"Grenzen der Naturbetrachtung"

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Welche Umwelt ist schützenswert?

Martin Seel findet in seinem Buch „Eine Ästhetik der Natur“ neue Antworten auf die oben genannte Frage. Dieser Essay soll Seels Thesen kurz zusammenfassen.

In einer Natur, wie wir sie heute erleben, in der nahezu jeder Flecken Erde bereits vom Menschen betreten, erfasst, kultiviert oder zumindest allein durch die Tatsache der Anwesenheit des Menschen auf diesem Planeten eine Veränderung erfahren hat, ist es zweifelhaft, nur jene Natur schützen zu wollen, die „eigenmächtig“ ist. Sicherlich ist die Eigenmächtigkeit der Natur nach wie vor ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen Natur und Kultur. Natur entsteht ohne Zutun des Menschen, „von allein“. Kultur geschieht durch den Menschen. Schützenswert kann aber für den Menschen des 21. Jahrhunderts nach Martin Seel nicht allein die eigenmächtige Natur sein (1). Seel gibt zu bedenken, dass ein Großteil der Natur heute durch Menschen kultiviert ist, man denke an Ackerbau, Parks, Golfplätze, Gärten usw. In diesem Zusammenhang verweise ich auf ein künstlich vom Menschen geschaffenes Naturparadies beim Bau des Donauwasserkraftwerks Melk. Hier wurde im Zuge des notwendigen Eingriffs in die Natur ein künstlicher Seitenarm mit Aulandschaft geschaffen, der sich binnen zehn Jahren zum Paradies für Flora und Fauna entwickelte. Diesen nicht schützen zu wollen, wäre wohl nicht im Sinne der Menschen. Seel argumentiert sinngemäß:

„Wir müssen die Unterscheidung [zwischen eigenmächtiger Natur und menschlicher Kultur] so abschwächen, dass wir auch das umstandslos als Natur verstehen können, was ohne beständiges Zutun des Menschen entsteht und vergeht“(1).

Der Mensch kann zwar das Werden der Natur durch Eingriffe, sei es durch bauliche oder gentechnische Maßnahmen beeinflussen, er kann dieses Werdern jedoch nicht selbst machen. Seel weist darauf hin, dass es einen naturwissenschaftlichen Umgang mit der Natur gibt, welcher forscht und klassifiziert. Diese Natur wäre aber „methodisch objektiviert“(2), sie wäre eine rein theoretisch gedachte. Ebenso kann die Frage welche Natur denn schützenswert sei, nicht mit ökonomischen Maßstäben begründet werden. Ein instrumentell-technisches Naturverständnis, welches Natur als nur als Rohstoffreservat für den Menschen ansieht, und die Schützenswürdigkeit mit dem Nutzen der Natur für den Menschen begründet, greift nach Seel zu kurz. Er findet den Begriff der „problematischen Natur“, welchen er wie folgt von den anderen unterschieden wissen will. Natur kann nicht nur theoretisch bzw. aus ihrer Verwertbarkeit her verstanden werden, sondern die Menschen müssen sich in einem „lebensweltlich-praktischen“(3) Verhältnis zur Natur verstehen. Uns muss klar sein, dass Natur in der Realität - im Hier und Jetzt - vom Menschen zerstört werden kann. Dieser Umstand macht das „Problematische“ an der Natur aus. Diese real erfahrbare, beeinflussbare Umgebung des Menschen ist für Seel jene Natur, die schützenswürdig ist.

Andererseits muss sich jede Kultur als Lebensform inmitten einer Wirklichkeit der Natur begreifen, die sie, die Kultur, als eine Dimension ihres Bestehens anerkennen muss. Schwierigkeiten mit der Natur - und mit ihrer Bestimmung als Natur – zu haben, liegt deshalb in der Natur jeder Kultur (4).

Das bedeutet auch, dass dieses Verhältnis für jede Generation neu zu bestimmen ist. Seel zeigt auf dass auch ökologische Konzepte sowie die genannten naturwissenschaftlichen oder ökonomische Konzepte für ihn zu kurz greifen. Weder Ökologie und Ökonomie, noch Tierethik und Ästhetik können ein den anderen Kriterien überlegenes Kriterium des richtigen Naturverhältnisses liefern(5). Gewiss, Naturschutz als solcher, Tierschutz, Respekt vor der Natur als eigenständiges Werden und auch das Achten auf den Umgang mit Naturreserven finden sich in Seels Argumentation inkludiert. Er findet aber über den ästhetischen Umgang mit der Natur ethische Gründe für deren Schützenswürdigkeit. Dazu mehr im zweiten Essay.

