"Grenzen der Naturbetrachtung": Unterschied zwischen den Versionen

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'''1. Es muß nicht Natur sein'''
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'''Welche Umwelt ist schützenswert?'''
  
Mit der Untersuchung einer Ästhetik der Natur aus dem ethischen Blickwinkel kann Seel seine Reflexionen noch nicht abschließen. Es wäre absoluter Irrglaube, wenn man an dem Punkt stehen bliebe, wo „... ein Leben mit schöner Natur der Inbegriff des guten Lebens“ (1) sei. Zwar ist die Anwesenheit  des Naturschönen ein herausragendes Dasein des Guten und besonderes Beispiel für die Form gelingenden Lebens, allerdings liefert die ästhetische Einheit der Natur auch einen nicht allumfassenden Begriff vom guten Leben. Deshalb formuliert Seel seine bisher gewonnenen Thesen noch einmal, und macht sie Gegenstand weiterer Erkundungen.  
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Martin Seel findet in seinem Buch „Eine Ästhetik der Natur“ neue Antworten auf die oben genannte Frage. Dieser Essay soll Seels Thesen kurz zusammenfassen.
  
1. Das Naturschöne ist nicht irgendein Gutes, sondern ethisch Gutes, d.h. eine allgemeine Situation gelingenden Lebens.
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In einer Natur, wie wir sie heute erleben, in der nahezu jeder Flecken Erde bereits vom Menschen betreten, erfasst, kultiviert oder zumindest allein durch die Tatsache der Anwesenheit des Menschen auf diesem Planeten eine Veränderung erfahren hat, ist es zweifelhaft, nur eine Natur schützen zu wollen, die „eigenmächtig“ ist. Sicherlich ist die Eigenmächtigkeit der Natur nach wie vor ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen Natur und Kultur. Natur entsteht ohne Zutun des Menschen, „von allein“. Kultur geschieht durch den Menschen. Schützenswert kann aber für den Menschen des 21. Jahrhunderts nach Martin Seel nicht allein die eigenmächtige Natur sein. Seel gibt zu bedenken, dass ein Großteil der Natur heute durch Menschen kultiviert ist, man denke an Ackerbau, Parks, Golfplätze, Gärten usw. In diesem Zusammenhang verweise ich auf ein künstlich vom Menschen geschaffenes Naturparadies beim Bau des Donauwasserkraftwerks Melk. Hier wurde im Zuge des notwendigen Eingriffs in die Natur ein künstlicher Seitenarm mit Aulandschaft geschaffen, der sich binnen zehn Jahren zum Paradies für Flora und Fauna entwickelte. Diesen nicht schützen zu wollen, wäre wohl nicht im Sinne der Menschen. Seel argumentiert sinngemäß:
2. Das Naturschöne ist nicht irgendein ethisch Gutes, sondern eine für die Form solchen Gelingens überhaupt paradigmatische Situation.
 
3. Im günstigen Verhältnis der ästhetischen Stellungen zur Welt ist eine Form der schlechthin günstigen Stellung zur Welt gegeben. (2)
 
  
Daraus folgt aber auch, dass man die Struktur von ethisch korrektem oder gelingendem Leben nicht allein aus der ästhetischen Anschauung der Natur ableiten muss. Es müsste nicht die Ästhetik der Natur sein, aus der man die ethischen Regulative für ein gelingendes Leben gewinnt, da diese Ästhetik nicht allumfassend ist. Zwar würde einem Leben, welches mit einem Bewusstsein ohne ästhetische Anschauung auskommt, um eine Dimension der menschlichen Fähigkeiten beraubt sein, ein gelingendes könnte es trotzdem sein. Und ein Leben unter allein ästhetischen Gesichtspunkten wäre vor allem der für ein gelingendes Leben notwendigen Fähigkeit zur „... kommunikativen Teilnahme an einem kommunalen Leben...“(3) beraubt. Nach Seel liegt in dieser scheinbaren Schwäche der Ästhetik der Natur aber auch die Stärke der ethischen Argumentation, die aus der Untersuchung der Ästhetik gewonnen wird. Eben weil das Naturschöne kein allumfassendes Reglulativ ist, sondern eine Momentaufnahme erfüllter Zeit ist, in der „...die Bedingungen der Möglichkeit sozialer Freiheit...“ erfahrbar werden, ist es ein  Gegenstück zu theoretischen individuellen und sozialen Idealvorstellungen des Lebens.
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Wir müssen die Unterscheidung [zwischen eigenmächtiger Natur und menschlicher Kultur] so abschwächen, daß wir auch das umstandslos als Natur verstehen können, was ohne beständiges Zutun des Menschen entsteht und vergeht(1).
  
