"die zentralen Ergebnisse zu bündeln" (BD14)

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eLearning und weitgehend "verlustfreie Komprimierung"

Beitrag von --Euphon (Diskussion) 00:30, 1. Nov. 2014 (CET)

Dieser Eintrag bezieht sich auf die kurze Textstelle betreffend die "Kritik der Bildungsexperten" im Kapitel "eLearinig" auf der Seite: "Mail, Telnet, Chat, MUD (BD14)"und beschäftigt sich mit dem Begriff "bündeln", auf den im Kommentar zur Textstelle verwiesen wurde.

Ein anderes Wort für „bündeln“ ist, in der Sprache der Informatik, „komprimieren“. Wichtig für den Begriff „Komprimierung“ ist der Unterschied zwischen „verlustfrei“ und „nicht-verlustfrei“. Gehen bei der Komprimierung Daten verloren, spricht man von einer „verlustbehaftete Komprimierung“ (siehe etwa: mp3, jpg, gif).

Wenn Schulen Inhalte „bündeln“ müssen, schaffen sie es auch, diese – als „Lerninhalte“ wieder entpackt – verlustfrei wieder herzustellen? Dies scheint aus mehreren Gründen nicht der Fall zu sein:

  • Als Ergebnis zeigen die Lerninhalte nicht die Kontroversen, die zu dem Ergebnis geführt haben.
  • Der Weg, den das Erklärte genommen hat, wird stark verkürzt, so weit, dass es unmöglich wird, das, was zu der Erkenntnis dessen geführt hat, was als „Lerninhalt“ präsentiert wird, nachvollziehen zu können.
  • Die Animierung von Seiten dessen, was erklärt werden soll, geht verloren; der Inhalt wird langweilig.

Anhand von einem Beispiel sollen die drei Punkte verdeutlicht werden: Wenn in der Schule ein Thema wie „Unser Planetensystem“ erläutert werden soll, dann werden Kopernikus, Kepler und Galilei erwähnt, vielleicht noch Bradley. Natürlich waren dies nicht die einzigen Theoretiker, es gab – wie in Wissenschaften üblich – verschiedene Ansätze, Einwände und Ablehnungen. Es wurden viele Seiten an Text produziert und in Umlauf gebracht, es wurden Gerätschaften angefertigt und verbessert, es wurden Gerichtsverhandlungen geführt an die sich Überlegungen darüber anschlossen, was publiziert werden konnte, usw. Der Großteil der Kontroversen, die in der Thematik „Unser Sonnensystem“ verpackt liegen, geht bei der Entkomprimierung in der Schule verloren. Die Dinge werden so dargestellt, als ob es keine anderen Ansichten außer die erwähnten gegeben und ein reibungsloser Übergang von einer zur anderen stattgefunden hätte. Wie die Ansichten sich in der Biographie der erwähnten Autoren entwickelt haben, wird weggestrichen und nur das Ergebnis der Forschungsarbeit wird präsentiert. Dass die den erwähnten Wissenschaftlern zugeschriebenen Erkenntnisse diesen nicht schlagartig eingefallen sind, sondern eine mühsame Auseinandersetzung mit verschiedenen Theorien notwendig war, wird vielleicht erwähnt, die genauen Schritte hin zu den Erkenntnissen können jedoch nicht genau dargestellt werden, da dies den Rahmen der begrenzten Zeit, die für die Thematik im Unterricht veranschlagt wurde, sprengen würde. Die Auseinandersetzung mit früheren Theorien, das Eingehen auf Kleinigkeiten, die Interpretation verschiedener Berechnungsformeln u. ä. werden in Hinsicht auf das zu vermittelnde Ergebnis der Forschungen hintan gestellt.

Bis hier scheint die Verkürzung noch nachvollziehbar zu sein; wieso sollte dem Lernenden zugemutet werden nachzuvollziehen, was – bezogen auf die Kontroversen – über mehrere Jahrhundert hinweg von vielen Forschern diskutiert wurde und was – auf den Weg hin zur Erkenntnis des einzelnen Forschers bezogen – Vorkenntnisse voraussetzt, welche die Lernenden nicht haben? Das Weglassen dieser Informationen spart Zeit und schafft Klarheit.

