MUNDT, Elisabeth (Arbeit2)

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DISKUSSION (2.Arbeit MUNDT, Elisabeth)

Arbeit zum IK „Methoden und Disziplinen der Philosophie“

  • über die Sitzungen vom 27. 11. 2008 und vom 4. 12. 2008, gehalten von Univ. Doz. Dr. Arno Böhler
  • verfasst von Elisabeth Mundt


Arno Böhler beginnt seine Vorlesung mit einem für sein Forschungsgebiet wichtigen Begriff, nämlich den der Performanz. Er unterscheidet zwei Übersetzungen, einerseits kann Performanz als das englische „performance“ übersetzt werden, was so viel bedeutet wie „eine künstlerische Produktion“, andererseits kann Performanz auch als eine bestimmte Art zu sprechen verstanden werden. Letztere Interpretation von Performanz ist von John Langshaw Austin geprägt worden, einem im Jahre 1960 verstorbenen englischen Philosophen, der der Begründer der Sprechakttheorie war. Performative Sätze sind Sätze, die sich nicht darauf beschränken, einen Sachverhalt festzustellen, sondern durch deren Aussprache ein „acting“, ein „doing“ vollzogen wird. Als Beispiel nennt Böhler jenen klingenden Satz, der von einem Priester bei einer Trauung ausgesprochen wird, nämlich: „Hiermit sind Sie Mann und Frau.“ Durch Aussprache dieses Satzes wird nicht nur festgestellt, dass das Paar nun Mann und Frau ist, sondern sie sind es erst nachdem der Satz ausgesprochen wurde. Hiermit wurde also durch das Aussprechen des Satzes ein Sachverhalt hervorgebracht. Böhler stellt sich nun die Frage, inwiefern sich unsere Vorstellung von Denken verändert, wenn wir es aus der performativen Perspektive betrachten. Er stellt fest, dass der Akt des Denkens immer schon auf eine Art Körperlichkeit zurückgreift. Schließlich wären wir ohne einen Körper nicht in der Lage zu denken. Nun bringt Böhler den Begriff des Leibes ins Spiel und macht die interessante Bemerkung, dass es den Begriff des Leibes im Englischen eigentlich nicht gibt. In Übersetzungen von Husserl wird er als „lift body“ bezeichnet. Böhler stellt nun zwei grundlegende Arten fest, wie wir unseren Körper gebrauchen können, was schließlich unter die so genannte Leiblichkeit fällt. Zum einen, so Böhler, können wir ihn intentional gebrauchen. Dies bedeutet, dass unser Körper für uns ein Werkzeug ist: Die Hände benutzen wir zum Schreiben, die Beine zum Gehen und so weiter. Wenn wir unseren Körper intentional gebrauchen, so ist er „einfach da“, wir müssen uns nicht klar machen, dass wir ihn besitzen. Die zweite Art, wie wir unseren Körper gebrauchen können bezeichnet Böhler als die, wie Heidegger es formuliert hat, „Unzuhandenheit“. Diese „Unzuhandenheit“ beschreibt die Tatsache, dass uns unser Körper entgleiten kann, wir können ihn nicht mehr intentional gebrauchen, denn er „meldet sich selbst“. Man ist nicht in der Lage, seinen eigenen Körper zu kontrollieren und er wird oft als störend empfunden. Nietzsche meinte dazu, dass diese Nicht-Kontrollierbarkeit unseres Körpers die Antwort darauf sei, wieso die meisten Philosophen Körperlichkeit und Materielles an sich als abstoßend empfinden. Doch Böhler weist darauf hin, dass dieses Entgleiten des Körpers sehr wohl auch einen positiven Aspekt in sich birgt, nämlich dann, wenn es um künstlerische Prozesse geht. Wenn man sich kreativ betätigt und dabei zulässt, dass einem der Körper entgleitet und man ihn nicht kontrolliert, so können dabei wunderbare Dinge entstehen. Das ist das, was Böhler als „glücken“ bezeichnet. Hier spielt der Zufall eine große Rolle, der, so Nietzsche, vielen Philosophen ein Grauen ist, da sich der Zufall nicht kontrollieren lässt. Etwas später greift Böhler den Ansatz des Dionysischen und der künstlerischen Askese heraus, womit Nietzsche aussagen wollte, dass ein künstlerischer, kreativer Prozess nicht nur bedeutet, dass man sich vollkommen ausliefert und sich einem Rausch hingibt, der alles bestimmt. Künstlerisch tätig zu sein bedeutet nämlich auch, nicht jedem Reiz zu folgen. So hängt etwa das Tanzen mit größter Disziplin zusammen. Ich will diesen Ansatz etwas vorziehen, da ich mir dazu meine eigenen Überlegungen gemacht habe, von deren Richtigkeit ich aber natürlich nicht hundertprozentig überzeugt bin, und diese nun darlegen will. Ich bin sehr kunstinteressiert und hatte während meiner Oberstufen-Zeit im Gymnasium einen hervorragenden Kunstlehrer, der vor allem versucht hat, uns die Künstler und Künstlerinnen des zwanzigsten Jahrhunderts näher zu bringen. Einer dieser herausragenden Künstler war Jackson Pollock, ein im Jahre 1956 verstorbener amerikanischer Maler, der ein wichtiger Mitbegründer der Stilrichtungen des „Action Paintings“ und des Abstrakten Realismus war. Was mich an dieser Stelle natürlich besonders freut, ist der Ausdruck des „Action Paintings.