Zusammenfassend würde ich auf die Frage, welche Umwelt schützenswert ist – der Argumentation Seels folgend – in meinen Worten antworten: Als schützenswürdig müssen wir heute jede – ob vom Menschen beeinflusste oder frei entstandene Natur – empfinden. Es ist jene Natur schützenswert, welche wir praktisch erfahren können, d.h. von der wissen, dass unser Handeln in dieser Gegenwart Auswirkungen auf sie haben kann. In einer Welt, wo die technischen Errungenschaften der Menschen Auswirkungen auf den gesamten Planeten haben oder haben können (CO2-Ausstoß, Atomkraft, usw.), dehnt sich die lebensweltlich-praktisch erfahrbare Sphäre, in der Umwelt geschützt werden soll, von dem einem einzelnen Menschen erfahrbaren Anblick z.B. eines Waldes auf den gesamten Globus aus.


Womit kann die Schützenswürdigkeit der Umwelt begründet werden?

Der Versuch einer Beantwortung dieser Frage wird im folgenden Essay auf der Grundlage der Thesen in Martin Seels Buch „Eine Ästhtik der Natur“ vorgenommen.

Seel zeigt auf, dass die bisherigen Einstellungen zur Natur, welche sie entweder als Vorbild für oder als Nachbild des Menschen sehen, nicht länger haltbar sind. Bisher „gilt die Natur als ein Muster unseres Erkennens, unseres Herstellens, unserer Lebensführung; auf der anderen Seite gelten die Hervorbringungen des Menschen als das Muster, dem das Handeln auch gegenüber der Natur zu folgen hat.“(6) Diese beiden gegensätzlichen Einstellungen zur Natur sind dann in vielen Unterarten menschlichen Handelns gegenüber der Natur zu finden. Einerseits ist es die normative Einstellung zur Natur, welche jene als Vorbild für menschliche Praxis ansieht und dadurch den Schutz der Natur aus einem Recht der Natur herleitet, andererseits die neuzeitlich-instrumentelle Einstellung zur Natur, welche Natur als gestaltloses Material für menschliches Handeln betrachtet, und ihren Schutz im Namen menschlichen Interesses an einer lebbaren Umwelt fordert. Seel widerspricht beiden Thesen:

„Die Kriterien unserer Erkenntnis der Natur, auch wo es naturalistische sind, sind keine Kriterien der Natur. Nur unsere Maßstäbe können für uns Maßstab sein: Hinter dieses kantische Bewusstsein kann heute niemand zurück“(7).

Für Seel bedeutet die Ablehnung der naturalistischen Position aber keine Verabsolutierung der anti-naturalistischen, instrumentellen Haltung der Natur gegenüber. Die Natur hat gegenüber dem Menschen etwas Eigenständisches, das anerkannt werden muss und nicht blind dem menschlichen Tun zur Verfügung steht. Die Natur unterliegt also den Kriterien des menschlichen Handelns nicht einfach, sondern sie stellt Bedingungen an menschliche Praxis. Seel fordert eine Anerkennung dieser Differenz von Natur und menschlicher Leistung, damit aber auch eine Anerkennung sowohl der Natur als auch des kulturellen Handelns. Somit kann die Schützenswürdigkeit der Natur nur begründet werden, wenn man sich die „Frage nach dem richtigen Verhältnis zwischen unseren Verhältnissen gegenüber der Natur“(8) stellt. Diese Frage beginnt für Seel mit der Anschauung. Am Beginn seiner Untersuchung stellt er deshalb den ästhetischen Umgang des Menschen mit der Natur in den Mittelpunkt. Dabei finden sich drei wichtige Formen: Natur als Raum der Kontemplation, Natur als korrespondierender Ort und Natur als Schauplatz der Imagination. Das ästhetische Erleben von Natur als Kontemplation ist ein Erleben in reiner Anschauung gepaart mit interesselosem Bewusstsein, welches auch die permanente Veränderungsmöglichkeit des Angeschauten mit einschließt. Das ästhetische Erleben von Natur als korrespondierendem Ort ist ein Erkennen von Natur als sinnenfällige Korrespondenz mit dem eigenen Leben, weil sie „...gestaltender Ausdruck der durch sie eröffneten Wirklichkeit des Lebens“(9) ist. Das Erleben von Natur als Schauplatz der Imagination ist als ein Spielen des Menschen mit den gegebenen Formen der Natur, welche uns auch zur Phantasie anregen, anzusehen. Allerdings ergeben sich aus den drei genannten Varianten ästhetischen Umgangs mit der Natur noch keine zwingenden Begründungen für ihre Schützenswürdigkeit. Der Argumentation Martin Seels folgend, kann dies erst gelingen, wenn man die ethische und moralische Bedeutung dieser ästhetischen Phänomene erkennt. Durch die drei oben genannten Möglichkeiten ästhetischen Umgangs mit der Natur kann der Mensch feststellen: „Als ein einzigartiger Modus erfüllter Zeit ist das Naturschöne eine ausgezeichnete Lebensmöglichkeit des Menschen.“(10) Alle drei Varianten ästhetischen Umgangs mit der Natur haben also auch beispielhafte Wirkung für eine ethisch gelingende Lebensführung, wobei keiner dieser Varianten ein Vorzug gegenüber einer anderen eingeräumt wird. Seel hält die aus der Ästhetik gewonnene ethische Relevanz der Natur für menschliches Leben in folgender Definition fest:

"Das Naturschöne ist diejenige lebensweltliche Wirklichkeit, die zugleich anschauliche Intensivierung, anschauliche Präsentation und anschauliche Suspension eines nicht allein subjektiven Entwurfs vom Leben, einer nicht allein subjektiven Sicht der Dinge ist"(11).