Problematisch wird die Form der Komprimierung, die diese Informationen wegkürzt, wenn der dritte Aspekt relevant wird, der die Fragwürdigkeit der verlustfreien Komprimierung ausmacht: Bloß die Ergebnisse und nur einen richtigen Weg, um zu ihnen zu gelangen, zu präsentieren heißt spoilern. Unter dem relativ neuen Begriff „spoiler“ versteht man das Vorwegnehmen von z. B. dem Ende eines Films, was die Spannung für den zerstört, der den Film noch nicht kennt und diese noch erleben will; der Film wird langweilig.

Werden in der Schule Erkenntnisse als Resultate präsentiert, spart das Zeit und ist in vielen Fällen dienlich und angebracht. Das Problem ist, dass die verlorengegangenen zusätzlichen Informationen nicht mehr vorhanden sind oder keine Zeit für die Beschäftigung mit ihnen im Lehrplan vorgesehen wird, falls sich einzelne Lernende doch mit ihnen beschäftigen wollen. In diesem Fall wird der Lernerin das Abenteuer des Wegs, das zu dem Resultat geführt hat, vorenthalten; sie wird sofort zum Ergebnis teleportiert, ohne einen Blick auf die Strecke werfen zu können, die sie beim Teleportieren zurücklegt. Die „übersprungenen“ Informationen sind aus dem Lehrplan ausgeschlossen und die Lernerin ist auf außerschulische Angebote verwiesen oder auf einen Lehrer, der sich außerhalb der Schulzeit noch Zeit für sie nimmt und zudem noch zumindest rudimentäre Fachkenntnisse auf dem relevanten Gebiet hat. Ein solcher Lehrer würde z. B. nicht einfach nur Shakespeare anhand der Motive seiner Stücke und der Charaktere darin darstellen, sondern mit den Lernenden ein Stück des Poeten inszenieren, so wie dies der amerikanische Pädagoge Rafe Esquith mit aufgrund ihres familiären und sozialen Hintergrunds als hoffnungslose Fälle abgestempelten Jungendlichen einer der berüchtigtsten Highschools in Kalifornien gemacht hat und dabei erstaunliche Resultate erzielte. Herr Esquith ist sicher kein Einzelfall, hätten Lehrer die Möglichkeit, zusätzliche Informationen in dem Fall zur Verfügung zu stellen, in dem Lernende ausdrücklich danach fragen, würden das wohl die meisten auch tun, allerdings scheint dies das „herkömmliche“ Schulsystem weitgehend unmöglich zu machen. Hier fällt der „herkömmlichen“ Schulerziehung die Zeitersparnis und die „Schonung“ der Lernenden sozusagen in den Rücken. So effizient es sein mag, Relevantes heraus zu filtern, so leblos und langweilig macht es den Stoff für Interessierte und untergräbt die Absicht, Inhalte eingehend erschließen zu wollen, weil diese mit der Komprimierung verloren gehen.

