Martin Seel: Aspekte des guten Lebens

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Aspekte des guten Lebens [Martin Seel, Eine Ästhetik der Natur, (Frankfurt, Suhrkamp, 1996), {Abschn. 6, Moral des Naturschönen}, S. 288-346.]

Der Autor versucht beginnend von einer Ästhetik, die vor allem das Naturschöne zum Gegenstand hat, eine Ethik zu umschreiben, die ihren Ausgangspunkt in den Charakteristiken eines gelingenden Lebens nimmt. Im Prinzip geht es um die Frage: Schließt ein individuell gelingendes Leben zugleich immer ein ethisches richtiges Leben mit ein?

Um diese Frage zu beantworten, müssen zwei unterschiedliche Moralbegriffe unterschieden werden. Eine Moral im weiteren Sinne meint eine Lebensform, die ein individuell gutes und gelingendes Leben zum Ziel hat ohne dabei die Lebensform anderer zu berücksichtigen. Eine Moral im engeren Sinne beinhaltet eine universelle allgemein gültige, richtige Lebensform. Sie beinhaltet normative Vorschriften, die die Autonomie jedes Einzelnen als das Schützenswerteste hält.

Seel versucht Aspekte einer Moral im weiteren Sinne zu charakterisieren. Ein gelingendes Leben umfaßt Kontemplation, Imagination und Korrespondenz bzw. Kommunikation. Die Merkmale unterscheiden sich durch ihren Bezug zum praktischen, alltäglichen Leben. Ein gelingendes Leben kommt ohne Korrespondenz zur Umwelt und im Weiteren ohne Kommunikation mit anderen Subjekten nicht aus. Die Natur besitzt nicht nur existentielle Voraussetzung des Lebens, sondern sie ist auch eine „Vorlage“ für eine ästhetisch gelingende Lebensform. Die Natur als komplexes Ökosystem stellt uns eine Vielzahl gelingender Organismen vor, die ein unglaublich reiches ästhetisches Phänomen repräsentieren. Ohne Kommunikation zwischen Subjekten ist gelingendes Leben unmöglich. Es geht um eine Exploration der eigenen Weltanschauung, die dem Anderen entgegengestellt wird. Es geht um ein Abstecken von Meinungen, Herausarbeiten von Gemeinsamkeiten und Klarstellen von Differenzen. Aus dieser Synthese entstehen auch neue Weltbilder die für ein gelingendes Leben von großer Bedeutung sind und gleichzeitig wächst der Respekt durch unterschiedliche Meinungen vor Anderen. Als zweites Merkmal ist die Imagination ein wichtiges Teilideal guten Lebens. „Wir, die Denkend-Empfindenden, sind es, die wirklich und immerfort etwas machen, das noch nicht da ist: die ganze ewig wachsende Welt von Schätzungen, Farben, Gewichten, Perspektiven, Stufenleitern, Bejahungen und Verneinungen. Diese von uns erfundene Dichtung wird fortwährend von den sogenannten practischen [sic!] Menschen eingelernt, eingeübt, in Fleisch und Wirklichkeit, ja Alltäglichkeit übersetzt.“(1) Die Dinge sowie die Natur an sich besitzen keinen Wert. Wir sind es, die die Dinge bewerten. Somit liegt es an uns, Dinge, die uns ein gelingendes Leben ermöglichen, auch den entsprechenden Stellenwert zukommen zu lassen. Das dritte und letzte Teilideal versucht sich aus dem Teilnahme am Leben völlig zurückzuziehen und versteht sich als eine Art Reinigung – die Kontemplation. Es ist ein Heraustreten aus der Hektik des Alltags. Das Subjekt richtet sich auf kein Objekt und versucht auch gar nicht Dinge theoretisch zu verpflücken. Es ist reine Anschauung, dessen Vollzug auf kein Ergebnis ausgerichtet ist. Das Subjekt verharrt im subjektiven. Auch das Kontemplative hat jedoch nur als Teilideal gelingenden Lebens Bestand, da eine Verabsolutierung der reinen Anschauung, wenn es möglich wäre, das Leben facettenärmer als facettenreicher machen würde, da das Leben von weiteren Fähigkeiten abseits der Kontemplation ausgeschlossen wird.

Die drei Aspekte guten Lebens liegen einer gelingenden Lebensform zu Grunde. Doch ist ein angenehm schönes Leben zugleich ein Richtiges im engeren Sinne der Moral?

Gelingendes Leben schließt ein richtiges, nach einer universellen Ethik gerichtetes Leben nicht aus, jedoch führt es nicht zwangsläufig in ein solches. Beim reinen Ästhetiker sind die drei Aspekte gleichgestellt. Der reine Ästhetiker springt gleichberechtigt zwischen dem Kontemplativen, Imaginativen und Kommunikativen hin und her. Der Ethiker erkennt ein Primat des kommunikativen Lebens des kommunalen Lebens an. Er fühlt sich der Autonomie der Anderen verpflichtet. Gerät die Kontemplation oder die Imagination der Autonomie Anderer in die Quere, so hat ein Ethiker dies zu unterlassen, im Gegensatz zum Ästhetiker.

Die Natur ist Voraussetzung für Leben. Sie ist die Rahmenbedingung, in dem Leben existiert. Sie sichert uns nicht nur die Existenz, sondern zeigt uns viele verschiedene Arten von Lebensformen, die uns ein gelingendes Leben ermöglichen. Wir müssen der Natur kein Recht einräumen um sie als erhaltenswert in all ihrer Biodiversität zu schützen. Es reicht, die Umwelt als Lebensgrundlage eines jeden Menschen, auch zukünftig lebender Menschen, anzuerkennen. Sie ist sozusagen ein entscheidendes Element der Autonomie eines jeden Einzelnen. Der Mensch, der nach den oben erläuterten ethischen universalen Gesichtspunkten handelt, wird keine weiteren Argumente benötigen, um die Umwelt in ihrer Komplexität erhalten zu wollen.


Fußnoten: (1) Nietzsche (1980b), 539f. (Nr. 301).