Da für ein gelingendes Leben ebenso die Freiheit des Mitmachens bei, des Sich-Zurückhaltens von und des Vorstellens von bestimmten Möglichkeiten intersubjektiven Lebens notwendig ist, ergibt sich die Schützenswürdigkeit der Natur letztendlich aus diesem Zusammenspiel zwischen Ästhetik und Ethik. Natur ist also nicht nur schützenswert, weil sie lebensnotwendig ist, sondern weil sie uns auch gelingende Lebensmöglichkeiten aufzeigt. Die Begründung liegt in dem Begreifen unserer Verhältnisse gegenüber der Natur:

„ Der gebotene >Respekt vor der Natur< erweist sich als Respekt vor einer unersetzlichen Lebensmöglichkeit des Menschen.“(12)

Kritik an Seels Ausführungen ist an der Art und Weise seiner Definition der Schützenswürdigkeit der Natur angebracht. Wenn er den Begriff der Schönheit der Natur dem Begriff der Ökologie als richtiges Naturverhältnis vorzieht (13), verlangt er möglicherweise von den Menschen zuviel. Denn dadurch ergibt sich in Hinsicht auf die Erhaltung der Natur folgendes Problem: Seel stuft die Tatsache, dass Natur als eine ästhetische und ausgezeichnete Lebensmöglichkeit des Menschen erlebt werden kann, in Hinblick auf die Schützenswürdigkeit der Natur höher ein als die Tatsache, dass Natur für uns Menschen selbst lebensnotwendig ist. Nun erleben aber nicht alle Menschen die Natur so wie der Philosoph bei seinen Spaziergängen am Bodensee als Ort der Kontemplation.

Im Gegenteil, wenn man die Massen von Ausflüglern am Wochenende beobachtet, wird man größtenteils ein konsumistisches denn ein kontemplatives Naturverhältnis erkennen. Auch Unternehmer und Politiker auf Standortsuche für eine Fabrik geraten beim Anblick einer Gegend nicht unbedingt in eine ästhetisch/ethische Reflexion. Die neueste Untersuchung der United Nations Environement Programme (UNEP), wonach 6,4 Millionen Tonnen Müll jährlich in die Weltmeere gekippt werden (14), ist nur eines von vielen Beispielen, welche von einem Umweltbewusstsein zeugen, das nicht glauben will, dass die Natur für die Menschheit (über-)lebensnotwendig ist. Deswegen wäre schon viel gewonnen, sollte sich der Sachverhalt der Lebensnotwendigkeit erst einmal im kollektiven Naturverständnis und im kollektiven Handeln der Menschheit manifestieren, bevor man beginnt zu fordern, Menschen mögen doch die Natur aufgrund ästhetischer und ethischer Überlegungen schützen.

Dieses Argument trifft allerdings in keiner Weise inhaltlich den Text und die Argumentationsfolge von Martin Seel. Der Schwachpunkt liegt hier mehr bei unzureichenden Lernfähigkeit der Menschheit im Umgang mit der Natur. Wenn Natur das ist, was „von alleine“ entsteht (15), so entsteht beim menschlichen Denken gar nichts von alleine. Hier ist Kommunikation und Aufklärung nötig, um eine Veränderung oder Neuschaffung von Bewusstseinsinhalten möglich zu machen. Und in dieser Hinsicht erscheint das Argument der Lebensnotwendigkeit ein besseres Mittel zur Veränderung des kollektiven Naturbewusstseins als das Argument der ästhetischen Anschauung.

Abschließend möchte ich feststellen, dass ich Seels Position weitgehent teile. Das von mir oben vorgebrachte Argument zielt eher auf Probleme bei der praktischen Umsetzung einer ästhetisch/ethischen Naturreflexion denn auf inhaltliche Schwachpunkte in Seels Text. Ich habe die Lektüre nicht nur genossen, sondern sie hat sogar mein persönliches Verhältnis zur Natur in eine qualitativ höhere Stufe gebracht.


Fußnoten: (1) Seel, Martin: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt am Main, Suhrkamp 1996. S. 21

(2) Ebd.

(3) Ebd., S. 22

(4) Ebd., S. 22

(5) Ebd., S. 26

(6) Vgl. edb., S. 31

(7) Ebd., S. 11

(8) Ebd., S. 14

(9) Ebd., S. 15

(10) Ebd., S. 136

(11) Ebd., S. 288

(12) Ebd., S. 332

(13) Ebd., S. 288

(14) Ebd., S. 31

(15) http://www.orf.at/?href=http%3A%2F%2Fwww.orf.at%2Fticker%2F330383.html 08. 06. 2009, 14 h 21

(16) Seel, Martin: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt am Main, S.21