Was ist mit „Langeweile“ gemeint? Es gibt im Bereich der Multiplayer-Videospiele den recht martialisch wirkenden Ausdruck „spawn kill“. Ein „spawn killer“ ist jemand, der die Örtlichkeiten, in denen das Spiel stattfindet, so gut kennt, dass er weiß, wo andere Spieler „spawnen“, also das Spiel betreten. An einem günstigen Platz in der Nähe des „spawn spot“, dem Punkt an dem ein Spieler erscheint, positioniert, kann der „spawn killer“ die Erscheinenden sofort durch Abschuss aus dem Spiel nehmen und dafür leicht verdiente Punke kassieren. Egal wie groß das Spielgebiet ist, egal wie gut der erscheinende Spieler ist, der „spawn kill“ funktioniert immer mit hundertprozentiger Sicherheit. Ein solch leicht verdienter Sieg nimmt dem Mitspieler die Lust am Spiel und ist für den „spawn killer“ selbst recht langweilig; es geht diesem in den meisten Fällen gar nicht darum zu spielen, sondern nur um schnell verdiente Punkte. Die Möglichkeit des „spawn kill“ kann als Analogie für die zu sehr komprimierten Unterrichtssituation gesehen werden: beides nimmt den Beteiligten den Spaß und macht das Spielgebiet, so groß es auch sein mag, und die Möglichkeiten, die das Spiel bietet, so vielfältig diese auch sein mögen, weitgehend obsolet. Im Gegenzug ist es eine mehr oder weniger „idiotensichere“ Strategie, um ein Ziel zu erreichen: Notensammeln respektive Punkte sammeln. Natürlich geht es beim Lernen nicht nur um Spaß und Vergnügen, so wie es in den meisten Videospielen der Fall ist, aber der Verweis auf die Langweiligkeit der „spawn kills“ soll die Sinn- und Leblosigkeit von solchen mehr oder weniger todsicheren Strategien verdeutlichen.

Will man die „Lebendigkeit“ erhalten, die einem interessierten Lerner zugänglich gemacht werden soll, ist es notwendig, die Möglichkeit einer möglichst „verlustfreien Komprimierung“ zu gewährleisten. Dies erfordert, die beiden vorher vermeintlich gerechtfertigterweise durch Verkürzung ausgeschlossenen Aspekte der „Kontroversen“ und des „Wegs“ wieder in den Blick zu nehmen. Im Falle des Interesses des Lernenden muss die Möglichkeit gewährleistet werden, diese Aspekte wieder zugänglich zu machen, was jedoch nicht geht, wenn diese nicht irgendwie aufbewahrt wurden. Hier kommt das eLearning ins Spiel. Datenbankunterstütztes Lernen kann, aus Effizienzgründen, auf reine Ergebnisse komprimiert werden. Diese Komprimierung kann im Bedarfsfall weitgehend (so gut es die Datenlage erlaubt) rückgängig gemacht, die aus Effizienzgründen „ersparten“ Inhalte wieder zugänglich gemacht werden. Selbst mit bestem Willen kann kein Lehrer die Menge an Informationen bieten, die eine Datenbank bereitstellen kann.

Ein eLearning-Programm kann - damit komme ich auf das Beispiel: „Unser Sonnensystem“ zurück –, ungleich der bloß verbalen Erklärung eines Lehrers, der Illustration in einem Lehrbuch oder einem Plastikmodell, das unser Sonnensystem zeigt, die Möglichkeit bieten, „Lerninhalte“ so ähnlich zu verstehen, wie die Autoren, um die es in der Vorstellung der Thematik geht. Man kann sich z. B. vorstellen, dass mit Hilfe einer Computersimulation ein einfaches Modell des Sonnensystems von Lernenden entworfen wird, wobei im Vergleich mit der Simulation des realen Vorgangs des Planetenlaufs auffallen wird, dass sogenannte „Planetenschleifen“ sich ergeben werden. Wie solche Schleifen entstehen ist eine Frage, die direkt zu den Überlegungen der oben angegebenen Autoren führt. Eine solche Fragestellung an einem Plastikmodell zu entdecken, ist alleine schon wegen der fehlenden Möglichkeit, die Perspektive des Himmelbeobachters einzunehmen, unmöglich. Eine Simulation – vielleicht von einmal einem geozentrischem, einmal einem heliozentrischem System -, die der Lernende selbst entwirft, führt unweigerlich dazu zu bemerken, was da „nicht stimmt“. Nur wenn die Möglichkeit besteht, das Abenteuer angehen zu können, den Vorgang - unterfüttert mit genug Rechenleistung, die das ganze veranschaulichen hilft - selbst zu erkunden, wird das Erkennen der relevanten Indizien: „Planetenschleifen“, die zu Schlussfolgerungen führen, die auch die Autoren gezogen haben, möglich. Sich von einem Lehrer ein Modell zeigen zu lassen, vielleicht noch ein Video dazu, auf dem ein Planet unter anderen Planeten mit einem roten Kreis markiert ist, um seinem Lauf folgen zu können, vermittelt sparsam und effizient das Wichtigste, das gewusst werden soll, aber den Unterschied auch ohne Lehrer und roten Kreis erkennen zu können, bietet nur eine Simulation, die auf Datenmengen angewiesen ist, die zum einen hinreichend vorhanden sein müssen und zum anderen vom Lernenden manipuliert werden können. Ist die Möglichkeit vorhanden, ermöglicht dies den Lernenden mit ähnlicher „Forscherbegeisterung“ zu bemerken, was auch Kopernikus und Konsorten bemerkt hatten.

