Outline einer politischen Ökonomie des Geistes (G. Franck)

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Aus Georg Franck: Mentaler Kapitalismus. Eine politische Ökonomie des Geistes. München 2005 S. 14ff


Die These

Die These dieses Buchs ist, daß tatsächlich etwas Grundlegendes in Bewegung geraten ist. In das Verhältnis von Wertlegen und Achtgeben ist eine neue Dynamik einge­kehrt. Das Hin und Her ist in einem größeren Zusammenhang aufgegangen. Es ist in einem Zusammenhang aufgegangen, der zwar schon lange spürbar gewesen sein mußte, der aber latent blieb, weil ihn niemand für möglich hielt. Das Wechselspiel von Achtgeben und Wertlegen hat zu einem Gesellschaftsspiel zusammengefunden. Zu einem Spiel, in dem Acht eingesetzt wird, um Beachtung einzu­nehmen. Das Achten, worauf andere achten, ist in einen Kreislauf des Gebens und Nehmens übergegangen. Mehr noch: Der Kreislauf hat sich zu einem System hoch dif­ferenzierter und hoch integrierter Märkte entwickelt. Das Achten der Individuen aufeinander verkettet sich zu einem kollektiven Resultat. Die Summe der getauschten Beach­tung tritt als Sozialprodukt in Erscheinung. Dem Mengensystem der getauschten Beachtung ist ein System bewertender Tauschrelationen eingezogen. Die These ist, daß dieses System der Bewertung die objektivierende Funktion übernommen hat, die so lange in Gründen jenseits des subjek­tiven Wertens und Achtens gesucht wurde.

Herkömmlich galt: Was Wert hat, ist beachtlich. Die neue Entwicklung geht dahin, dass das akkumulierte Beachten selbst den Wert erzeugt. Vgl. digg, Slashdot, del.icio.us --> z.B. das Philo Wiki.

Diese These ist stark. Sie läuft auf die Hypothese hinaus, daß der Epochenbruch den Durchbruch einer immateriel­len Ökonomie markiert. Die These besagt, daß die Ökonomie der Aufmerksamkeit ein Maß an Rückkopplung und Selbstregulierung angenommen hat, welches externe Stabi­lisatoren überflüssig, wenn nicht dysfunktional macht. Aus dem Kreislauf des Acht Gebens, um Beachtung einzuneh­men, ist ein System horizontal und vertikal differenzierter Märkte hervorgegangen. Diese Entwicklung hat sich im Hintergrund, ohne Plan vollzogen. Sie hat sich selbst organisiert. Auch die ökonomische Form, die wir nun von der Warte des entwickelten Systems aus erkennen, war nicht vorgegeben. Sie hat sich herausgebildet in einem Prozeß der Selbstorganisation, der blind ist und sich hinter dem Rücken der Beteiligten vollzieht. So wird auch jetzt erst sicht­bar, daß die so lange latent gebliebene Entwicklung eine Vorgeschichte war. Sie war die Vorgeschichte eines dynami­schen Regimes des Tauschwerts, das nun die Regie über die kulturelle Wertschöpfung übernommen hat.

Horizontale Differenzierung heißt, daß sachlich differen­zierte Märkte nebeneinander entstehen. Differenzierung in der Vertikalen meint, daß Märkte entstehen, deren Funk­tion es ist, das Geschehen auf den anderen Märkten zu koordinieren. Die Stufe zur Differenzierung in diese beiden Richtungen ist erreicht, wenn kapitalistische Verhältnisse Einzug halten. Die These, daß ein dynamisches Regime des Tauschwerts die Regie über die kulturelle Wertschöpfung übernommen hat, meint, daß die Ökonomie der Aufmerk­samkeit in die Statur eines kapitalistischen Systems hineingewachsen ist.

Ein neuer Universalismus

Kapitalistisch ist diejenige Konstellation von Eigentumsver­hältnissen, Produktionstechniken und Distributionskanälen, die der ökonomischen Durchrationalisierung freie Bahn bricht. Wo kapitalistische Verhältnisse Einzug halten, da werden Drücke frei und Anreize effektiv, die bis dahin ohne Beispiel waren. Keine andere Form der Produktion und Distribution entwickelt vergleichbare Kraft in der Erschießung von Märkten, keine entwickelt vergleichbare Kraft im Herausholen von Arbeitsleistung und Abschöpfen von Zahlungskraft. Mit kapitalistischen Verhältnissen ent­stehen Reichtümer in neuen Größenordnungen, wird die Mehrung des Reichtums zum universellen Maßstab der Pro­duktivität.