“ Unter diese Stilrichtung fallen vor allem Pollocks berühmte und so genannte „Spritzbilder“. Für diese Technik breitete der Künstler eine große Leinwand am Boden seiner als Atelier umfunktionierten Scheune aus und begann meistens einen Stab, aber oft auch einen dicken Pinsel in eine Farbdose zu tauchen und wanderte dann mit diesem tropfenden Werkzeug über die Leinwand. In einem Dokumentarfilm über den Künstler konnte man sehen, dass er die Welt um sich herum vergaß, wenn er diese Bilder malte. Manchmal fiel ihm ein Zigarettenstummel aus dem Mund und auf die Leinwand, was ihn gar nicht weiter zu stören schien. Diesen Zustand, in dem sich Pollock beim Anfertigen der riesigen Gemälde befand, ist das, was ich als „Unzuhandenheit“ des Körpers verstehe und wenn das Bild fertig war, so war es meistens „geglückt“. Das Interessante ist nun aber, dass Pollock trotz seiner Selbstvergessenheit und vielleicht auch Unkontrollierbarkeit auf die Kompositionen achtete. Seine Bilder sind meiner Meinung nach Meisterwerke, nämlich sowohl im farblichen Sinn als auch im Hinblick auf die Komposition. Ich stimme also aufgrund dieser Tatsache vollkommen mit der Feststellung Nietzsches überein, dass das Dionysische, das Pollock an den Tag legte, sehr wohl auch mit Kontrolle zu tun hat, oder, wie Nietzsche es nannte, mit „künstlerischer Askese“. Jackson Pollocks Bilder sind für mich eine Mischung aus Zufall und Absicht, aus Gehen lassen und Kontrolle. Ob Bilder von Künstlern und Künstlerinnen, die so ähnlich arbeiten wie Pollock also wirklich unter „glücken“ fallen, wenn sie gut geworden sind, scheint für mich fragwürdig, denn ich glaube, dass solche Künstler und Künstlerinnen zwar in einer Art Trance versinken, den Zufall aber durchaus bis zu einen hohen Grad kontrollieren können. So widerstrebt es mir auch, diese Art von kreativen Prozessen als Anmut oder Grazie zu bezeichnen, wie Gumbrecht es etwa getan hat. Böhler spricht auch von einem Gefühl der „Dankbarkeit“, die sich einstellt, wenn das Werk gut geworden ist. Ich meine schon, dass er damit bis zu einem gewissen Teil Recht hat, doch scheint es mir etwas dreist zu sein zu sagen, dass Kunst immer dann entsteht, wenn etwas aus den Fugen gerät. Natürlich stimmt das bis zu einem gewissen Grad, aber meiner Meinung nach ist Böhler hier etwas zu radikal. Am Ende seines ersten Vortrags meint er auch, dass ein Kunstwerk nicht durch das „Genie des Künstlers“ zustande käme, sondern dass es vor allem dem Zufall zu verdanken sei, wenn etwas gelinge. Vielleicht habe ich das auch meinerseits etwas zu radikal aufgefasst, aber ich will mit dieser Anführung einfach zeigen, dass man einem Künstler wie Jackson Pollock nicht sein Genie absprechen darf. Es ist meiner Meinung nach eben diese Kontrolle und damit auch die Kompetenz, den „Zufall in die richtige Richtung lenken zu können“, das ein großes Genie ausmacht und auch bei allen guten Künstlern und Künstlerinnen vorhanden ist. Denn wäre es tatsächlich so, dass der Zufall die mächtigste Instanz beim kreativen Arbeiten ist, so würden immer nur Teile eines Bildes von Jackson Pollock gelungen sein, und nicht das gesamte Werk. Allerdings will ich diese Frage an jenem Punkt offen lassen, da ich selbstverständlich nicht sicher bin, ob ich mich auf der richtigen Fährte befinde. Es war bloß ein Ansatz, der mir bei Böhlers Vortrag in den Kopf schoss und den ich einfach anführen wollte. Böhler geht nun zum Begriff des Denkens über. Hierfür zieht er Nietzsche heran, der Kritik an den Schulen und Universitäten seiner Zeit übte, da diese keinen Begriff mehr dafür geben, was „denken lernen“ bedeutet. Für Nietzsche ist klar, dass das Denken genauso gelernt werden muss, wie alles andere, es ist Theorie, Praxis