„Die Moral des Naturschönen“

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Martin Seel versucht, beginnend von einer Ästhetik, die vor allem das Naturschöne zum Gegenstand hat, eine Ethik zu umschreiben, die ihren Ausgangspunkt in den Charakteristiken eines gelingenden Lebens nimmt. Im Prinzip geht es um die Frage: Schließt ein individuell gelingendes Leben zugleich immer ein ethisches richtiges Leben mit ein?

Um diese Frage zu beantworten, müssen zwei unterschiedliche Moralbegriffe unterschieden werden: Eine Moral im weiteren Sinne meint eine Lebensform, die ein individuell gutes und gelingendes Leben zum Ziel hat ohne dabei die Lebensform anderer zu berücksichtigen. Eine Moral im engeren Sinne beinhaltet eine universelle allgemein gültige, richtige Lebensform. Sie verfasst normative Vorschriften, die die Autonomie jedes Einzelnen als das Schützenswerteste hält.

Seel versucht Aspekte einer Moral im weiteren Sinne zu charakterisieren. Ein gelingendes Leben umfaßt Kontemplation, Imagination und Korrespondenz bzw. Kommunikation. Die Merkmale unterscheiden sich durch ihren Bezug zum praktischen, alltäglichen Leben. Ein gelingendes Leben kommt ohne Korrespondenz zur Umwelt und im Weiteren ohne Kommunikation mit anderen Subjekten nicht aus.

Die Natur ist nicht nur existentielle Voraussetzung des Lebens, sondern sie ist auch eine „Vorlage“ für eine ästhetisch gelingende Lebensform. Die Natur als komplexes Ökosystem stellt uns eine Vielzahl gelingender Organismen vor, die ein unglaublich reiches ästhetisches Phänomen repräsentieren. Ohne Kommunikation zwischen Subjekten ist gelingendes Leben unmöglich. Ziel ist die explorative Darstellung der eigenen Weltanschauung, die dem Anderen entgegengestellt wird. Es geht um ein Abstecken von Meinungen, Herausarbeiten von Gemeinsamkeiten und Klarstellen von Differenzen. Aus dieser Synthese entstehen auch neue Weltbilder die für ein gelingendes Leben von großer Bedeutung sind, und gleichzeitig wächst der Respekt vor Anderen.

Als zweites Merkmal ist die Imagination ein wichtiges Teilideal guten Lebens. „Wir, die Denkend-Empfindenden, sind es, die wirklich und immerfort etwas machen, das noch nicht da ist: die ganze ewig wachsende Welt von Schätzungen, Farben, Gewichten, Perspektiven, Stufenleitern, Bejahungen und Verneinungen. Diese von uns erfundene Dichtung wird fortwährend von den sogenannten practischen [sic!] Menschen eingelernt, eingeübt, in Fleisch und Wirklichkeit, ja Alltäglichkeit übersetzt.“ (1) Die Dinge sowie die Natur an sich besitzen keinen Wert. Wir sind es, die die Dinge bewerten. Somit liegt es an uns, Dingen, die uns ein gelingendes Leben ermöglichen, auch den entsprechenden Stellenwert zukommen zu lassen.

Das dritte und letzte Teilideal versucht sich aus dem Teilnahme am Leben völlig zurückzuziehen und versteht sich als eine Art Reinigung – die Kontemplation. Es ist ein Heraustreten aus der Hektik des Alltags. Das Subjekt richtet sich auf kein Objekt und versucht auch gar nicht Dinge theoretisch zu zerpflücken. Es ist reine Anschauung, dessen Vollzug auf kein Ergebnis ausgerichtet ist. Das Subjekt verharrt im Subjektiven. Auch das Kontemplative hat jedoch nur als Teilideal gelingenden Lebens Bestand, da eine Verabsolutierung der reinen Anschauung, wenn es überhaupt möglich wäre, das Leben facettenärmer als facettenreicher machen würde, da das Leben von weiteren Fähigkeiten abseits der Kontemplation ausgeschlossen wird.

Die drei Aspekte guten Lebens liegen einer gelingenden Lebensform zu Grunde. Doch ist ein angenehm schönes Leben zugleich ein Richtiges im engeren Sinne der Moral?