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Der Mensch kann zwar das Werden der Natur durch Eingriffe, sei es durch bauliche oder gentechnische Maßnahmen beeinflussen, er kann dieses Werdern jedoch nicht selbst machen. Seel weist darauf hin, dass es einen naturwissenschaftlichen Umgang mit der Natur gibt, welcher forscht und klassifiziert. Diese Natur wäre aber „methodisch objektiviert“(2), sie wäre eine rein theoretisch gedacht. Ebenso kann die Frage welche Natur denn schützenswert sei, mit ökonomischen Maßstäben begründet werden. Ein instrumentell-technisches Naturverständnis, welches Natur als nur als Rohstoffreservat für den Menschen ansieht, und die Schützenswürdigkeit mit dem Nutzen der Natur für den Menschen begründet, greift nach Seel zu kurz. Er findet den Begriff der „problematischen Natur“, welchen er wie folgt von den anderen unterschieden wissen will. Natur kann nicht nur theoretisch bzw. aus ihrer Verwertbarkeit her verstanden werden, sondern die Menschen müssen sich in einem „lebensweltlich-praktischen“(3) Verhältnis zur Natur verstehen. Uns muss klar sein, dass Natur in der Realität - im Hier und Jetzt - vom Menschen zerstört werden kann. Dieser Umstand macht das „Problematische“ an der Natur aus. Diese real erfahrbare, beeinflussbare Umgebung des Menschen ist für Seel jene Natur, die schützenswürdig ist.
  
'''2. Zweierlei Interaktion'''
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Andererseits muß sich jede Kultur als Lebensform inmitten einer Wirklichkeit der Natur begreifen, die sie, die Kultur, als eine Dimension ihres Bestehens anerkennen muß. Schwierigkeiten mit der Natur - und mit ihrer Bestimmung als Natur – zu haben, liegt deshalb in der Natur jeder Kultur (4).  
  
Aber auch das Primat  des Modells von gelingender Kommunikation in einem kommunalen Leben ist anzweifelbar. Der Argumentation Seels folgend, müssen kommunikative Verhältnisse immer auch für kontemplative und imaginative Phänomene  offen sein, wenn es gut gelingende sei sollen. Die Bestimmungsmerkmale, die Seel bei der Untersuchung  der ästhetischen Kontemplation und der ästhetischen Imagination festgestellt hat, zeigten aber gerade bei jenen beiden Modi menschlichen Verhaltens ein Fehlen von kommunikativem Handeln. Also sind die Modelle der Ästhetik und der Ethik (Kommunikation) in folgendem Verhältnis:
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Das bedeutet auch, dass dieses Verhältnis für jede Generation neu zu bestimmen ist. Seel zeigt auf, dass auch ökologische Konzepte sowie die genannten naturwissenschaftlichen oder ökonomische Konzepte für ihn zu kurz greifen. Weder Ökologie und Ökonomie, noch Tierethik und Ästhetik können ein den anderen Kriterien überlegenes Kriterium des richtigen Naturverhältnisses liefern(5). Gewiss, Naturschutz als solcher, Tierschutz, Respekt vor der Natur als eigenständiges Werden und auch das Achten auf den Umgang mit Naturreserven finden sich in Seels Argumentation inkludiert. Er findet aber über den ästhetischen Umgang mit der Natur ethische Gründe für deren Schützenswürdigkeit. Dazu mehr im zweiten Essay.  
  
„Die Schwäche des einen Modells ist die Stärke des anderen. Betont das eine die phänomenale Interaktion auf Kosten der personalen, betont das andere die personale Interaktion auf Kosten der phänomenalen. Gelingendes Leben aber ist beider Gelingen.“(4)
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Zusammenfassend würde ich auf die Frage, welche Umwelt schützenswert ist – der Argumentation Seels folgend – in meinen Worten antworten: Als schützenswürdig müssen wir heute jede – ob vom Menschen beeinflusste oder frei entstandene  Natur – empfinden. Es ist jene Natur schützenswert, welche wir praktisch erfahren können, d.h. von der wissen, dass unser Handeln in dieser Gegenwart Auswirkungen auf sie haben kann. In einer Welt, wo die technischen Errungenschaften der Menschen Auswirkungen auf den gesamten Planeten haben oder haben können (CO2-Ausstoß, Atomkraft usw), dehnt sich die lebensweltlich-praktisch erfahrbare Sphäre, in der Umwelt geschützt werden soll,  von dem einem einzelnen Menschen erfahrbaren Anblick z.B. eines Waldes auf den gesamten Globus aus.
  
