönliche ANwesenheit und - damit verbunden - individuelle performative Handlungen der Lehrenden und Lernenden machen den Kern des Studiums aus. Lernbehelfe (Mitschriften, Folien, Tonbandaufnahmen etc.) konnten diese Vorgängebestenfalls ergänzen. Die Funktion des digitalen Datenaustausches liegt nicht auf dieser Ebene. Er bietet Gelegenheit, die physische Gegenwart der beteiligten Personen nicht bloß durch "Gedächtnisstützen" zu ergänzen, sondern in eine"Telepräsenz" auszuweiten. In einer elektronischen "Lernplattform" bewegen sich die Akteure ungebunden vom traditionellen Wochenprogramm.

Nach anfänglichem Enthusiasmus (und den entsprechenden Weltuntergangsprognosen) hat sich diese Diskrepanz in der Methode des "blended learning", in der beide Seiten zu ihrem Recht kommen können) eingependelt. Die Kombination ihrer Vorteile ist sicherlich wünschenswert, bleibt aber an der Oberfläche. Konventioneller Unterricht wirddurch elektronisch unterstütze Vermittlungsformen ergänzt; die Frage, wie die Bestandteile der "MIschung" miteinander interferieren, wird in der Regel nicht gestellt. Sie betrifft genau den Punkt, an dem sich zeigen muss, inwiefern eLearning nicht bloß eine Maßnahme zur Verwaltungsvereinfachung, Kostenreduktion und Überwachung, sondern auch zur Bereicherung des Studienangebotes und zur Intensivierung der pädagogischen Prozesse sein kann. Argumente für diesen 2. Aspekt müssen dabei ansetzen, dass Elektronik - speziell das Zeitregime der digitalen Vernetzung - in den Rhythmus der Lebenswelt eingreift und ihn modifiziert. Als Beitrag zu diesem Thema folgen Beobachtungen und Überlegungen zum Einsatz von Wiki-Webs in Lehrveranstaltungen aus Philosophie an der Universität Wien.

Das Erziehungssystem war bisher eindeutig durch das Angebot von Lehrstunden definiert. Zu einem vereinbarten Zeitpunkt treten Instruktoren auf und geben ihr Wissen bzw. ihre Fähigkeiten weiter. Für Hausaufgaben und Selbststudium ist zusätzlich Zeit aufzuwenden, aber sie unterliegt dem Takt der Präsenzveranstaltungen. Die Lebensführung nach diesem Muster passt in eine Welt, in der einmal am Tag die Zeitung erscheint und Obst nur in der Jahreszeit zu kaufen ist, in der es in einer gegebenen Klimazone reif wird. Das Stunden-Verhältnis einer Lehrveranstaltung zum Rest der Woche ist 2:166. Durch digital vernetzte Hilfsmittel ändert sich die Praxis, der entsprechend der Lehrauftritt bestenfalls um einige Zusatzstunden in die Woche hinein verlängert wird. Der Wechsel betrifft nicht das Stundenausmaß, sondern die zeitliche Modalität. Eine internetbasierte pädagogische Veranstaltung greift prinzipiell auf alle 168 Stunden aus. (E-Mail kommt nicht einmal pro Tag.) Dieser bemerkenswerte Umschwung ist noch wenig durchdacht.

Ein Aspekt ist einfach und unkontrovers. Lehrmittel, die bisher in Einzelstücken zur Verfügung standen und großteils an den Wochenplan gebunden waren (Tafelskizzen, Handouts, Folien ...), sind ohne Zeitbeschränkung zugänglich. Skripten können durch digitalisierte Tonaufzeichnungen umstandslos und kostengünstig ersetzt werden. Das sind Beispiele des klassischen Fortschritts. Sie lassen sich allerdings nicht ohne Schwierigkeiten auf andere Bestandteile der pädagogischen Situation übertragen. Die Möglichkeit des zeitlich uneingeschränkten Datenzugriffs kann natürlich nicht bedeuten, dass auch die Beteiligten in dieser Zeitspanne ständig adressierbar sind. Doch hier verschwimmen Grenzen. Es handelt sich nicht bloß um Dateien, die praktischerweise am WWW zugänglich gemacht werden. Kommunikation über E-Mail oder die Diskussion in Web-Foren und Chat-Sitzungen verbinden die Teilnehmerinnen (m/w) auch während des extra-universitären Wochenverlaufes. In der Experimentierphase ist diese Ausweitung der pädagogischen Interventionen oft als selbstverständlich hingenommen worden. Mit ihrer Konsolidierung im Normalbetrieb wird ein zusätzliches Problem sichtbar. Wem "gehört" die Zeit für diese "ausserplanmäßigen" elektronischen Kontakte? Nach welchem Reglement verlaufen die Übergänge zwischen den zweistündigen Segmenten und dem realen Engagement, das virtuelle Gemeinschaften verlangen?