Gelingendes Leben schließt ein richtiges, nach einer universellen Ethik gerichtetes Leben nicht aus, jedoch führt es nicht zwangsläufig in ein solches. Beim reinen Ästhetiker sind die drei Aspekte gleichgestellt. Der reine Ästhetiker springt gleichberechtigt zwischen dem kontemplativen, imaginativen und kommunikativen Teilidealen hin und her. Der Ethiker erkennt ein Primat des kommunikativen Lebens des kommunalen Lebens an. Er fühlt sich der Autonomie der Anderen verpflichtet. Gerät die Kontemplation oder die Imagination der Autonomie Anderer in die Quere, so hat ein Ethiker dies zu unterlassen, im Gegensatz zum Ästhetiker.

Die Natur ist Voraussetzung für Leben. Sie ist die Rahmenbedingung, in dem Leben existiert. Sie sichert uns nicht nur die Existenz, sondern zeigt uns viele verschiedene Arten von Lebensformen, die uns ein gelingendes Leben ermöglichen. Wir müssen der Natur kein Recht einräumen um sie als erhaltenswert in all ihrer Biodiversität zu schützen. Es reicht, die Umwelt als Lebensgrundlage eines jeden Menschen, auch zukünftig lebender Menschen, anzuerkennen. Sie ist sozusagen ein entscheidendes Element der Autonomie eines jeden Einzelnen. Der Mensch, der nach den oben erläuterten ethischen universalen Gesichtspunkten handelt, wird keine weiteren Argumente benötigen, um die Umwelt in ihrer Komplexität erhalten zu wollen.


Welche Umwelt ist schützenswert?

Um diese Frage zu beantworten, muss zuerst der Begriff der Umwelt definiert werden, den ich gleich selbst beschreiben will: Umwelt, ist jede Form des Seienden, die mich umgibt.

Man kann hier differenzieren in Entitäten, die Voraussetzung für die Existenz des Subjektes als ein Seiendes unter vielen sind, und in Dinge, die es nicht sind, die jedoch die Qualität einer Lebensform bestimmen. Lebensnotwendiges, Nahrung, Wasser aber auch Kleidung und Obdach gehören der erstgenannten Kategorie an und stehen daher außer Debatte, wenn es darum geht sie als schützenswert zu erhalten, glaubt man zumindest. Wasser, fundamentale Ressource um menschliches Leben zu erhalten, kann nur als Paradebeispiel für eine existentielle Notwendigkeit angeführt werden. Doch sind die Menschen im Kollektiv gerade dabei jene Ressource qualitativ als auch quantitativ zu schädigen. Was gesellschaftspolitisch als Katastrophe gilt, scheint das individuelle Handlungsmuster Einzelner, die davon nicht betroffen sind, nicht zu beeindrucken. Ein Problem ist die räumliche Verteilung der Wasserverfügbarkeit, die von einer Gleichverteilung aus rein geographischer Sicht schon schwer zu erreichen ist, geschweige denn aus geopolitischer. Der, der Wasser hat, verbraucht es und denkt nicht darüber nach, ob andere an Wasserarmut leiden oder ob das Wasser vielleicht in Zukunft nicht in diesem Ausmaß zur Verfügung stehen wird. Auf der Mikroebene der individuell-sozialen Interaktion werden Handlungen getroffen, die sich nur auf das eigene Subjekt und deren Umkreis beziehen. Betrifft dieses Lebensumfeld keine Wasserarmut, so ist ein Teil der lebensnotwendigen Güter bereits abgedeckt. Soll darüber hinaus das Wohl aller in die Entscheidungsfindung einzelner einbezogen werden, ist die Frage keine existentielle im engeren Sinne, sondern eine ethische. Die Makroebene versucht Rahmenbedingungen zu schaffen, deren Ziel es ist, allen Menschen lebensnotwendige Güter zur Verfügung zu stellen.

