"Grenzen der Naturbetrachtung"

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1. Es muß nicht Natur sein

Mit der Untersuchung einer Ästhetik der Natur aus dem ethischen Blickwinkel kann Seel seine Reflexionen noch nicht abschließen. Es wäre absoluter Irrglaube, wenn man an dem Punkt stehen bliebe, wo „... ein Leben mit schöner Natur der Inbegriff des guten Lebens“ (1) sei. Zwar ist die Anwesenheit des Naturschönen ein herausragendes Dasein des Guten und besonderes Beispiel für die Form gelingenden Lebens, allerdings liefert die ästhetische Einheit der Natur auch einen nicht allumfassenden Begriff vom guten Leben. Deshalb formuliert Seel seine bisher gewonnenen Thesen noch einmal, und macht sie Gegenstand weiterer Erkundungen.

1. Das Naturschöne ist nicht irgendein Gutes, sondern ethisch Gutes, d.h. eine allgemeine Situation gelingenden Lebens. 2. Das Naturschöne ist nicht irgendein ethisch Gutes, sondern eine für die Form solchen Gelingens überhaupt paradigmatische Situation. 3. Im günstigen Verhältnis der ästhetischen Stellungen zur Welt ist eine Form der schlechthin günstigen Stellung zur Welt gegeben. (2)

Daraus folgt aber auch, dass man die Struktur von ethisch korrektem oder gelingendem Leben nicht allein aus der ästhetischen Anschauung der Natur ableiten muss. Es müsste nicht die Ästhetik der Natur sein, aus der man die ethischen Regulative für ein gelingendes Leben gewinnt, da diese Ästhetik nicht allumfassend ist. Zwar würde einem Leben, welches mit einem Bewusstsein ohne ästhetische Anschauung auskommt, um eine Dimension der menschlichen Fähigkeiten beraubt sein, ein gelingendes könnte es trotzdem sein. Und ein Leben unter allein ästhetischen Gesichtspunkten wäre vor allem der für ein gelingendes Leben notwendigen Fähigkeit zur „... kommunikativen Teilnahme an einem kommunalen Leben...“(3) beraubt. Nach Seel liegt in dieser scheinbaren Schwäche der Ästhetik der Natur aber auch die Stärke der ethischen Argumentation, die aus der Untersuchung der Ästhetik gewonnen wird. Eben weil das Naturschöne kein allumfassendes Reglulativ ist, sondern eine Momentaufnahme erfüllter Zeit ist, in der „...die Bedingungen der Möglichkeit sozialer Freiheit...“ erfahrbar werden, ist es ein Gegenstück zu theoretischen individuellen und sozialen Idealvorstellungen des Lebens.


2. Zweierlei Interaktion

Aber auch das Primat des Modells von gelingender Kommunikation in einem kommunalen Leben ist anzweifelbar. Der Argumentation Seels folgend, müssen kommunikative Verhältnisse immer auch für kontemplative und imaginative Phänomene offen sein, wenn es gut gelingende sei sollen. Die Bestimmungsmerkmale, die Seel bei der Untersuchung der ästhetischen Kontemplation und der ästhetischen Imagination festgestellt hat, zeigten aber gerade bei jenen beiden Modi menschlichen Verhaltens ein Fehlen von kommunikativem Handeln. Also sind die Modelle der Ästhetik und der Ethik (Kommunikation) in folgendem Verhältnis:

„Die Schwäche des einen Modells ist die Stärke des anderen. Betont das eine die phänomenale Interaktion auf Kosten der personalen, betont das andere die personale Interaktion auf Kosten der phänomenalen. Gelingendes Leben aber ist beider Gelingen.“(4)

Das bedeutet, dass die personale Interaktion ohne die phänomenale auf Dauer ohne neue ästhetische Erfahrungen anschauungslos werden würde; ebenso wie die phänomenale Interaktion ohne die personale auf Dauer mangels Austausch mit anderen begriffsleer bleiben würde. Aus diesem Grund müssen die Modelle der Kommunikation und des Naturschönen jeweils im anderen enthalten sein. Sie tun dies aber nicht in Form von zwei gleich gewichtigen Argumentationsmengen. Denn Seel betont nochmals in Hinblick auf die Maßgeblichkeit für ein gutes Leben der beiden Verhältnisse, „... dass dasjenige der Kommunikation in ethischer Bedeutung grundlegender ist als dasjenige des Naturschönen.“(5) Da der Mensch ohne kommunikative Verhältnisse überhaupt nicht in der Lage wäre zu leben, und ein gelingendes Leben nur in guten kommunikativen Verhältnissen möglich ist, ist das kommunikative Verhältnis für den Menschen eine Bedingung der Existenz. Diese Wichtigkeit kommt dem ästhetischen Verhältnis nicht zu. Abschließend ist zu diesem Absatz festzustellen: Die Untersuchung der Ästhetik der Natur führte Seel zu einem ethischen Paradigma, jenem der Kommunikation in einem kommunalen Leben. Dieses Paradigma steht aber nicht, wie sich gezeigt hat, als von anderen Theorien unabhängige „Über-Theorie“ vor uns. Im folgenden Kapitel zeigt Seel, dass sie genau das auch gar nicht muss.


