Protokoll vom 9.1.
Referat von Stefan Köstenbauer über „Die Bildungsvorstellung im Großen Brockhaus“ (siehe Wiki-Web) am 9.1.06; protokolliert von Irma Schott
Anhand des Referates von Stefan Köstenbauer soll der in der Großen Brockhaus Enzyklopädie bzw. deren digitaler Version angegebene Bildungsartikel in seiner Gestaltung genauer betrachtet werden. Als problematisch wird die Definition des Bildungsbegriffes in seiner Bedeutung und Entstehungsgeschichte erachtet, da eine Zeitsynkopie aufscheint. Das Mittelalter wird aufgrund des im deutschsprachigen Raum erstmaligen Auftretens des Begriffes „Bildung“ gleich zu Beginn des Textes angeführt, nicht die Begriffsbedeutung steht im Vordergrund, sondern die Wortgeschichte. Von dieser Epoche ausgehend springt der Autor des Artikels zurück in die griechische Antike, in der der Bildungsgedanke das erste Mal - von Platon ausgehend - aufgekommen ist und setzt dann anschließend mit dem Mittelalter fort. Ein idiosynkratischer Zeitsprung sollte in einem Wikipedia-Artikel bzw. in einer Enzyklopädie vermieden werden, da das Mittelalter als Ausgangspunkt der Bildung als unpassend erscheint. Die Bedeutung des Begriffes in dieser Epoche entsprach der „Bildung in Gott hinein“ und stand bei Meister Eckhart im Vordergrund, im Gegensatz dazu entsprach der Bildungsgedanke Platons den Mensch zum Umdenken anzuregen/anzuleiten. Von der Antike und nicht vom Mittelalter ausgehend beginnt der traditionelle Weg des geisteswissen-schaftlichen Bildungsbegriffes.
Folgende Kritikpunkte seitens des Referenten bestehen in der Darstellung des Bildungs-begriffes:
1.Köstenbauers Meinung nach ist der Bildungsartikel so verfasst, dass der Leser meinen könnte, Bildung wäre ausschließlich ein Konstrukt der deutschsprachigen Kultur des 19. Jahrhunderts.
2.Platons Vorstellungen von Bildung werden anhand des Höhlengleichnisses als Ausgangspunkt der Bildungsgeschichte dargestellt. Der Referent weist darauf hin, dass Platon nicht als „Erfinder“ des Bildungsbegriffes bezeichnet werden kann, da die Thematik bereits von anderen Philosophen in der Öffentlichkeit z.B. in Form von Komödien zur Sprache gebracht wurde. Platon hat – so Köstenbauer – nur einen Teilaspekt des Bildungsbegriffes dargebracht, aber diesen nicht ausschließlich allein konstituiert. Das Höhlengleichnis von Platon dient zur Veranschaulichung wie und wodurch Bildung ermöglicht werden kann. Der Referent ist der Auffassung, das Höhlengleichnis habe mit Bildung nichts gemeinsam, da das Gleichnis nicht auf Bildung, sondern auf eine Form der menschlichen Abrichtung abziele. Das Umdenken geschieht nicht aus den Individuen heraus, ein Führer ist notwendig, um die Menschen dazu anzuleiten. Die an die Stühle angebundenen Menschen aus Platons Höhlengleichnis müssen erst befreit werden und den Anweisungen der Hebamme folgen, um zur Idee des Guten zu gelangen.