Nach der bisherigen Praxis stünden auch die komplementären pädagogischen Episoden unter dem Einfluss der Lehrpersonen. Die hierarchische Rollenverteilung des persönlichen Unterrichts setzt sich in diesem Fall unter veränderten technischen Bedingungen fort. Die Entwicklung von tendentiell flächendeckend angebotenen "Lernplattformen" folgt diesem Muster. Solche Einrichtungen bieten einen zentral steuerbaren "Cocktail" digitaler Lehrmittel. Dokumente, Diskussionen, Mail-Kontakte, Chats, (Selbst-)Tests, Glossare u.a. können zur Bereicherung der Kernprozesse angeboten werden. Die Diversität des Angebotes erfordert eine übersichtliche Benutzerführung, in der die Optionen auf einen durchgängigen Zweck - das Lehrziel - fokussiert bleiben. Für hunderte Lehrveranstaltungen mit (bisweilen) hunderten Teilnehmerinnen wird die elektronisch unterstütze Didaktik daher zu einer weiteren Begegnung mit "content managment", vergleichbar der Urlaubsbuchung oder der on-line Buchbestellung, die ja auch eine Reihe interaktiver (und instruktiver) Submodule anbietet. Lernplattformen garantieren eine pädagogisch gezähmte Web-Unterstützung. Sie sind allerdings nicht das einzige Modell für diesen Aufgabenbereich.

Weder die Fortschreibung der Pädagogenfunktion, noch die Regulierung des elektronischen Kommunikationsfeldes durch fix strukturierte HTML-Seiten sind selbstverständlich. Sie entwickeln sich aus dem Interesse der großen Ausbildungsinstitutionen an leicht administrierbaren und standardisierbaren digitalen Werkzeugen. Das Internet stellt ganz andere Mittel zur Verfügung, die sich allerdings weniger gut in das lehrzentrierte Paradigma einpassen. Gewöhnlich wird übersehen, dass die Protokollfamilie, die auf TCP/IP aufsetzt, alles andere als eng definierte Ausbildungsgruppen unterstützen soll. Der Fernzugriff auf Rechner (Telnet, ssh), die globale Distribution von Nachrichten und Dateien (NNTP, FTP) und der schriftliche Meinungsaustausch in Echtzeit (IRC) sind Beispiele für die Vielfalt des möglichen elektronischen Transfers. In dieser Umgebung wirken die eLearning-Plattformen mit ihren Kontrollvorkehrungen und auf spezielle Inhalte zugeschnittenen Prozeduren wie "gated communities" in einem gefährlichen, zumindest unerwünschten, Umfeld. Sie sind gleichsam die Aussenposten der Hochschulen im Tagesgeschäft der Wissensvermittlung. (Fragen von Autorenrechten, Copyright und "fair use" spielen dabei eine zunehmend wichtige Rolle.) Quer zu dieser Entwicklung steht das Interesse an Protokollformen und sozialen Konfigurationen, die mehr Gestaltungsfreiheit für die Benutzerinnen zulassen.

Die Zeit, um die es sich hier handelt, ist schließlich nicht "verschult". Das Interesse, in ihrem Verlauf Hausaufgaben zu erfüllen, ist beschränkt. Damit vergibtr das CMS-Modell eine Chance im Übergang vom Wochenplan zum Cyberspace. Die Übertragung des Klassenzimmers in den virutellen Bereich läßt die Möglichkeit aus, den Umgang der Lernenden mit dem pädagogischen Angebot entsprechend den Gebräuchen des Internets zu flexibilisieren. Der Schutz des bekannten Vermittlungsszenarios ist unverträglich mit dem Versuch, weniger kontrollierte Formen des digitalen Austausches als Lernfaktor einzusetzen. Ein zentraler Punkt ist in diesem Zusammenhang die Mitverantwortung aller im Prozess Beteiligten an der Gestaltung der Arbeits- und Kommunikationsumgebung. Das ist keine Forderung einer utopischen Pädagogik, sondern eine direkte Folge aus der Überlegung, dass sich Lehrveranstaltungen, sofern sie die Diversität des Internets nutzen, auch nach den Vorstellungen der Studierenden bestimmen lassen sollten. In eLearning-Plattformen wird das weitgehend unterbunden. Wiki-Webs sind dagegen gerade so konzipiert: kooperatives Schreiben mit minimaler Zugangskontrolle, das allen involvierten Personen die Lust (und Last) der Verantwortung für die Inhalte auferlegt. Wikis sind nicht für den Hochschulunterricht entwickelt worden. Sind sie als Schnittstelle zwischen den Reglements des Studienbetriebs und der Freizügigkeit der vagabundierenden Surferinnen (m/w) geeignet?

Die folgenden Beobachtungen beruhen auf dem 3-jährigen praktischen Einsatz von Wiki-Webs parallel und an Stelle elektronischer Lernplattformen. Die Auswirkungen einer "Wikifizierung" können tiefgreifend sein. Vorweg ist anzumerken, dass Wiki-Webs sich keineswegs von selbst erklären. In einer Vorlesung mit inhomogenem Publikum ergab sich bloß geringes Echo; auch die Ansätze zweier Kolelgen, auf dieser Basis Seminare abzuhalten, waren beschränkt erfolgreich. Bei festgelegtem Lehrveranstaltungstyp scheint die freie Form der Wiki-Interaktion eher aufgesetzt oder sogar irritierend. Der kritische Punkt liegt im Verfügungsrecht über die elektronisch basierte Erweiterung des Kommunikationsprozesses. Zusätzliche Materialien zum Download für eine Vorlesung oder Terminabsprachen über eMail bleiben im Rahmen der eingespielten Hierarchie. Im Wiki-Kontext ändern sich solche Funktionen gründlich. Die Beiträge sind nicht schreibgeschützt;