Das bedeutet, dass die personale Interaktion ohne die phänomenale auf Dauer ohne neue ästhetische Erfahrungen anschauungslos werden würde; ebenso wie die phänomenale Interaktion ohne die personale auf Dauer mangels Austausch mit anderen begriffsleer bleiben würde. Aus diesem Grund müssen die Modelle der Kommunikation und des Naturschönen jeweils im anderen enthalten sein. Sie tun dies aber nicht in Form von zwei gleich gewichtigen Argumentationsmengen. Denn Seel betont nochmals in Hinblick auf die Maßgeblichkeit für ein gutes Leben der beiden Verhältnisse, „... dass dasjenige der Kommunikation in ethischer Bedeutung grundlegender ist als dasjenige des Naturschönen.“(5) Da der Mensch ohne kommunikative Verhältnisse überhaupt nicht in der Lage wäre zu leben, und ein gelingendes Leben nur in guten kommunikativen Verhältnissen möglich ist, ist das kommunikative Verhältnis für den Menschen eine Bedingung der Existenz. Diese Wichtigkeit kommt dem ästhetischen Verhältnis nicht zu. Abschließend ist zu diesem Absatz festzustellen: Die Untersuchung der Ästhetik der Natur führte Seel zu einem ethischen Paradigma, jenem der Kommunikation in einem kommunalen Leben. Dieses Paradigma steht aber nicht, wie sich gezeigt hat, als von anderen Theorien unabhängige „Über-Theorie“ vor uns. Im folgenden Kapitel zeigt Seel, dass sie genau das auch gar nicht muss.
 
  
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'''Womit kann die Schützenswürdigkeit der Umwelt begründet werden?'''
  
'''3. Ein abstrakter Begriff guten Lebens'''
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Der Versuch einer Beantwortung dieser Frage wird im folgenden Essay auf der Grundlage der Thesen in Martin Seels Buch „Eine Ästhtik der Natur“ vorgenommen.  
  
Die Untersuchung über das Naturschöne führte Seel zu einem ethischen Begriff des „guten  Lebens“, welcher in sich die Kommunikation des kommunalen Lebens und verschiedene Aspekte der ästhetischen Handlungsmöglichkeiten des Menschen einschließt. Dieser Begriff des guten Lebens ist ein formaler Begriff, da er keine bestimmte Anleitung zu individueller Lebensbewältigung gibt. Er ist für Seel aber auch kein rein formaler Begriff, da er durchaus von substantiellen Bestimmungen aus der Erfahrung des Lebens konstituiert wurde:
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Seel zeigt auf, dass die bisherigen Einstellungen zur Natur, welche sie entweder als Vorbild für oder als Nachbild des Menschen sehen, nicht länger haltbar sind. Bisher „gilt die Natur als ein Muster unseres Erkennens, unseres Herstellens, unserer Lebensführung; auf der anderen Seite gelten die Hervorbringungen des Menschen als das Muster, dem das Handeln auch gegenüber der Natur zu folgen hat.“(6) Diese beiden gegensätzlichen Einstellungen zur Natur sind dann in vielen Unterarten menschlichen Handelns gegenüber der Natur zu finden. Einerseits ist es die normative Einstellung zur Natur, welche jene als Vorbild für menschliche Praxis ansieht und dadurch den Schutz der Natur aus einem Recht der Natur herleitet,  andererseits die neuzeitlich-instrumentelle Einstellung zur Natur, welche Natur als gestaltloses Material für menschliches Handeln betrachtet, und ihren Schutz im Namen menschlichen Interesses an einer lebbaren Umwelt fordert. Seel widerspricht beiden Thesen:
  