3. Ein abstrakter Begriff guten Lebens

Die Untersuchung über das Naturschöne führte Seel zu einem ethischen Begriff des „guten Lebens“, welcher in sich die Kommunikation des kommunalen Lebens und verschiedene Aspekte der ästhetischen Handlungsmöglichkeiten des Menschen einschließt. Dieser Begriff des guten Lebens ist ein formaler Begriff, da er keine bestimmte Anleitung zu individueller Lebensbewältigung gibt. Er ist für Seel aber auch kein rein formaler Begriff, da er durchaus von substantiellen Bestimmungen aus der Erfahrung des Lebens konstituiert wurde:

„Die Form guten Lebens [...] ist eine in der Praxis des Lebens und der Kunst und der Philosophie geleistete Entdeckung einer ergriffenen Möglichkeit des Lebens, die allein dadurch, dass sie einmal ergriffen wurde, gegeben ist, die allein dadurch, dass sie, einmal ergriffen, erkannt und anerkannt wird, eine – begriffliche – Form ihrer Auslegung und Entfaltung findet.(6)

Dieser so bestimmte Begriff des guten Lebens formuliert auch keine dogmatischen Ideale, wie es resignative (tlw. bei Spiegler), asketische, hedonistische oder elitäre (Nietzsche) Ethiken tun. Er zeigt aber, dass ein Leben unter dem Gesichtspunkt von voneinander abhängigen, zum gemeinsamen Ziel der Handlung im Hier und Jetzt ausgerichteten Möglichkeiten mehr gelingendes Leben verspricht als Ethiken, die das Leben unter das Dogma von bestimmten reduzierten Idealen stellen will. Auch ist das Ziel dieses Begriffes auf die Gegenwart gerichtet: Das Gelingen des Lebens kann im Hier und Jetzt erfahren werden, aber weil es in der Realität erfahrbar ist, kann es auch real verfehlt werden. Der von Seel aus der Naturästhetik herausgeleitete ethische Begriff des guten Lebens ist auch nicht zeitlos. Dennoch kann Seel den Einwand, die in seiner Theorie als „nichtrelativ“ bezeichnete ethische Erfahrung sei eben doch relativ, entkräften. Denn die Ethik des guten Lebens „versucht für ihre Zeit zusammenzufassen, was für die absehbare Gegenwart beste Form menschlichen Lebens ist.“ (7) Seel macht klar, dass die Aussage einer Ethik nicht an Wert verliert, weil sie keine Gültigkeit bis in alle Ewigkeit besitzt. Sondern eine solche Ethik zeigt uns, wo die Grenze dessen ist, „... was mit allgemein ethischen Sätzen – zur Natur, zum Menschen, zur „Natur“ des Menschen – überhaupt gesagt werden kann.“ (8)


4. Das Gute und das Richtige

Das moralische Problem des Unterschieds zwischen dem individuell Guten und dem aus sozialethischen Aspekten Guten (bei Seel das „Richtige“ genannt) wurde philosophiegeschichtlich auf bisher zwei Weisen gedacht. Während antike „Ethiken des Guten“ sich für eine grundsätzliche Identität der beiden Begriffe entschieden, spricht die moderne „Ethik des Richtigen“ von einer grundsätzlichen Differenz des individuell Guten und des sozial Richtigen. Das bedeutet, dass in der Theorie der antiken Ethik eine gute Handlung für die Bedürfnisse des Individuums gleichzeitig eine gute Handlung für die Bedürfnisse der Allgemeinheit sein muss. Dagegen wäre im Verständnis einer Ethik der Differenz die Fähigkeit zur Ausübung der für das individuelle Leben als gut befundenen Taten durch die Rücksichtnahme auf die Allgemeinheit eingeschränkt. Für Seel sind diese beiden Modi hintergehbar, wenn man sich die beiden Begriffe als permanent voneinander abhängig denkt. Erst dann könne man die Frage stellen, ob der Begriff des Guten aus einer ursprünglichen Übereinstimmung des individuell Guten mit dem sozial Richtigen oder aus einer unvermeidlichen Differenz dieser Begriffe entspringt. In dieser Frage trifft Seel eine eindeutige Entscheidung gegen die ethische Identität und für die ethische Differenz. Seel versucht nicht diese Differenz zwischen dem individuell Guten und dem allgemein Guten aus der Welt zu schaffen. Er betrachtet diese Differenz als zum guten Leben gehörend. Erst dort finden wir eine Orientierung für das Gute und Richtige.

Ein umfassender Begriff des Guten [...] muß nicht bloß ein differentieller Begriff sein, er muß es in dem starken Sinn sein, der es erlaubt, die Differenz – und gelegentliche Diskrepanz – zwischen eigeninteressierten und moralischen Orientierungen selbst als positives Merkmal sittlicher Lebensverhältnisse zu verstehen. (9)

Seel will diesen Konflikt zwischen dem individuell Guten und dem sozial Richtigen nicht aus der Welt schaffen, für ihn ist genau dieser Konflikt sogar notwendig für ein sinnvolles Ideal guten Lebens. Das wirklich umfassend Gute liegt in der Anerkennung und Bewältigung dieser Differenz.


5. Ein Blick nach draußen

Im Abschlusskapitel betont der Autor noch einmal seine anthropozentrische Einstellung. Nur eine vom menschlichen Bewusstsein und seinen Bedürfnissen ausgehende Ethik ist fähig die Natur in ihrer ganzen Differenz und Ambivalenz dem Menschen gegenüber bestehen zu lassen. Er wendet sich strikt gegen ein Denken, dass die Natur als „Subjekt“ dem Menschen gegenüberstellt. Auch brauche es für die Anerkennung der Natur keine idealistischen, absoluten Theorien. Weder die Ästhetik der Natur, noch die mit ihr verbundene Ethik des guten Lebens brauchen Metaphysik.


Fußnoten:

(1) Seel, Martin: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996. S. 347

(2) ebd.: S. 348

(3) ebd.: S. 349

(4) ebd.: S. 351

(5) ebd.: S. 353

(6) ebd.: S. 355

(7) ebd.: S. 358

(8) ebd.: S. 358

(9) ebd.: S.360