Einwand von Prof. Hrachovec:
Die Hebamme ist in der Höhle nicht ständig anwesend. Wenn Menschen frei von der Verhaftung in der Lage sind eine Distanz aufrecht zu erhalten, selbstständig ein Urteil bilden können und aus diesem heraus ihre eigene Identität erfahren, wird im Höhlengleichnis der Bildungsgedanke deutlich. Der Bildungsprozess besteht darin, die an die Stühle gefesselten Menschen anzuleiten, in eine andere Richtung zu blicken und sich die Bedingungen für ihr Dasein vor Augen zu führen. Sie sollen das hinterfragen, was sie sehen, überlegen wer sie sind bzw. was sie sein wollen. Die Vorraussetzung für diesen Prozess ist die Idee zu wissen, wie etwas zu Stande kommt und darüber ein Bewusstsein ausbilden. Um zu höheren Werten zu gelangen ist nicht nur eine Distanz zu den eigenen Vorstellungen notwendig, sondern auch ein Interesse Wichtiges zu entdecken und in die Abläufe der Welt involviert zu sein. Zum Auslösen eines Bildungsprozesses oder auch eines Umdrehmomentes bedarf es einer Person (z.B. Lehrer) um Zweifel am Gegebenen aufkommen zu lassen. Zweifel ist systematisch bzw. muss und kann aufgebaut werden. Die Unangepasstheit von Personen muss in sozialen Zusammenhängen systematisch ausgenützt werden, in dem man daran ansetzt und die Zweifel verstärkt, erst dann entsteht ein Bildungsprozess.
3.Ein weiterer Kritikpunkt seitens des Referenten stellt die nicht explizite Darstellung der Zugangsweise zu dem Bildungsbegriff der im Artikel angeführten Philosophen dar. Stefan Köstenbauer schlägt vor, den Text pluralistischer aufzubauen, seiner Meinung nach passen Tabula Rasa und Entelechie als Ausgangspunkt der Bildungsidee nicht zusammen.
Einwurf von Prof. Hrachovec: Die Bedingungen für die Definition eines Bildungsbegriffes sind sehr unterschiedlich. Es existieren eine Reihe von inhaltlichen Voraussetzungen, die in einem Spannungsverhältnis stehen und zu problematisieren sind.
Tabula Rasa bedeutet an Gegebenem anzusetzen und ist Ausgangspunkt und Charakteristikum der Neuzeit (John Locke).
Prof. Swertz: Es gibt drei Herangehensweisen um den Begriff „Bildung“ zu definieren
1.)die platonische Zugangsweise (neuer Zugang aus einer Idee heraus) 2.)der hermeneutisch-historische Zugang (Berücksichtigung des Eingebettetsein in einem bestimmten historischen Kontext, Erweiterung des eigenen Vorverständnisses, hermeneutischer Zirkel) 3.)aus der Tabula Rasa heraus (aus einem beliebigen Ansatz heraus) – z.B. John Locke, Neuzeit
Frage von Prof. Hrachovec: Kann Bildung aus der Tabula Rasa entstehen? Wie sieht Bildung bei John Locke aus?
Einwurf von Studentin: John Locke hat Briefe an einen Freund geschrieben, aus dem Inhalt ist zu entnehmen, dass er das Kind mit einer Wachstafel verglichen hat, die aufgrund ihrer Beschaffenheit veränderbar ist. Er war der Auffassung, dass jedes Kind beliebig formbar sei.
Frage von Prof. Hrachovec: Wie wird Bildung bei Rousseau definiert?
Einwurf von Studentin: Der Mensch kommt durch die Natur zu sich selbst, die Natur des Menschen steht für seine Vernunft.
Frage von Stefan Köstenbauer: Bezug nehmend auf Humboldts Bildungsbegriff - gibt es eine zwecklose Bildung?
Der Mensch ist nicht von jedem Zweck losgelöst, sondern nur in Bezug auf gesellschaftliche Zwecke. Hierbei ist ein gesellschaftskritischer Moment von Bildung aufgehoben. Humboldt ist der Auffassung, dass der höchste Zweck des Menschen die Ausbildung seiner Kräfte ist. Bildung soll dem Mensch die Möglichkeit bieten durch Wissen und Fertigkeiten die Welt zu verbessern.
Im Vergleich zu Humboldt ist bei Platons Höhlengleichnis der Mensch an seine Zwecke gebunden, durch das Umdrehen und Wegwenden entsteht die Zwecklosigkeit. Es geht Platon um die Selbstbefreiung. Humboldt sieht Bildung als einen Prozess des Werdens nach eigenen Kapazitäten und als historisch nicht veränderbar. Als Vorraussetzung für die Entstehung von Bildung ist eine gewisse Distanz notwendig, eine Befreiung von Zwecken. Humboldts Idee von Bildung bestand in der Unabhängigkeit gesellschaftlicher Interessen.