Der Verdacht nun freilich, die kapitalistische Verwer­tungslogik habe sich der kulturellen Produktion bemäch­tigt, scheint ungeheuer. Immer noch versteht sich die Schöpfung kultureller Werte als das Andere der ökonomi­schen Wertschöpfung. Immerhin weist auch das Bild der Fragmentierung, das die universalistischen Vorstellungen beerbt, in eine ganz andere Richtung. Die Logik kapitalisti­scher Verwertung geht aufs Ganze. Die Auflösung der universalistischen Vorstellungen hinterläßt Teile, die sich ge­rade nicht mehr zu einem Ganzen fügen. Das postmoderne Bild der Kultur ist das einer Vielfalt eigener Welten. Mit dem Bild der einen Welt ist auch der eine Begriff der Ratio­nalität zerfallen. Um Platz für die Vorstellung einer durch- und umgreifenden Rationalisierung zu schaffen, muß neben die Kultur der praktischen Intersubjektivität eine tech­nische Zivilisation treten, die den Rationalitätsstil einer ganz bestimmten Kultur auf interkultureller Ebene durchsetzt.

Tatsächlich hat der Gegensatz von Kultur und Zivilisation eine beträchtliche Rolle im postmodernen Diskurs gespielt. Man kann sogar sagen, daß er eine unverhoffte Renais­sance erlebt hat. Er hat die sozialwissenschaftliche Verstän­digung über den Epochenbruch bestimmt. Dem soziologi­schen Blick mußte die Verwandtschaft zwischen der Mentalität der Postmoderne und der New Economy auffallen. Die New Economy stand für den Innovationsschub, den der kom­merzielle Kapitalismus durch die Maschinierung der geisti­gen Arbeit erfahren hatte. Die Assimilation der digitalen Medien war mit dem Aufstieg der Informationsproduktion zur wichtigsten Quelle der wirtschaftlichen Wertschöpfung verbunden. Information ist nichts Festes und Fertiges, son­dern der Überraschungswert, den wir aus Mustern ziehen. Also war die New Economy ein Ausdruck auch dafür, daß die stabilen Prozesse der klassischen Industrie den instabilen Prozessen der Informationsproduktion wichen. Eine sol­che Destabilisierung der wirtschaftlichen Grunddynamik ruft nach Anpassungen im kulturellen Überbau. Flexibili­sierung, Beweglichkeit und das Zulassen von Unsicherheit waren das Gebot der Stunde. Und war es nicht eben dieser Ruf, den die postmoderne Mentalität vernahm?

Der Rückgriff auf die Figur von Basis und Überbau leiste­te zweierlei. Er trug sowohl dem Gegensatz zwischen technischer Zivilisation und eigentlicher Kultur als auch dem Unterschied zwischen kommerzieller und kultureller Wert­schöpfung Rechnung. So konnte es kommen, daß die tot geglaubte Lehre von der Widerspiegelung der materiellen Basis im kulturellen Überbau eine regelrechte Renaissance erfuhr. Was an diesem Griff in den Fundus Marxistischer Orthodoxie nun allerdings befremdet, ist, daß nicht we­nigstens auch die Lehre kapitalistischer Verwertung eines neuen Blicks gewürdigt wurde. Es versteht sich nämlich gar nicht von selbst, daß nur der Geist auf die Rolle der Infor­mationsproduktion reagiert. Auch die Logik der Verwer­tung selbst ist affiziert. Information hat keinen Nährwert, sondern besteht im Überraschungs- oder Unterhaltungs­wert, der aus Mustern gezogen wird. Dieser Wert ist nicht eher realisiert, als die Aufmerksamkeit ausgegeben ist, welche die Überraschung erlebt oder die Unterhaltung goutiert. Das hat Konsequenzen für den Begriff der Pro­duktivität. Produktivität heißt im Kontext kapitalistischer Verwertung, daß Einkommen geschöpft werden. Die Einkommen, die durch die Informationsproduktion geschöpft werden, bestehen nur zum Teil in Geld. Ein anderer Teil – und zwar derjenige, der in der Informations- oder Wissensgesellschaft neue Bedeutung erlangt – wird direkt in Beachtung realisiert.