„Die Form guten Lebens [...] ist eine in der Praxis des Lebens und der Kunst und der Philosophie geleistete Entdeckung einer ergriffenen Möglichkeit des Lebens, die allein dadurch, dass sie einmal ergriffen wurde, gegeben ist, die allein dadurch, dass sie, einmal ergriffen, erkannt und anerkannt wird, eine – begriffliche – Form ihrer Auslegung und Entfaltung findet.(6)
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„Die Kriterien unserer Erkenntnis der Natur, auch wo es naturalistische sind, sind keine Kriterien der Natur. Nur unsere Maßstäbe können für uns Maßstab sein: Hinter dieses kantische Bewusstsein kann heute niemand zurück.(7)
  
Dieser so bestimmte  Begriff des guten Lebens formuliert auch keine dogmatischen Ideale, wie es resignative (tlw. bei Spiegler), asketische, hedonistische oder elitäre (Nietzsche) Ethiken tun. Er zeigt aber, dass ein Leben unter dem Gesichtspunkt  von voneinander abhängigen, zum gemeinsamen Ziel der Handlung im Hier und Jetzt  ausgerichteten Möglichkeiten mehr gelingendes Leben verspricht als Ethiken, die das Leben unter das Dogma von bestimmten reduzierten Idealen stellen will. Auch ist das Ziel dieses Begriffes auf die Gegenwart gerichtet: Das Gelingen des Lebens kann im Hier und Jetzt erfahren werden, aber weil es in der Realität erfahrbar ist, kann es auch real verfehlt werden. Der von Seel aus der Naturästhetik herausgeleitete ethische Begriff des guten Lebens ist auch nicht zeitlos. Dennoch kann Seel den Einwand, die in seiner Theorie als „nichtrelativ“ bezeichnete ethische Erfahrung sei eben doch relativ, entkräften. Denn die Ethik des guten Lebens „versucht für ihre Zeit zusammenzufassen, was für die absehbare Gegenwart beste Form menschlichen Lebens ist.(7) Seel macht klar, dass die Aussage einer Ethik nicht an Wert verliert, weil sie keine Gültigkeit bis in alle Ewigkeit besitzt. Sondern eine solche Ethik  zeigt uns, wo die Grenze dessen ist, „... was mit allgemein ethischen Sätzen – zur Natur, zum Menschen, zur „Natur“ des Menschen – überhaupt gesagt werden kann.“ (8)  
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Für Seel bedeutet die Ablehnung der naturalistischen Position aber keine Verabsolutierung der anti-naturalistischen, instrumentellen Haltung der Natur gegenüber. Die Natur hat gegenüber dem Menschen etwas Eigenständisches, das anerkannt werden muss und nicht blind dem menschlichen Tun zur Verfügung steht. Die Natur unterliegt also den Kriterien des menschlichen Handelns nicht einfachsondern sie stellt Bedingungen an menschliche Praxis. Seel fordert eine Anerkennung dieser Differenz von Natur und menschlicher Leistung, damit aber auch eine Anerkennung sowohl der Natur als auch des kulturellen Handelns. Somit kann die Schützenswürdigkeit der Natur nur begründet werden, wenn man sich die „Frage nach dem richtigen Verhältnis zwischen unseren Verhältnissen gegenüber der Natur“(8) stellt. Diese Frage beginnt für Seel mit der Anschauung. Am Beginn seiner Untersuchung stellt er deshalb den ästhetischen Umgang des Menschen mit der Natur in den Mittelpunkt.  Dabei finden sich drei wichtige Formen des ästhetischen Umgangs des Menschens mit der Natur: Natur als Raum der Kontemplation, Natur als korrespondierender Ort und Natur als Schauplatz der Imagination. Das ästhetische Erleben von Natur als Kontemplation ist ein Erleben in reiner Anschauung gepaart mit interesselosem Bewusstsein, welches auch die permanente Veränderungsmöglichkeit des Angeschauten mit einschließt. Das ästhetische Erleben von Natur als korrespondierendem Ort ist ein Erkennen von Natur als sinnenfällige Korrespondenz mit dem eigenen Leben, weil sie „...gestaltender Ausdruck der durch sie eröffneten Wirklichkeit des Lebens“(9) ist. Das Erleben von Natur als Schauplatz der Imagination ist als ein Spielen des Menschen mit den gegebenen Formen der Natur, welche uns auch zur Phantasie anregen, anzusehen. Allerdings ergeben sich aus den drei genannten Varianten ästhetischen Umgangs mit der Natur noch keine zwingenden Begründungen für ihre Schützenswürdigkeit. Der Argumentation Martin Seels folgend, kann dies erst gelingen, wenn man die ethische und moralische Bedeutung dieser ästhetischen Phänomene erkennt. Durch die drei oben genannten Möglichkeiten ästhetischen Umgangs mit der Natur kann der Mensch feststellen: „Als ein einzigartiger Modus erfüllter Zeit ist das Naturschöne eine ausgezeichnete Lebensmöglichkeit des Menschen.“(10) Alle drei Varianten ästhetischen Umgangs mit der Natur haben also auch beispielhafte Wirkung für eine ethisch gelingende Lebensführung, wobei keiner dieser Varianten ein Vorzug gegenüber einer anderen eingeräumt wird. Seel hält die aus der Ästhetik gewonnene ethische Relevanz der Natur für menschliches Leben in folgender Definition fest:
  