Ein großer Teil der Umwelt wie ich sie oben definiere, entstammt nicht menschlicher Geisteskraft (Kultur, Wissenschaft, Technik), sondern ist die Voraussetzung menschlichen Lebens, ist die Natur. Natur, als ein unglaublich komplexer Organismus der verschiedenste Teilsysteme in sich vereint, die wechselseitig voneinander abhängig sind. Die Menschen in der heutigen Gesellschaft sind in der Lage dieses Ökosystem schwer zu beeinträchtigen und tun dies ja bereits, ohne zu wissen (oder wissen sie es doch?), welche Auswirkungen durch ein irreversibles Einwirken auf die Natur zu erwarten sind. Mensch und Natur sind nicht klar abgrenzbare Mengen, sondern der Mensch ist Teil der Natur. Mir kommt es so vor, als würde er versuchen seine Grenzen auszuloten mit der Leichtigkeit eines Kindes, welches sich der Konsequenzen seiner Handlungen nicht bewusst ist. Nur mit Naivität sind die Gründe der Missstände aber nicht abgetan, auch Gesellschaften erweisen sich als komplexes System mit verschiedenen Ebenen und Verflechtungen und lassen daher eindimensionale Kausalitäten nicht zu. Besonders bei Beeinträchtigungen der Natur läßt sich ein Sündenbock nur schwer feststellen. Umweltschädigende Aktivitäten sind selten auf einzelne Menschen zurückzuführen, sie sind ein Ergebnis der kumulativen Anhäufung menschlichen Handelns, das dann in der Masse zu einem Umweltproblem avanciert.

Zurück zur Natur. Sie ist das Umfeld auf dem wir als Menschen überleben können. Der Mensch kann als ein Teilsystem des Ökosystems gedacht werden, das jedoch nur als Ganzes funktioniert. Bei der Wille zur Macht als Wille zur Form spricht Nietzsche darüber, dass sich die Menschen kraft ihrer Selbstreflexivität von ihren seienden Vorgängern, aus denen sie hervorgegangen sind, abnabeln wollen und die Geschicke über ihr Leben selbst in die Hand nehmen wollen. Umgelegt auf ein Umweltverständnis läßt sich eine Verantwortungslosigkeit gegenüber der Natur, aus der wir Menschen hervorgegangen sind, deuten. Der Mensch will seine Autonomie beweisen, indem er sich gegen das wendet, was ihn groß gezogen hat. Gehen wir diesen Weg weiter, endet er in einer existentiellen Sackgasse. Die individuelle Selbstverwirklichung als oberstes Prinzip wurde dann zu weit getrieben.

Die Natur als ein Bild gelingenden Lebens beschreibt Martin Seel in seiner Umweltästhetik. Die Natur ist schützenswert nicht nur weil wir darin überleben können, sondern weil sie uns unzählige Anleitungen vorzeigt, wie ein gelingendes Leben funktionieren könne. Ein Leben das nicht nur über – lebt. All unsere Gedanken, Bilder und Bedürfnisse werden gespeist von unserem Umfeld, das letztenendes auf die Natur zurückgeht. Wollen wir weiterhin uns als Geist – und Lustmenschen weiterentwickeln, muss uns die Vielfalt an Organismen, die uns die Natur bereitstellt, als schützenswert am Herzen liegen. Verarmt die Natur in ihrer Biodiversität verarmt auch der Mensch in seinen Facetten bis er am Ende nur mehr damit beschäftigt ist, am Leben zu bleiben. Nicht erst, wenn die Existenz von Subjekten am Spiel steht, sollte die Natur als schützenswert erhalten bleiben, sondern bereits wenn die Natur an Farben verliert, da dies auch uns Menschen blass werden läßt.


Womit kann die Schützenswürdigkeit begründet werden?

Die Schützenswürdigkeit der Umwelt läßt sich auf mehreren Ebenen begründen. Zum einen, liegt die Schützenswürdigkeit der Umwelt beziehungsweise der Natur (Begriffe wurden in der ersten Fragestellung erläutert) darin, unsere Existenz als Menschen zu sichern. Die Natur gibt den Existenzspielraum vor, ohne sie kein Leben, zumindest in der jetzigen Form. Man muss jedoch unterscheiden zwischen Individuen und der Menschheit als Überbegriff. Der Menschheit als Gattung liegt viel daran, die Natur auch weiterhin bis in die ferne Zukunft hinein zu erhalten. Ein Individuum, das seine Existenz gesichert sieht, wird von anderen Handlungsmustern geleitet. Auch wenn es Teil einer systematischen Naturzerstörung ist, aber dadurch seine eigene Existenz nicht beeinträchtigt wird sondern eher gesichert wird, erscheint es schwierig, eine Eindämmung der Naturzerstörung durch Sicherung der eigenen Existenz zu begründen.