Zur Phänomenologie der Nachmoderne gehören neue Märkte, neue Anreize zur Bereicherung und neue Grö­ßenordnungen des Reichtums. Neu sind zum Beispiel die Märkte, die die Bevölkerung rund um die Uhr mit Infor­mation versorgen, um Beachtung aus ihr herauszuholen. Neu sind die Anreize, sich an dieser Beachtung zu berei­chern, neu die Größenordnung des Reichtums, den der Erfolg dieser Bereicherung beschert. Neu ist eine weltweit sich durchsetzende Einheitskultur, die ihre Expansionskraft aus der Professionalität bezieht, mit der das Geschäft der Attraktion betrieben wird. Durchaus werden da Drücke frei und Anreize effektiv, die ohne historisches Beispiel sind. Es wäre nun aber recht willkürlich, diese neue Ökonomie von der nachmodernen Kultur zu trennen. Die Kultur, die sich global durchsetzt, ist keineswegs nur kommerzielle Ware. Auch Kunst- und Theoriemärkte sind globalisiert. Auch die Subversion universalistischer Vorstellungen, auch die Selbstkritik der Moderne haben sich weltweit durchgesetzt. Seiner partikularistischen Botschaft zum Trotz ist der Diskurs der Postmoderne selbst weltumspannend ge­worden. Auch und gerade die Kultur, die sich auf das frag­mentierte Selbstverständnis beruft, ist Teil der neuen Einheitskultur.

Nehmen wir zum Beispiel die Architektur. Es gibt wenige Sparten der kulturellen Produktion, die die Strategien der Dekonstruktion so begierig assimiliert haben wie die de­konstruktionistische Architektur. Ausgerechnet der Dekonstruktionismus hat nun aber den Typus des Stararchitekten hervorgebracht. Stararchitekten sind diejenigen Vertreter des Fachs, die weltweit agieren und sich in überall gleicher Weise manifestieren. Die Architektur eines Frank Gehry, ei­ner Zaha Hadid, eines Daniel Libeskind taucht rund um die Erde auf und ist von einer Selbstähnlichkeit, die den Ver­gleich mit den Filialen von McDonald's provoziert.

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Man macht es sich zu einfach, wenn man den neuen Uni­versalismus mit Käuflichkeit und Dienst am Profit gleichsetzt. Ein wesentlicher Bestandteil der gobalisierten westlichen Kultur ist die Wissenschaft. Deren Erfolgsrezept liegt in der Autonomie des Forschungsbetriebs. Ihr Stil der In­tellektualität konnte sich weltweit durchsetzen, weil ihr die Emanzipation von der sowohl politischen als auch wirt­schaftlichen Dienstbarkeit gelang. Zu einfach macht es sich denn auch, wer die Einheitskultur als US-amerikanischen Kulturimperialismus denunziert. Der französische Poststrukturalismus und die Young British Artists gehören auch dazu. Die Einheit wird zwar durchgesetzt durch Märkte, die expandieren; die Märkte die da expandieren, sind aber von anderer Art als die, die Ware exportieren und Geld impor­tieren. Es war eben nicht nur der Buchmarkt, auf dem sich der Poststrukturalismus durchgesetzt hat. Auch war es ge­rade nicht nur der Kunstmarkt, auf dem die Brit Art Furore gemacht hat. Die französische Theorie hat sich durchge­setzt, weil sie rezipiert und zitiert wurde . Die YBAs haben Schule gemacht, weil andere Künstler sie zum Vorbild nahmen. Es waren, anders gesagt, nicht die Umsätze in Geld, sondern die Einkommen an Aufmerksamkeit, die den Ten­denzen zu weltweiter Geltung verhalfen.