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"Das Naturschöne ist diejenige lebensweltliche Wirklichkeit, die zugleich anschauliche Intensivierung, anschauliche Präsentation und anschauliche Suspension eines nicht allein subjektiven Entwurfs vom Leben, einer nicht allein subjektiven Sicht der Dinge ist".(11)
  
'''4. Das Gute und das Richtige'''
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Da für ein gelingendes Leben ebenso die Freiheit des Mitmachens bei, des Sich-Zurückhaltens von und des Vorstellens von bestimmten Möglichkeiten intersubjektiven Lebens notwendig ist, ergibt sich die Schützenswürdigkeit der Natur letztendlich aus diesem Zusammenspiel zwischen Ästhetik und Ethik. Natur ist also nicht nur schützenswert, weil sie lebensnotwendig ist, sondern weil sie uns auch gelingende Lebensmöglichkeiten aufzeigt. Die Begründung liegt in dem Begreifen unserer Verhältnisse gegenüber der Natur. „ Der gebotene >Respekt vor der Natur< erweist sich als Respekt vor einer unersetzlichen Lebensmöglichkeit des Menschen.“(12)
  
Das moralische Problem des Unterschieds zwischen dem individuell Guten und dem aus sozialethischen Aspekten Guten (bei Seel das „Richtige“ genannt) wurde philosophiegeschichtlich auf bisher zwei Weisen gedacht. Während antike „Ethiken des Guten“ sich für eine grundsätzliche Identität der beiden Begriffe entschieden, spricht die moderne „Ethik des Richtigen“ von einer grundsätzlichen Differenz des individuell Guten und des sozial Richtigen. Das bedeutet, dass in der Theorie der antiken Ethik eine gute Handlung für die Bedürfnisse des Individuums gleichzeitig eine gute Handlung für die Bedürfnisse der Allgemeinheit sein muss. Dagegen wäre im Verständnis einer Ethik der Differenz die Fähigkeit zur Ausübung der für das individuelle Leben als gut befundenen Taten durch die Rücksichtnahme auf die Allgemeinheit eingeschränkt. Für Seel sind diese beiden Modi hintergehbar, wenn man sich die beiden Begriffe als permanent voneinander abhängig denkt. Erst dann könne man die Frage stellen, ob der Begriff des Guten aus einer ursprünglichen Übereinstimmung des individuell Guten mit dem sozial Richtigen oder aus einer unvermeidlichen Differenz dieser Begriffe entspringt. In dieser Frage trifft Seel eine eindeutige Entscheidung gegen die ethische Identität und für die ethische Differenz. Seel versucht nicht diese Differenz zwischen dem individuell Guten und dem allgemein Guten aus der Welt zu schaffen. Er betrachtet diese Differenz als zum guten Leben gehörend. Erst dort finden wir eine Orientierung für das Gute und Richtige.
 
  
Ein umfassender Begriff des Guten [...] muß nicht bloß ein differentieller Begriff sein, er muß es in dem starken Sinn sein, der es erlaubt, die Differenz – und gelegentliche Diskrepanz – zwischen eigeninteressierten und moralischen Orientierungen selbst als positives Merkmal sittlicher Lebensverhältnisse zu verstehen. (9)
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'''Fußnoten:'''
  
Seel will diesen Konflikt zwischen dem individuell Guten und dem sozial Richtigen nicht aus der Welt schaffen, für ihn ist genau dieser Konflikt sogar notwendig für ein sinnvolles Ideal guten Lebens. Das wirklich umfassend Gute liegt in der Anerkennung und Bewältigung dieser Differenz.
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(1) Seel, Martin, Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1996. S. 21
  