Die Verkürzung, die im „analogen“ Unterricht sinnvoll und nützlich ist, erweist sich erst wenn die Möglichkeit einer weitgehend verlustfreien Entpackung durch eLearning-Programme gegenübergestellt wird als problematischer, als es vorher den Anschein hatte. Problematisch ist, dass die „analoge“ Erziehung hauptsächlich Wert auf die „Präzisierung“, im Sinne Alfred North Whiteheads, der Inhalte legt, dabei aber das bloße „Schwärmen“ weitgehend ausschließt. eLearning erlaubt es, wenn vom Lernenden gefordert, das „Schwärmen“ zuzulassen, ohne dabei die Vorteile der Effizienz der Präzisierung zu verlieren. eLearning scheint beides, Schwärmerei und Präzisierung, gleichzeitig zulassen zu können.

--Euphon (Diskussion) 00:30, 1. Nov. 2014 (CET)


Wenn institutionelle Erziehung und Bildung wären wie Berlin

Gleichnis: Erziehung ist wie eine Stadt (Berlin) – Die zentralen Ergebnisse zu bündeln ist wie Tourismus.

Ich besuche Berlin seit 1995 mehr oder weniger regelmäßig habe zwischen 2009 und 2011 dort gelebt. Das Leben in der Metropole zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass man nicht im Vorhinein planen kann, ob und wann man dort etwas erleben wird. Viele kulturelle Initiativen werden „über Nacht“ geboren und sind deswegen auf keiner einschlägigen homepage, in keinem Eventprogramm,und schon gar keinem Reiseführer zu finden. Die durchschnittliche Residentin hat einen Bekanntenkreis, in dem besuchenswerte Ereignisse kommuniziert werden, oder ist in den ihr bekannten Kiezen unterwegs und findet solche zufällig. Oft existieren die Orte, an denen Kulturinitiativen stattfinden, nur temporär und verschwinden so schnell wie sie entstanden sind.

Die Tourismusbranche hat besonders in den letzten fünf bis zehn Jahren das Potential der mit dem Etikett „arm aber sexy“ versehenen Stadt entdeckt und wirbt mit der kulturellen Vielfalt, die sich nur mit wenigen anderen Städten auf der Welt, wie etwa London oder New York, vergleichen lässt. Wer jedoch einmal in Berlin gelebt hat, der weiß, dass jeder Reiseveranstalter zu viel verspricht, wenn er versichert, man werde in Berlin diese Kulturdiversität erleben können, wenn man einen Kurztrip dorthin bucht. Es wird suggeriert, dass man Zufälle buchen könne.

Natürlich kann man die etablierten Kulturstätten wie etwa die Philharmonie, den Walter Gropius-Bau oder die Neue Nationalgalerie, um nur einige zu nennen, erwähnen, aber diese Örtlichkeiten machen keineswegs das Alleinstellungsmerkmal von Berlin aus, das von den Reiseveranstaltern beworben wird; solche oft für lange Zeit fixierten Sehenswürdigkeiten gibt es in so gut wie jeder Stadt auf der Welt. Man muss nicht unbedingt nach Berlin fahren, um „Cats“ zu sehen.