Die neue Einheitskultur, das ist die These dieses Buchs, ist Ausdruck einer Ökonomie, die zur kulturellen Produktion nicht hinzukommt, sondern dem Leben der Kultur inhärent ist. Keine Kultur kann ohne die Aufmerksamkeit leben, die sie beschäftigt. Keine Kultur expandiert ohne Wachstum der Aufmerksamkeit, die sich mit ihr beschäftigt. Eine Einheitskultur ist die, die die Aufmerksamkeit aller – oder jedenfalls einer maßgeblichen Mehrheit – beschäf­tigt. Die neue Einheitskultur ist das Phänomen einer glo­balisierten Ökonomie der Aufmerksamkeit. Sie ist Phänomen und Ökonomie zugleich, denn sie nutzt die Kraft des phänomenalen Bewußtseins, mit Aufmerksamkeit zu bezahlen, und sie erschließt diese Zahlungskraft systematisch. Sie ist eine Ökonomie in dem entwickelten Sinn, daß die Zahlungsbereitschaft sowohl konsumtive als auch produk­tive Gründe hat.

Zum Begriff des mentalen Kapitalismus

Kulturell sind die Märkte, die die Bedürfnisse des Bewußtseins bedienen. Kulturell sind aber auch die Mittel, die das Bewußtsein in die Lage versetzen, schöpferisch, erfinde­risch, denkerisch tätig zu sein. Es ist dieser Zusammenhang zwischen den Bedürfnissen des Bewußtseins zur einen und der geistigen Produktivität zur anderen Seite, den der Begriff &es mentalen Kapitalismus artikuliert. Kapitalistisch ist die Produktion mittels vorproduzierter Produktionsmittel, die folgende Bedingungen erfüllt: Erstens muß die Produk­tion Einkommen schöpfen, zweitens müssen die Einkom­men zwischen den Produzenten und den Besitzern der Pro­duktionsmittel geteilt werden, drittens müssen Verteilung und Bestimmung der Produktivität zusammenfallen. Nir­gends steht geschrieben, daß die Einkommen in Geld anfallen müssen, um als Maß der Produktivität zu fungieren. Vielmehr sind da drei zusätzliche Bedingungen, die hinreichen, um kapitalistische Verhältnisse auch diesseits des Gelds entstehen zu lassen: Erstens muß auch die geistige Produktion von knappen Ressourcen zehren, zweitens muß der Wirkungsgrad dieser Ressourcen durch die Vorproduk­tion von Produktionsmitteln steigen, drittens muß die gei­stige Produktion um eines Einkommens willen geschehen, das sich eignet, die Ergebnisse der produktiven Anstren­gung zu bewerten.

"Verteilung und Bestimmung der Produktivität zusammenfallen": Im Gegensatz z.B. zur ostentativen Freigebigkeit von Mäzenen wird im Kapitalismus die Produktivität durch Expansion gekennzeichnet. Vgl. Bill Gates als Chef von Microsoft und als Sponsor von Anti-AIDS-Programmen.

Um den Nachweis, daß die Form kapitalistischer Verwer­tung an keine bestimmte Materialisierung der Produktion und des Austauschs gebunden ist, drehen sich die Kapitel des Hauptteils. Hier, vorweg, sei klar gemacht, was konkret an die Stelle der materiellen Ressourcen und der geldwer­ten Einkommen tritt. Was ist konkret unter dem Geistigen zu verstehen, das den mentalen Kapitalismus definiert?

Die Ressource, von der die Schöpfung kultureller Wer­te immer und vor allem zehrt, ist die Kapazität bewuß­ten Erlebens. Diese Kapazität ist organisch begrenzt und sehr viel enger, als es die Kapazität unseres Nervensystems zur Verarbeitung von Information ist. Bewußt wird nur ein winziger Bruchteil der Information, die der Organismus insgesamt verarbeitet. Bewußt wird der Teil, der sich mani­festiert: der auftaucht im geistesgegenwärtigen da Sein. Die­ses Auftauchen und diese Gegenwart sind geistig in einem ganz konkreten Sinn. Sie sind geistig in dem Sinn, daß sie nicht identisch mit und nicht reduzierbar auf die Aktivitä­ten des Nervensystems sind, die in physischen — sei es phy­sikalischen, chemischen oder physiologischen — Begriffen beschrieben werden können. Bewußtes Erleben kommt nur in der Perspektive der ersten, nämlich derjenigen Person vor, die das Nervensystem selber ist. Von außen, in der Per­spektive der dritten Person, ist das Bewußtsein schlech­terdings unzugänglich. Dennoch ist das Auftauchen von Gehalten im Bewußtsein etwas ganz Konkretes. Es ist kon­kret in dem Sinn, daß die Konkretheit eines Gehalts ein anderer Ausdruck für die Intensität ist, mit welcher er in der Präsenz des Bewußtseins anwesend ist. Ein Etwas ist um so konkreter, je mehr es von der mentalen Präsenz absor­biert.