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(2) ebd., S. 22
  
'''5. Ein Blick nach draußen'''
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(3) ebd., S. 22
 
 
Im Abschlusskapitel betont der Autor noch einmal seine anthropozentrische Einstellung. Nur eine vom menschlichen Bewusstsein und seinen Bedürfnissen  ausgehende Ethik ist fähig die Natur in ihrer ganzen Differenz und Ambivalenz dem Menschen gegenüber bestehen zu lassen. Er wendet sich strikt gegen ein Denken, dass die Natur als „Subjekt“ dem Menschen gegenüberstellt. Auch brauche es für die Anerkennung der Natur keine idealistischen, absoluten Theorien. Weder die Ästhetik der Natur, noch die mit ihr verbundene Ethik des guten Lebens brauchen Metaphysik.
 
 
 
 
 
'''Fußnoten:'''
 
  
(1) Seel, Martin: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996. S. 347
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(4) ebd., S. 26
  
(2) ebd.: S. 348
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(5) vgl. edb., S. 31
  
(3) ebd.: S. 349
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(6) ebd., S. 11
  
(4) ebd.: S. 351
+
(7) ebd., S. 14
  
(5) ebd.: S. 353
+
(8) ebd., S. 15
  
(6) ebd.: S. 355
+
(9) ebd., S. 136
  
(7) ebd.: S. 358
+
(10) ebd., S. 288
  
(8) ebd.: S. 358
+
(11) ebd., S. 332
  
(9) ebd.: S.360
+
(12) ebd., S. 288

Version vom 17. Mai 2009, 18:02 Uhr

Welche Umwelt ist schützenswert?

Martin Seel findet in seinem Buch „Eine Ästhetik der Natur“ neue Antworten auf die oben genannte Frage. Dieser Essay soll Seels Thesen kurz zusammenfassen.

In einer Natur, wie wir sie heute erleben, in der nahezu jeder Flecken Erde bereits vom Menschen betreten, erfasst, kultiviert oder zumindest allein durch die Tatsache der Anwesenheit des Menschen auf diesem Planeten eine Veränderung erfahren hat, ist es zweifelhaft, nur eine Natur schützen zu wollen, die „eigenmächtig“ ist. Sicherlich ist die Eigenmächtigkeit der Natur nach wie vor ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen Natur und Kultur. Natur entsteht ohne Zutun des Menschen, „von allein“. Kultur geschieht durch den Menschen. Schützenswert kann aber für den Menschen des 21. Jahrhunderts nach Martin Seel nicht allein die eigenmächtige Natur sein. Seel gibt zu bedenken, dass ein Großteil der Natur heute durch Menschen kultiviert ist, man denke an Ackerbau, Parks, Golfplätze, Gärten usw. In diesem Zusammenhang verweise ich auf ein künstlich vom Menschen geschaffenes Naturparadies beim Bau des Donauwasserkraftwerks Melk. Hier wurde im Zuge des notwendigen Eingriffs in die Natur ein künstlicher Seitenarm mit Aulandschaft geschaffen, der sich binnen zehn Jahren zum Paradies für Flora und Fauna entwickelte. Diesen nicht schützen zu wollen, wäre wohl nicht im Sinne der Menschen. Seel argumentiert sinngemäß:

Wir müssen die Unterscheidung [zwischen eigenmächtiger Natur und menschlicher Kultur] so abschwächen, daß wir auch das umstandslos als Natur verstehen können, was ohne beständiges Zutun des Menschen entsteht und vergeht(1).

Der Mensch kann zwar das Werden der Natur durch Eingriffe, sei es durch bauliche oder gentechnische Maßnahmen beeinflussen, er kann dieses Werdern jedoch nicht selbst machen. Seel weist darauf hin, dass es einen naturwissenschaftlichen Umgang mit der Natur gibt, welcher forscht und klassifiziert. Diese Natur wäre aber „methodisch objektiviert“(2), sie wäre eine rein theoretisch gedacht. Ebenso kann die Frage welche Natur denn schützenswert sei, mit ökonomischen Maßstäben begründet werden. Ein instrumentell-technisches Naturverständnis, welches Natur als nur als Rohstoffreservat für den Menschen ansieht, und die Schützenswürdigkeit mit dem Nutzen der Natur für den Menschen begründet, greift nach Seel zu kurz. Er findet den Begriff der „problematischen Natur“, welchen er wie folgt von den anderen unterschieden wissen will. Natur kann nicht nur theoretisch bzw. aus ihrer Verwertbarkeit her verstanden werden, sondern die Menschen müssen sich in einem „lebensweltlich-praktischen“(3) Verhältnis zur Natur verstehen. Uns muss klar sein, dass Natur in der Realität - im Hier und Jetzt - vom Menschen zerstört werden kann. Dieser Umstand macht das „Problematische“ an der Natur aus. Diese real erfahrbare, beeinflussbare Umgebung des Menschen ist für Seel jene Natur, die schützenswürdig ist.