Einwurf von Prof. Swertz: Ist es möglich einen an Idealen orientierten Bildungsbegriff zu definieren, der keinem historischen Wandel unterliegt? In Bezug auf den hermeneutischen Bildungsbegriff ergeben sich hierbei Schwierigkeiten, da von einem Vorverständnis ausgegangen wird und das Bisherige miteinbezogen wird.
Einwurf von Prof. Hrachovec: Um einen Bildungsbegriff definieren zu können, ist es hilfreich, einen Begriffskern zu bilden und diesen von einer Distanz ausgehend kritisch auf seine Gültigkeit zu hinterfragen. Das Ziel von Bildung soll z.B. nicht im Auswendiglernen der ersten 10 Verse von Illias liegen.
Prof. Swertz: Das Auswendiglernen von Versen trägt auch einen Bildungsgedanken mit sich, da durch die Auseinandersetzung mit einer Kultur interkulturelles Bewusstsein hervorgerufen wird. Dadurch erkennt der Mensch die eigenen Relativität in der Geschichte.
Es gibt unterschiedliche Bildungsansätze und Ideen basierend auf ein konkretes Menschenbild - zugrunde gelegt durch Wissenschaft oder Religion - das in einer bestimmten Epoche der Geschichte im Vordergrund stand. Viele Philosophen (wie z.B. Platon) erheben den Anspruch auf Richtigkeit ihrer gedanklichen Festlegungen. Wissenschaftlich gesehen muss derjenige, der eine Behauptung aufstellt, auch dazu stehen. Jedoch es ist nicht möglich zu wissen, ob diese These auch der Wahrheit entspricht.
Es ist wichtig Relationen herzustellen und sich die jeweiligen Bildungsdefinitionen in einem bestimmten Kontext eingebettet zu betrachten.
Das Auswendiglernen der 10 Verse von Illias ist vergleichbar mit den Suren aus dem Koran. Die Koranschulen zielen darauf ab, das Wort Gottes (Allahs) – niedergeschrieben durch Mohammad – sich durch Auswendiglernen einzuverleiben. Aufgrund der religiösen Überzeugung, dass das Wort Gottes durch das Rezitieren der Verse in einem selbst zur Entfaltung kommt, scheint es nicht notwendig zu sein, auch den Inhalt des heiligen Buches zu verstehen. Da der Koran auf Arabisch verfasst wurde, und viele Muslime die Sprache nicht beherrschen, ist ein Verstehen des Inhaltes nur schwer möglich. Hierbei steht der religiöse Aspekt in Vordergrund, nicht das Verstehen eines Inhaltes, sondern die wörtliche Wiedergabe des Textes. So wie die Bibel sollte auch der Koran als historisches Dokument gesehen werden, das interpretationsbedürftig ist. Bildung, so wie sie Humboldt beschreibt, zielt nicht ab auf Auswendiglernen von Inhalten, sondern auf Verstehen, um sich selbst positionieren in der Welt zu können.
Einwurf von Prof. Hrachovec: Das Auswendiglernen kann aber auch als eine Art Training angesehen werden. So wie die 10 Verse des Illias können auch die Email-Header als Basis dienen, um in Bezug auf Kant ein „freieres Verhältnis“ zu gewinnen.
Einwurf Hofbauer: Bildung ist nicht durch Wissenschaft, Religion oder Politik begründet, sondern zielt auf die Anerkennung und Eingliederung innerhalb einer Gesellschaft ab. Um Bildung zu definieren, sollte nicht auf den deutschen Bildungsbegriff zurückgegriffen werden.
Einwurf Köstenbauer: Der Deutsche Bildungsbegriff sollte in den Hintergrund treten und alternative Bildungsideen näher betrachtet werden. Auch die soziale Bedeutung soll hervorgehoben werden, der Leitartikel in der Zeitschrift „Gewinn“ („Eliteschulen als Karriereschulen“) weist auf die gesellschaftliche Bedeutung von Bildung hin. Gebildet sein bedeutet nicht nur zu wissen, sondern steht in Verbindung mit dem Wunsch nach Anerkennung.