Das Alleinstellungsmerkmal ist die eingangs erwähnte Lebendigkeit der Kulturszene, die sich weitab der etablierten Lokalitäten ereignet und die viel zu beweglich, zu flüchtig ist, um auch nur mittelfristig geplant werden zu können. Es ist schlichtweg Betrug, wenn versichert wird, man werde auf jeden Fall die kulturelle Vielfalt erleben, die Berlin zu bieten hat, wenn man nicht die Zeit und die Muße mitbringt, um sich sozusagen „weitgehend ziellos, nur durch eine grobe Präzisierung der potentiellen Erlebniszonen“ durch die Bezirke zu bewegen. Es kann passieren, dass man eine oder zwei Wochen gar nichts Besonderes erlebt, dann aber wieder etwas atemberaubend Interessantes. Es kann sein, dass man einen Monat lang besonders in Friedrichshain etwas erleben kann und dann wieder im Neukölln. Ohne Zeit, ohne gute Bewegungskondition ist es fast unmöglich, die Lebendigkeit Berlins zu spüren. - Dies allerdings wird von den Reiseveranstaltern in den hochtrabenden Lobhymnen auf die rege Kulturszene so gut wie nie erwähnt; es würde ja auch dem widersprechen, was sie versprechen: gezielt (als auf einen engen Zeitraum beschränkte) reservierbare (also jederzeit und leicht verortbare) Kultivierungserlebnisse.

Wenn institutionelle Erziehung und Bildung lebendig sein sollen, dann empfiehlt es sich dafür das Gleichnis von einer „flüchtigen“ und „zufälligen“ Stadt wie Berlin einzusetzen. Dann ist es schlichtweg zu viel versprochen, wenn behauptet wird, man könne insitutionelle Erziehung und Bildung „buchen“. Es gibt natürlich „langlebige“ Kulturörtlichkeiten, aber diese machen höchstens eine Grundstock der Bildung aus, der nicht ausreicht, um einen auch nur einigermaßen umfassenden Überblick über die Ereignisse der Gegenwart zu bekommen. Wenn dieses „Fixum“ als Bildung verkauft wird, ist das nur ein müder Abklatsch von dem, was Bildung sein kann, wenn Zeit und „Bewegungsfreiheit sowie -kondition“ dafür vorhanden sind.

Sicher, man muss nicht in Berlin leben (das Rad nicht neu erfinden müssen), aber wenn es ohnehin gleichgültig ist, wo man lebt, dann ist es auch gleichgültig, ob und wie man lebt. Das kann doch nicht die Vorstellung von institutioneller Erziehung und Bildung sein...

--Euphon (Diskussion) 11:51, 5. Jan. 2015 (CET)


Ein Beispiel für eine Textform, die eine weitgehend “verlustfreie Entpackung” gewährleisten kann

In einem anderen Eintrag [[1]] habe ich das Beispiel des Hypertext gebracht, den Theodor Nelson folgendermaßen definiert: Voraussetzungen für einen Hypertext sind: 1. Er verweist auf ‘’chunks’’ von anderen Texten und bezieht sich dadurch auf ein Netzwerk und 2. Er zeigt bestimmte “Wege” an, die den Text an einem bestimmten Netzwerk (wie etwa dem “wissenschaflichen”) Anteil haben lassen, oder auch nicht. Diese beiden Aspekte habe ich als die “in”- und die “mit”-Perspektive des Textes bezeichnet.

In diesem Eintrag möchte ich ein Beispiel für eine Art der möglichst “verlustfreien Entpackung” geben und damit die Bemerkungen zum Konzept des “Hypertextes” auf die pädagogische Situation übertragen. Soweit mir bekannt ist, gibt es die Art des Unterrichts, die ich hier vorschlagen möchte, in dieser spezifischen Form bisher nur in den “Orchideenfächern” Bildnerische Erziehung, Musikerziehung, eventuell im Religionsunterricht und in der Leibeserziehung. Mein Anliegen ist, durch das Beispiel, das ich im nächsten Absatz gebe, die Überzeugung stark zu machen, dass die hier vorgestellte Art der Didaktik auf alle Unterrichtsgegenstände übertragen werden kann. Ich hoffe damit einen Impuls geben zu können, um das in dem vorigen Eintrag vorgestellte Problem der möglichst “verlustfreien Entpackung” weiter zu bearbeiten.