Die Intensität, mit der ein Gehalt im Bewußtsein zugegen ist, hat zweierlei Maß. Das erste Maß liegt im Anteil der Kapazität, den das Erleben des Gehalts in Anspruch nimmt. Das zweite Maß liegt in der Intensität, mit der die mentale Präsenz selbst zugegen ist. Beide Arten der Intensität sind ständigem Wechsel unterworfen. Jeden Moment verändern sich die Dinge, auf die wir achten, und wechselt der Zustand der Welt, der sich dem bewußten Erleben präsentiert. Jeden Tag durchläuft die mentale Präsenz den Zyklus von Wa­chen, Ermüden und Schlafen.

Es ist hier, wo die Kapazität bewußten Erlebens die Eigen­schaften einer Ressource annimmt. Ressourcen sind Mit­tel, deren Verwendung nach Ökonomisierung ruft. Öko­nomisierung bedeutet Arbeit am Wirkungsgrad. Der Wir­kungsgrad tritt ins Bild, sobald die Verwendung bestimmte Zwecke verfolgt. Zwecke sind Absichten zu handeln und set­zen die Fähigkeit voraus, über die Mittel zu disponieren. Um deutlich zu machen, wie weit unsere Fähigkeit zur Disposition über die Kapazität bewußten Erlebens reicht, sei erst einmal ausgeschlossen, was der Disposition entzogen ist. Die Verwendung unserer Aufmerksamkeit hat keinen Einfluß auf den temporalen Wechsel der Zustände, die sich dem Bewußtsein präsentieren. Der Übergang künftiger in gegenwärtige und von da an vergangene Zustände ist unse­rem Zutun schlechthin entzogen. In lediglich engen Gren­zen disponibel ist der tägliche Zyklus von Wachen, Ermü­den und Schafen. Wir können versuchen, uns wach zu halten, wir können uns anstrengen, das Bewußtsein zu kon­zentrieren. Wir können uns auf diese Weise aber auch klar machen, wie wenig die willentliche Anstrengung gegen die organische Bemessenheit der Energie des bewußten da Seins vermag.

Im Rahmen, den der temporale Wechsel und der circa­diane Zyklus stecken, fühlen wir uns relativ frei zu steuern, worauf wir achten. Relativ, weil wir nicht wissen — und auch nicht wissen können —, wie frei wir letztendlich sind. Unser Achten ist stets vermittelt durch das, was uns einfällt. Was uns einfällt, haben wir nicht beziehungsweise nur ganz bedingt in der Hand. Wir können uns anstrengen, wir können suchen, gewiß. Geliefert werden müssen aber auch die Einfälle von der Verarbeitung jenseits des Bewußtseins. Von dorther kommen auch die Sehnsüchte, Antriebe, Vorlieben und Aversionen, die alles Erleben grundieren und allem Zielen letztlich Richtung geben. Immerhin meinen wir nun aber einen deutlichen Unterschied in der Disponibilität zwischen dem Wechsel zu spüren, der von jenen autono­men Prozessen bewerkstelligt wird, und dem Wechsel der Gehalte, den wir der eigenen Anstrengung zurechnen.

Auch dieser Wechsel durch Anstrengung ist eine Frage der Intensität, mit der wir bewußt da sind. Je höher die Intensität der Präsenz, um so höher scheint auch das Niveau der mentalen Energie zu sein, über die es uns erlaubt ist zu disponieren. Die Auswahl und Fokussierung fühlt sich leicht an, wenn wir im Zustand hellen Wachseins sind. Die Steuerung des Achtgebens wird mühsam, wenn wir ermü­den. Mit dem Ermüden erlahmt über die Kraft zur Konzentration hinaus auch das Fassungsvermögen. Die Fähigkeit zur Steuerung des Achtens entschwindet, wenn wir einschlafen. Im Traum hat das Vorbewußte das Steuer ganz übernommen.