Andererseits muß sich jede Kultur als Lebensform inmitten einer Wirklichkeit der Natur begreifen, die sie, die Kultur, als eine Dimension ihres Bestehens anerkennen muß. Schwierigkeiten mit der Natur - und mit ihrer Bestimmung als Natur – zu haben, liegt deshalb in der Natur jeder Kultur (4).

Das bedeutet auch, dass dieses Verhältnis für jede Generation neu zu bestimmen ist. Seel zeigt auf, dass auch ökologische Konzepte sowie die genannten naturwissenschaftlichen oder ökonomische Konzepte für ihn zu kurz greifen. Weder Ökologie und Ökonomie, noch Tierethik und Ästhetik können ein den anderen Kriterien überlegenes Kriterium des richtigen Naturverhältnisses liefern(5). Gewiss, Naturschutz als solcher, Tierschutz, Respekt vor der Natur als eigenständiges Werden und auch das Achten auf den Umgang mit Naturreserven finden sich in Seels Argumentation inkludiert. Er findet aber über den ästhetischen Umgang mit der Natur ethische Gründe für deren Schützenswürdigkeit. Dazu mehr im zweiten Essay.

Zusammenfassend würde ich auf die Frage, welche Umwelt schützenswert ist – der Argumentation Seels folgend – in meinen Worten antworten: Als schützenswürdig müssen wir heute jede – ob vom Menschen beeinflusste oder frei entstandene Natur – empfinden. Es ist jene Natur schützenswert, welche wir praktisch erfahren können, d.h. von der wissen, dass unser Handeln in dieser Gegenwart Auswirkungen auf sie haben kann. In einer Welt, wo die technischen Errungenschaften der Menschen Auswirkungen auf den gesamten Planeten haben oder haben können (CO2-Ausstoß, Atomkraft usw), dehnt sich die lebensweltlich-praktisch erfahrbare Sphäre, in der Umwelt geschützt werden soll, von dem einem einzelnen Menschen erfahrbaren Anblick z.B. eines Waldes auf den gesamten Globus aus.


Womit kann die Schützenswürdigkeit der Umwelt begründet werden?

Der Versuch einer Beantwortung dieser Frage wird im folgenden Essay auf der Grundlage der Thesen in Martin Seels Buch „Eine Ästhtik der Natur“ vorgenommen.

Seel zeigt auf, dass die bisherigen Einstellungen zur Natur, welche sie entweder als Vorbild für oder als Nachbild des Menschen sehen, nicht länger haltbar sind. Bisher „gilt die Natur als ein Muster unseres Erkennens, unseres Herstellens, unserer Lebensführung; auf der anderen Seite gelten die Hervorbringungen des Menschen als das Muster, dem das Handeln auch gegenüber der Natur zu folgen hat.“(6) Diese beiden gegensätzlichen Einstellungen zur Natur sind dann in vielen Unterarten menschlichen Handelns gegenüber der Natur zu finden. Einerseits ist es die normative Einstellung zur Natur, welche jene als Vorbild für menschliche Praxis ansieht und dadurch den Schutz der Natur aus einem Recht der Natur herleitet, andererseits die neuzeitlich-instrumentelle Einstellung zur Natur, welche Natur als gestaltloses Material für menschliches Handeln betrachtet, und ihren Schutz im Namen menschlichen Interesses an einer lebbaren Umwelt fordert. Seel widerspricht beiden Thesen:

„Die Kriterien unserer Erkenntnis der Natur, auch wo es naturalistische sind, sind keine Kriterien der Natur. Nur unsere Maßstäbe können für uns Maßstab sein: Hinter dieses kantische Bewusstsein kann heute niemand zurück.“(7)