Als Beispiel für die Beschaffenheit, die ein Text als Lernobjekt haben könnte, um eine möglichst “verlustfreie Entpackung” gewährleisten zu können, möchte ich die digitale Variante des “Lexikonromans” von Andreas Okopenko, hergestellt von der Wiener Gruppe ‘’Libraries of the Mind’’, bestehend aus dem Schriftsteller A. Okopenko, dem Programmdesigner Wolgang Biró, dem Komponisten Karlheinz Essl, dem Historiker Gerhard Hauptfeld, der Fotografin Christa Kempinger, der Grafikerin Alfgard Kircher und dem Kommunikationswissenschaftler Franz Nahrada, die sich “Elektronischer Lexikonroman” (ELEX) nennt, vorstellen. Die nachfolgenden Zitate stammen von der homepage der genannten Gruppe: [[2]]

Beim ELEX handelt es sich um einen Text, der folgendermaßen beschrieben wird:

Die Grundstruktur des elektronischen Lexikon-Romans ist die des Hypertext, des assoziatives (sic!), am Kontext orientiertes (sic!) Verknüpfen von Textstellen. Das Anklicken des mit einem Pfeil versehenen Stichwortes genügt, und der zugehörige Lexikonartikel erscheint sofort auf dem Bildschirm. Der "Besucher" muss sich nicht merken, welchen Weg er gegangen ist, denn die momentane Position seiner Roman-Reise findet er auf einer Landkarte. […] [U]nd auf einer Stichwortliste kann der gesamte Weg zurückverfolgt werden: die Spur der Lektüren bleibt - jederzeit aktualisierbar - erhalten.

Ein Aspekt, den ich besonders hervorheben will ist:

Im Moment der Projektion durch den "Besucher" entsteht eine künstlerisch gestaltete Welt aus Texten und Bildern, Musik und Stimme - für einen flüchtigen Moment durchaus mitgeteilter Perspektive. Es geht dabei nicht um die Simulation von Welt, nicht um "Virtual Reality", sondern um ihr genaues Gegenteil, um die Konstitution von Welt in der Erzählung

Dieser Punkt kann, auf die Pädagogik angewendet, die besagte möglichst “verlustfreie Entpackung” gewährleisten: Es geht nicht darum eine vorgefertigte Welt zu durchschreiten, also die Lernerinnen in eine Art “Höhle” zu stecken, aus der es nur einen Ausweg gibt, der die Bewegungsfreiheit einschränkt und durch den vorgefertigte, als “pädagogisch wertvoll” zertifizierte Inhalte wie an einer Perlenkette aneinander gereiht werden, um damit einen Sachverhalt oder Zusammenhang in dieser Welt simuliert, sondern darum, einen Raum erst durch die Bewegung darin zum Erscheinen zu bringen. Die überspannende Thematik, die sich am Ende der Wanderung ergibt, ist ein Konstrukt aus einzelnen “Knoten”, also indexikalischen Verweispunkten, die zu einer mehr oder weniger “guten” Konstruktion führen, die als solche bewertet werden kann, indem bestimmt wird, ob sie den Bewertungsmaßstäben des jeweiligen Unterrichtsfaches mehr oder weniger entspricht.

