Überredungskunst ? (OSP)

Aus Philo Wiki
Wechseln zu:Navigation, Suche

452d - 453a

SOKRATES: Wohlan denn, Gorgias, denke dir, du werdest so von jenen sowohl als von mir gefragt, und beantworte uns, was doch das ist, wovon du behauptest, es sei das größte Gut für die Menschen, und du der Meister davon.

GORGIAS: Was auch in der Tat das größte Gut ist, Sokrates, und kraft dessen die Menschen sowohl selbst frei sind, als auch über Andere herrschen, jeder in seiner Stadt.

SOKRATES: Was meinst du doch eigentlich hiemit?

GORGIAS: Wenn. man durch Worte zu überreden im Stande ist, sowohl an der Gerichtsstätte die Richter, als in der Ratsversammlung die Ratmänner, und in der Gemeine die Gemeindemänner, und so in jeder andern Versammlung, die eine Staatsversammlung ist. Denn hast du dies in deiner Gewalt, so wird der Arzt dein Knecht sein, der Turnmeister dein Knecht sein, und von diesem Erwerbsmann wird sich zeigen, daß er Andern erwirbt und nicht sich selbst, sondern dir, der du verstehst zu sprechen und die Menge zu überreden.

SOKRATES: Nun, Gorgias dünkst du mich aufs genaueste erklärt zu haben, für was für eine Kunst du die Redekunst hältst; und wenn ich anders etwas verstehe, so sagst du, der Überredung Meisterin sei die Redekunst, und ihr ganzes Geschäft und Wesen laufe hierauf hinaus. Oder weißt du noch etwas weiteres zu sagen, was die Redekunst vermöge, als Überredung in der Seele des Hörenden zu bewirken?

GORGIAS: Keineswegs, Sokrates, sondern du scheinst sie mir vollständig erklärt zu haben. Denn dies ist ihre Hauptsache.


453c - 454c

SOKRATES: Wohlan denn, auch von der Redekunst sage mir, ob du denkst, die Redekunst allein bewirke Überredung oder auch andere Künste? Ich meine nämlich dies, wer irgend etwas lehrt, überredet der in dem was er lehrt oder nicht?

GORGIAS: Bewahre, sondern ganz gewiß überredet er.

SOKRATES: Wenn wir nun wieder auf dieselben Künste zurückkommen wie oben, lehrt uns nicht die Zahlenkunde und der Zahlenkünstler die Größe der Zahlen?

GORGIAS: Freilich.

SOKRATES: Und überredet uns also auch?

GORGIAS: Ja.

SOKRATES: Also auch die Zahlenkunde ist eine Meisterin der Überredung?

GORGIAS: So scheint es.

SOKRATES: Und wenn uns Jemand fragt, in was für einer Überredung und wovon? So werden wir ihm etwa antworten, in einer belehrenden von dem Graden und Ungraden, wie groß es ist. Und auch alle andern eben angeführten Künste werden wir zeigen kennen, daß sie Meisterinnen der Überredung sind, und was für einer und wovon? Oder nicht?

GORGIAS: Ja.

SOKRATES: Nicht also die Redekunst allein ist Meisterin der Überredung.

GORGIAS: Freilich nicht.

SOKRATES: Da nun nicht sie allein dieses Werk hervorbringt, so möchten wir wohl mit Recht, eben wie bei dem Maler, den der dies gesagt, hernach weiter fragen, die Kunst was für einer Überredung und wovon, ist wohl die Redekunst? Oder hältst du es nicht für Recht, dies weiter zu fragen?

GORGIAS: Ich wohl.

SOKRATES: So antworte denn, Gorgias, wenn es dich auch so dünkt.

GORGIAS: Jener Überredung also sage ich, Sokrates, welche an den Gerichtsstätten vorkommt, und bei den andern Volksversammlungen, wie ich auch schon vorhin sagte, und in Beziehung auf das, was gerecht ist und ungerecht.

SOKRATES: Das ahnte ich auch, daß du diese Überredung meintest, Gorgias, und in Beziehung hierauf. Wundere dich aber nur nicht, wenn ich dich auch bald wieder einmal um so etwas frage, was deutlich zu sein scheint, und ich frage doch erst darnach. Denn wie gesagt, um in der Ordnung die Rede zu Ende zu bringen, frage ich dergleichen, nicht deinetwegen, sondern damit wir uns nicht gewöhnen, halbverstanden einander das Gesagte vorweg zu nehmen, sondern du deinen Satz ganz nach deiner Ansicht durchführen mögest, wie du selbst willst.


454c - 455a

SOKRATES: So komm denn, laß uns auch dies überlegen: du sagst doch bisweilen, man habe etwas gelernt?

GORGIAS: O ja.

SOKRATES: Auch man habe etwas geglaubt?

GORGIAS: Ich gewiß.

SOKRATES: Dünkt dich dies nun einerlei, gelernt haben und geglaubt? Erlerntes Wissen und Glauben? oder verschieden?

GORGIAS: Ich, o Sokrates, meine, es ist verschieden.

SOKRATES: Und gar recht, meinst du. Du kannst es aber hieraus erkennen. Wenn dich jemand fragte, gibt es wohl einen falschen Glauben und einen wahren? Das würdest du bejahen, denke ich?

GORGIAS: Ja.

SOKRATES: Wie? Auch eine falsche Erkenntnis und eine wahre?

GORGIAS: Keineswegs.

SOKRATES: Offenbar also ist nicht beides einerlei.

GORGIAS: Du hast Recht.

SOKRATES: Doch aber sind sowohl die Wissenden überredet als die Glaubenden.

GORGIAS: So ist es.

SOKRATES: Willst du also, wir sollen zwei Arten der Überredung setzen, die eine welche Glauben hervorbringt ohne Wissen, die andere aber welche Erkenntnis?

GORGIAS: Allerdings.

SOKRATES: Welche von beiden Überredungen also bewirkt die Redekunst an der Gerichtsstätte und in den andern Volksversammlungen und in Beziehung auf das Gerechte und Ungerechte? Aus welcher das Glauben entsteht ohne Wissen? Oder aus welcher das Wissen?

GORGIAS: Offenbar doch, Sokrates, aus welcher das Glauben.

SOKRATES: Die Redekunst also, Gorgias, ist wie es scheint Meisterin in einer glaubenmachenden nicht in einer belehrenden Überredung in Bezug auf Gerechtes und Ungerechtes.

GORGIAS: Ja.

SOKRATES: Also belehrt auch der Redner nicht in den Gerichts- und andern Versammlungen über Recht und Unrecht, sondern macht nur glauben. Auch könnte er wohl nicht einen so großen Haufen in kurzer Zeit belehren über so wichtige Dinge.

GORGIAS: Wohl nicht.



zurück zu Das Demokratiedilemma (OSP)