Geht man über die individuell - existentielle Begründung einer schützenswerten Umwelt hinaus, treten normative Handlungsanweisungen auf, die den Kern einer ethischen Verantwortung über eine Schutzwürdigkeit des Umfeldes darstellen. Ethische Imperative sind etwas spezifisch Menschliches, die aus einer reflexiven Geisteshaltung herrühren. Man beginnt Tätigkeiten nach ihren Auswirkungen auf einen selbst und auf andere zu bewerten und konstituiert einen Wertekatalog. An oberster Stelle wird von allen Gesellschaften die Freiheit des einzelnen erkannt. Handle so, dass du die Freiheit des anderen nicht beeinträchtigst. Mit der goldenen Regel ausgedrückt, die in allen großen Religionen und auch bei den Humanisten zu finden ist: Verhalte dich so wie du wünscht, von anderen behandelt zu werden. Dehnt man diese Regel auf eine zeitliche Unbeschränktheit aus, fühlt man sich auch zukünftigen Generationen verpflichtet. Auf die Schützenswürdigkeit der Umwelt umgelegt, bedeutet die Maxime: Lebe so, dass zukünftige Generationen die potentiell selbe Lebensqualität erfahren können wie du sie erfährst. Hier kommt die Umweltverantwortung ins Spiel, weil die Umweltqualität ein substantieller Teil der Lebensqualität ist. Aus dieser Ethik heraus läßt sich die Schützenswürdigkeit der Natur eindeutig begründen. Bleibt nur noch, dass Menschen durch und durch ethisch veranlagte Wesen sind.

Ethische Überlegungen können meiner Meinung nach nur dann zur Anwendung gelangen, wenn die Existenz der einzelnen Individuen auf Dauer gesichert ist. Im Kampf ums Überleben spielt das Schicksal der anderen eine sekundäre Rolle. Darin befinden sich genug Menschen, von denen wir kein ethisches Verantwortungsbewusstsein in der Art und Weise verlangen können, aber von uns, die im Wohlstand leben. Diese Tatsache erkennend, mag man glauben, dass ethisches Handeln, wie es definiert ist, den Menschen nicht in die Wiege gelegt worden ist. Die ethische Maxime muss jedoch als oberstes Prinzip bestehen bleiben auch wenn wir schön langsam erkennen, dass wir Menschen sie in der reinsten Form nie erreichen werden.

Verantwortung gegenüber der Umwelt als Verantwortung für ein gelingendes Leben. Das Leben eines jeden Einzelnen wird im Hier und Jetzt von der Umwelt beeinflußt. Es bedarf möglicherweise keiner ethischen Forderung, um ein Umweltbewusstsein zu schaffen, das über eine existentielle Selbstverantwortung hinausgeht. Eine Verantwortung zu einem gelingenden Leben impliziert eine Verantwortung gegenüber der Umwelt. Die Natur ist der Stoff aus dem gelingendes Leben gemacht ist. Nicht nur der Stoff, sondern auch die Formvorlage für gelingendes Leben. Die Natur bietet uns ein breites Spektrum an verschiedensten Lebensformen und Lebensarten. Gedanken, Ideen, Bilder entstammen diesem Artenreichtum. Wir bedienen uns der Natur als Vorlage für unsere Gedanken, Ideen und Inspirationen. Ein gelingendes Leben ist ein Leben, das die Möglichkeit hat, all ihre Potentiale zu erschöpfen. Laut Martin Seel tut dies der Mensch durch Korrespondenz mit der Umwelt bzw. Kommunikation mit Mitmenschen, Imagination und Kontemplation. Mit Ausnahme der Kontemplation sind diese Aspekte gelingenden Lebens darauf bedacht, die Natur in ihrer ästhetisch reichen Vielfalt zu erhalten, obwohl sich die Ökologie heute mit ökonomischen Kategorien messen muss. Bis heute haben Kollektivgüter wie natürlicher Lebensraum, Boden, Wasser und Luft nicht den Stellenwert in einer Nutzen/Kostenanalyse der ihnen zusteht. In betriebswirtschaftlich gewinnmaximierenden Unternehmen spielen externe Effekte auf die Umwelt keine Rolle, da sie Kosten dafür nicht zu bezahlen haben. Den fundamentalen Wert für ein gelingendes Leben haben Wirtschaftsordnungen noch nicht erkannt. Vielleicht wollen sie nur noch nicht.


Fußnoten:

(1) Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft. Stuttgart: Reclam 2000 (1. Reihe), 539f.


Literaturverzeichnis:

Martin Seel, Eine Ästhetik der Natur, (Frankfurt, Suhrkamp, 1996), {Abschn. 6, Moral des Naturschönen}, S. 288-346.

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