Eine Didaktik dieser Art kann folgendermaßen beschrieben werden: Sie lässt die Lernerin vollkommen im Dunkeln, was die Lernziele anbelangt. Ein Lern-Narrativ ergibt sich durch die “Landschaften”, die man erkundet, die “Artefakte” und “Charaktere” die man findet und die Verknüpfungen, die jede Lernerin zwischen diesen vorgefundenen Aspekten herstellt. Es gibt keine “richtige” Geschichte, also keine einzelne storyline, die das Narrativ möglichst korrekt wiedergibt, sondern nur “gute” und “schlechte” Geschichten, die sich aus den jeweiligen Wanderrouten und Umwegen der Lernerinen ergeben - z. B. indem eine gute Lernerin Aspekte findet, Gegenden auf der “Landkarte”, die anderen Lernerinnen nicht unterkommen, weil sie bestimmte Aspekte nicht finden. Während bei anderen Didaktiken, die nicht dieser netzwerkartigen Konstruktion nach eingerichtet sind, schlechte Lernerinnen nicht das Ziel erreichen, solange sie nicht gut genug sind, um alle Aufgaben zu bewältigen, erreicht hier jeder ‘’ein’’ Ziel, muss zumindest etwas vorweisen, nur eben entweder in Windeseile, ohne dass viel dabei hängenbleiben würde - aber auch ohne dass “das Rad jedesmal neu erfunden” werden müsste, was in bestimmten Momenten vorteilhaft sein kann - oder langsam und mit vielen Umwegen, die die Lernwelt der Lernerin erheblich erweitern und “lebendig” machen.

Eine gewisse “Minimalkompetenz” muss natürlich erreicht werden, damit das Unterrichtsfach absolviert werden kann, allerdings ist die Variationsbreite der Skills der Lernerinnen sehr groß und reicht von derjenigen Lernerin, die das Fach in der Mindestzeit absolviert bis hin zu der Lernerin, die das selbstgeschaffene Setting maximal ausreizt. Auf diese Bandbreite einzugehen bereitet jeder Pädagogik Probleme, die sich eher dem “Höhlen”-Modell verschreibt. Natürlich gibt es in der neueren Pädagogik Ansätze, um die Wege, die die Lernerinnen gehen, zu verbreitern, so wie etwa Projektarbeiten in Kleingruppen oder Hausarbeiten, die Eigeninitiative verlangen. Allerdings ist der Versuch, die Begrenzungen weitläufiger zu setzen, die Wände des “Schlauchs” flexibler zu gestalten, immer noch etwas vollkommen anderes als, so wie es in dem oben angeführten Zitat angesprochen wurde, das Narrativ des Unterrichtsgegenstands aus der Bewegung im jeweiligen Milieu heraus entstehen zu lassen. Die Variante des “flexiblen Schlauchs” führt, um es salopp zu sagen, zur “Nachilfekultur”, die entsteht, wenn Vorgaben (das ‘’Wie’’ etwas zu tun ist) unterbestimmt werden, während die Anforderungen (das ‘’Was’’ zu tun ist) gleich rigide bleiben. Eine solche Kultur des vermeintlichen Öffnens der Vorgaben verursacht Unsicherheit, solange die Anforderungen in Form des Schlauchs bestehen bleiben. Die Unsicherheit wird zu Freiheit, wenn zusätzlich zu der Offenheit der Vorgaben auch die mehr oder weniger flexible schlauchartige Höhle zu einer offenen Welt wird, die sich erst durch das Erkunden konstruieren lässt. Das Beispiel des Lexikonromans scheint meiner Meinung nach zu verdeutlichen, dass eine Öffnung der Vorgaben zusätzlich zu einer Öffnung der Anforderungen nicht nur möglich, sondern auch sinnvoll ist, dass es nicht zur Beliebigkeit führen muss, keine Welt zu simulieren, sondern diese konstruieren zu lassen und dass zudem aus Unsicherheit und Überforderung Eigeninitiative (unter Beibehaltung der Möglichkeit der Bewertung des eigenen Status, der Lokalisation in der selbst entworfenen Welt) und Eigenanspruch (unter Beibehaltung einer bestimmten Bewertungsmöglichkeit von außen) werden können.

Euphon (Diskussion) 12:45, 12. Sep. 2015 (CEST)