Solange wir das Steuer im Griff haben, finden wir uns ei­nen Spielraum nutzend. Der Spielraum macht, daß wir — ob wissentlich oder nicht, ob willentlich oder nicht — mit der Lösung eines Problems beschäftigt sind. Wir lösen das Pro­blem der Auswahl, worauf wir achten. Wir entscheiden, was aus der begrenzten Kapazität bewußten Erlebens gemacht wird. Diese Entscheidung wird uns öfter, als uns lieb ist, von äußeren Umständen und der Verfassung unseres Organis­mus abgenommen. Sie wird auch weiter gehend, als wir wohl ahnen, durch Sozialisation und Gewohnheit präfor­miert. Es muß aber etwas zu entscheiden geben, wenn die Rede von der menschlichen Kultur einen Sinn haben soll. Kultur meint eben dies: daß aus der Kapazität bewußten Er­lebens etwas gemacht wird, das nicht schon immer so war und nicht ganz von selber kam. Die Einweihung in die Kultur verwandelt der Aufmerksamkeit Fähigkeiten – fast könnte man sagen: Organe – an, über die sie anders nicht verfügen würde. Kultur ist die Bildungsform subjektiven Erlebens.

Man mag einwenden, diese Sicht generalisiere die Selbst­sicht unserer westlichen Kultur in übergriffiger Weise. Der Einwand soll nicht von der Hand gewiesen, sondern metho­disch gewendet werden. Wir reden, wenn wir von der Kul­tur reden, ob willentlich oder nicht, immer über die eigene. Unsere westliche, mit Wissenschaft und Technik getränk­te Kultur ist das Produkt einer Jahrtausende alten Arbeit am Wirkungsgrad mentaler Energie. Das Bewußtsein davon tritt deutlich in ihrer postmodernen Selbstkritik hervor. In dieser Kritik zeigt diese Kultur sich logo- und eurozentrisch. Sie macht sich bewußt, daß sie mit ihrer Ökonomie des Denkens und mit ihrem Drang nach Expansion ein Pro­blem für andere Kulturen darstellt. Die Frage ist, was hinter dieser Dynamik steckt. Geht sie ganz auf die Entfaltung wirt­schaftlicher und politischer Macht zurück? Oder rührt der Entwicklungsdruck daher, daß aus der unschuldigen Öko­nomie des Denkens und aus dem schlichten Wunsch, das beste aus der Kapazität bewußten Erlebens zu machen, eine kollektive Dynamik hervorgeht, die den Beteiligten als äußere Macht gegenübertritt?

Die "unschuldige Ökonomie des Denkens" ist soetwas wie der Cusanus-Club und die These G. Francks läuft darauf hinaus, dass sich derartige wissenschaftliche Gebräuche universalisiert und zu einer neuen Qualität gewandelt haben.

Der Begriff des mentalen Kapitalismus wird konkret, wenn wir nach den sozialen Umständen fragen, unter de­nen die Arbeit am Wirkungsgrad mentaler Energie zu ei­nem kollektiven Anliegen wird. Es gibt keinen Wirkungs­grad an und für sich. Es gibt ihn nur im Hinblick auf Zwecke. Der allgemeinste Zweck, der sich angeben läßt, ist der der Produktivität. Wo es möglich ist, die Produktivität zu messen, ist es auch möglich, verschiedene Verfahren der Produktion nach dem Wirkungsgrad zu sortieren. Das trifft selbstverständlich auch auf die geistige Produktion zu. Und nicht umsonst ist beim Denken von Ökonomie die Rede. Denkökonomie meint nichts anderes als den sparsamen oder, was aufs selbe hinausläuft, möglichst wirkungsvollen Umgang mit mentaler Energie. Bemerkenswerterweise ist die Denkökonomie nun aber ein Gebiet, mit dem sich weder die Erkenntnistheorie noch die theoretische Ökono­mie je ernsthaft befaßt haben. Nicht einmal die Wissen­schaftstheorie und Wissenschaftssoziologie haben ernst zu nehmende Anstalten gemacht, sich dieses zentralen The­mas anzunehmen. Der Grund ist, daß der Begriff der Produktivität in Sachen des Denkens und der Findigkeit verschwommen blieb. Zwar haben alle, die im Geschäft sind, ein Gespür für Produktivität. Alle wissen intuitiv, daß es enorme Unterschiede in der wie immer verstandenen Produktivität gibt. Was aber fehlt, ist das Kriterium, das den Begriff der Effizienz operationalisieren läßt. Ohne ein solches Kriterium bleibt es beim subjektiven Eindruck und der un­gefähren Rede.