Für Seel bedeutet die Ablehnung der naturalistischen Position aber keine Verabsolutierung der anti-naturalistischen, instrumentellen Haltung der Natur gegenüber. Die Natur hat gegenüber dem Menschen etwas Eigenständisches, das anerkannt werden muss und nicht blind dem menschlichen Tun zur Verfügung steht. Die Natur unterliegt also den Kriterien des menschlichen Handelns nicht einfach, sondern sie stellt Bedingungen an menschliche Praxis. Seel fordert eine Anerkennung dieser Differenz von Natur und menschlicher Leistung, damit aber auch eine Anerkennung sowohl der Natur als auch des kulturellen Handelns. Somit kann die Schützenswürdigkeit der Natur nur begründet werden, wenn man sich die „Frage nach dem richtigen Verhältnis zwischen unseren Verhältnissen gegenüber der Natur“(8) stellt. Diese Frage beginnt für Seel mit der Anschauung. Am Beginn seiner Untersuchung stellt er deshalb den ästhetischen Umgang des Menschen mit der Natur in den Mittelpunkt. Dabei finden sich drei wichtige Formen des ästhetischen Umgangs des Menschens mit der Natur: Natur als Raum der Kontemplation, Natur als korrespondierender Ort und Natur als Schauplatz der Imagination. Das ästhetische Erleben von Natur als Kontemplation ist ein Erleben in reiner Anschauung gepaart mit interesselosem Bewusstsein, welches auch die permanente Veränderungsmöglichkeit des Angeschauten mit einschließt. Das ästhetische Erleben von Natur als korrespondierendem Ort ist ein Erkennen von Natur als sinnenfällige Korrespondenz mit dem eigenen Leben, weil sie „...gestaltender Ausdruck der durch sie eröffneten Wirklichkeit des Lebens“(9) ist. Das Erleben von Natur als Schauplatz der Imagination ist als ein Spielen des Menschen mit den gegebenen Formen der Natur, welche uns auch zur Phantasie anregen, anzusehen. Allerdings ergeben sich aus den drei genannten Varianten ästhetischen Umgangs mit der Natur noch keine zwingenden Begründungen für ihre Schützenswürdigkeit. Der Argumentation Martin Seels folgend, kann dies erst gelingen, wenn man die ethische und moralische Bedeutung dieser ästhetischen Phänomene erkennt. Durch die drei oben genannten Möglichkeiten ästhetischen Umgangs mit der Natur kann der Mensch feststellen: „Als ein einzigartiger Modus erfüllter Zeit ist das Naturschöne eine ausgezeichnete Lebensmöglichkeit des Menschen.“(10) Alle drei Varianten ästhetischen Umgangs mit der Natur haben also auch beispielhafte Wirkung für eine ethisch gelingende Lebensführung, wobei keiner dieser Varianten ein Vorzug gegenüber einer anderen eingeräumt wird. Seel hält die aus der Ästhetik gewonnene ethische Relevanz der Natur für menschliches Leben in folgender Definition fest:

"Das Naturschöne ist diejenige lebensweltliche Wirklichkeit, die zugleich anschauliche Intensivierung, anschauliche Präsentation und anschauliche Suspension eines nicht allein subjektiven Entwurfs vom Leben, einer nicht allein subjektiven Sicht der Dinge ist".(11)

Da für ein gelingendes Leben ebenso die Freiheit des Mitmachens bei, des Sich-Zurückhaltens von und des Vorstellens von bestimmten Möglichkeiten intersubjektiven Lebens notwendig ist, ergibt sich die Schützenswürdigkeit der Natur letztendlich aus diesem Zusammenspiel zwischen Ästhetik und Ethik. Natur ist also nicht nur schützenswert, weil sie lebensnotwendig ist, sondern weil sie uns auch gelingende Lebensmöglichkeiten aufzeigt. Die Begründung liegt in dem Begreifen unserer Verhältnisse gegenüber der Natur. „ Der gebotene >Respekt vor der Natur< erweist sich als Respekt vor einer unersetzlichen Lebensmöglichkeit des Menschen.“(12)


Fußnoten:

(1) Seel, Martin, Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1996. S. 21

(2) ebd., S. 22

(3) ebd., S. 22

(4) ebd., S. 26

(5) vgl. edb., S. 31

(6) ebd., S. 11

(7) ebd., S. 14

(8) ebd., S. 15

(9) ebd., S. 136

(10) ebd., S. 288

(11) ebd., S. 332

(12) ebd., S. 288