Die ökonomische Theorie legt das Maß der Produktivität in die Einkommen, die die produktive Tätigkeit schöpft. Natürlich ist auch die geistige Arbeit produktiv im Sinn, daß sie Geld verdient. Und selbstverständlich ist es möglich, aus dem Anteil der geistigen Arbeit am geldwerten Sozialprodukt Kriterien abzuleiten, die den Begriff der geistigen Produktivität operationalisieren. Es ist nicht einmal ausge­schlossen, auf diesem Weg die Produktivität auch derjeni­gen Arbeit zu erfassen, die nicht nach Leistung bezahlt wird. Das Problem mit dem Umweg über das geldwerte Pro­dukt ist, daß er die Produktivität erstens nicht fein genug und zweitens nur im Hinblick auf kommerzielle Zwecke bestimmt. Der Maßstab des Gelds versagt, wo die Produktion zum Selbstzweck wird. Kurz, das geldwerte Äquivalent ist keinesfalls fein genug, um den Wirkungsgrad zu bestimmen, den wir meinen, wenn wir von Denkökonomie reden.

Heißt das, daß es nicht möglich ist, den Begriff der künstlerischen und intellektuellen Produktivität zu operationalisieren? Oder heißt es, daß notorisch übersehen wurde, wofür Künstler, Denker und Forscher auch dann arbeiten, wenn sie der Sache ohne Vorbehalt und Hintergedanken hingegeben sind? Was ist die größte Erfindung ohne Anerkennung, was die größte Entdeckung ohne das Staunen der anderen Forscher? Ein Fund, der keine Beachtung findet, bleibt ein individuelles Erlebnis. Eine Erkenntnis, die im Verborgenen bleibt, ist ohne kulturelle Bedeutung. Zu einer kulturellen Errungenschaft wird eine individuelle Leistung erst, indem sie Aufmerksamkeit verdient. Dabei kommt es nicht zunächst auf die Belohnung an. Es kommt darauf an, daß die Leistung Wirkung zeigt, und zwar dadurch, daß sie Einfluß auf das Wähnen, Denken und Achten derer nimmt, die ihrerseits versuchen, aus der engen Kapazität bewußten Erlebens mehr herauszuholen. Die Be­achtung, die im Zusammenhang damit gezollt wird, daß die Erfindung oder Entdeckung im Bewußtsein anderer akti­viert wird, ist das Einkommen, welches erlaubt, den Begriff der Produktivität in Sachen der kulturellen Produktion zu operationalisieren.

Das Einkommen an Beachtung mißt den kulturellen Wir­kungsgrad der Acht, die die geistig Arbeitenden geben. Oder anders, die Messung des Wirkungsgrads mentaler Energie erfolgt durch die Umwandlung der Aufmerksam­keit, die die Produzenten investieren, in das Einkommen Aufmerksamkeit, das sie beziehen. Diese Messung funktio­niert schon lange. Sie gibt seit Jahrtausenden Maß. Sie funk­tioniert auch und gerade dann, wenn die Beteiligten nichts davon wissen. Und sie gibt Maß auch dann, wenn die Pro­duzenten an nichts als die Sache, in die sie sich verlieren, denken.

Der mentale Kapitalismus ist die Form, die der Kreislauf des Acht Gebens und Beachtung Einnehmens annimmt, wenn ihm erlaubt wird, die Synergien der Umwegproduktion und die Möglichkeiten der indirekten Bewertung zu probieren. Der Kreislauf beginnt sich zu differenzieren, wo der direkt zwischenmenschliche Beachtungstausch um den Austausch eigens verfaßter Information erweitert wird. Der Kreislauf bildet Schlaufen, wo die Information ihrerseits mittels vorproduzierter Information und frischer Aufmerk­samkeit produziert wird. Der mentale Kapitalismus stellt diejenige Stufe der Umwegproduktion dar, wo Informati­onsgüter ihrerseits nach der Beachtung, die sie verschaffen, bewertet werden. Die Bewertung nach dem Einkommen, das sie verschaffen, macht aus den Informationsgütern, die zu Produktionsmitteln werden, Kapitalgüter. Die Ausdiffe­renzierung dieses Verwertungsprozesses reicht, wenn einmal in Gang gekommen, bis hin zur Erschließung des akkumulierten Reichtums an Beachtung als einer eigenen Quelle des Einkommens an Beachtung.




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