und auch ein Handwerk. Denken ist also in gewisser Art wie das Tanzen, da beides gelernt werden muss, und damit ist das Denken auch ein Modus der Sinnlichkeit. Böhler meint hierzu, dass, wenn das Denken ganz zum Denken wird, es eine Art zu tanzen sei. Die Denkorgane sind tätig und so führt Böhler die, meiner Meinung nach, etwas poetische Formulierung an, dass das Hirn tanze. Wirklich Tanzen, so Böhler, ist das Denken allerdings erst, wenn es zum Spiel wird zu denken. Hiermit meint er jenen Zustand des Denkens, wo der Denkende noch kein Ziel vor Augen hat, wenn man, so würde ich es bezeichnen, „einfach drauf los denkt“. Man weiß also noch nicht, was beim Denken heraus kommen soll, das Denken gerät sozusagen „aus den Fugen“. Böhler geht nun dazu über zu zeigen, wie Kreativität funktioniert. Als stereotyp bezeichnet er etwa eine Art des Denkens, die immer auf den erstbesten Begriff zurückgreift. Dies ist für Böhler eine falsche Art des Denkens und nicht kreativ. So fällt etwa die Sündenbocktheorie darunter, denn wenn eine Tat begangen wird, neigen Menschen dazu, eine bestimmte Gruppe von Menschen dafür verantwortlich zu machen. In diesem Fall, so Böhler, handeln wir wie Maschinen. Richtige Kreativität scheinen wir im englischen Ausdruck für „handeln“ zu finden, was nämlich „acting“ bedeutet. Im Deutschen verstehen wir unter handeln eher rationale oder etwa politische Tätigkeiten. Im Englischen bedeutet „acting“ kreativ sein. Böhler stellt sich nun die Frage, wie es dazu kommt. Hierfür greift er auf einen uralten Streitpunkt der Philosophie zurück. So meinte Platon, dass ein Verb, wie zum Beispiel „gehen“, als Nennform an sich existieren würde (im platonischen Himmel). Aristoteles hingegen meinte, dass „gehen“ nur dann existieren könne, wenn es einen „Gehenden“ gebe. Das Partizip Präsens nimmt also eine wichtige Position ein, die eben auch vom Begriff des „actings“ vertreten wird. Nun leitet Böhler von dieser Position ab, dass es klarerweise auch einen Denkenden geben muss, damit überhaupt gedacht werden kann. So ist das Denken also eine Form der Tathandlung und auch eine Form der Praxis. An jene Form des Partizip Präsens knüpft Böhler dann in seiner nächsten Sitzung an. Er fragt nämlich nun, wie es sich mit dem Verb „sein“ verhält. Er will wissen, was das aktuell vollzogene Sein bedeutet und macht darauf aufmerksam, dass viele Sprachen und insbesondere das Altgriechische den Ausdruck des „Seienden“ öfter benutzen als den des „Seins“. Er geht nun von Hans Dieter Mersch aus, einem im Jahre 1951 geborenen deutschen Philosophen, der den Begriff des „ekphantischen Seinsverständnisses“ zur Sprache brachte. Der Begriff des Ekphantischen stammt aus dem Altgriechischen (ἐκ-φαίνο), was soviel bedeutet wie, dass etwas zum Vorschein gebracht wird oder erst entsteht. Indem etwas zum Vorschein gebracht wird und damit selbst zum Vorschein kommt, fällt es unter den Begriff des Ekphantischen, was auch als Phänomen bezeichnet werden kann. Erscheinen ist also jener Prozess, in dem sich die Dinge selbst kundmachen. Im theologischen Sinne kann es auch als Offenbarung bezeichnet werden. Böhler greift nun auf Nietzsche zurück, der einen interessanten Ansatz brachte: Wenn wir sagen, dass die Sonne scheint, so dürfen wir selbstverständlich nicht glauben, dass die Sonne wie ein selbst bestimmtes Objekt handelt. Nietzsche bezeichnet das Scheinen der Sonne als die Aktivität des Phänomens, damit meint er, dass Körper per se eine fundamentale Weise des Tuns besitzen, sie sind „res extensa“, sie verharren nicht an einem Ort, sondern es liegt in ihrer Natur, sich in Raum und Zeit auszubreiten, sie expandieren. Wir müssen nach Nietzsche auch einsehen, dass das Sein ein Vorgang ist, bei dem wir nicht etwa sagen können, die Sonne befindet sich irgendwo, denn sie breitet sich ja aus. Somit kann also sein mit erscheinen gleichgesetzt werden. Dann zieht Böhler auch die Überlegungen von Jean-Luc Nancy hinzu, einem im Jahre 1940 geborenen französischen Philosophen, dessen Werk „Corpus“ sich mit genau diesem Thema beschäftigt. Nancy legt eine starke Betonung auf die Tatsache, dass ein Körper niemals alleine in der Welt ist. Es gibt immer Wechselwirkungen zwischen Körpern und der Ort einer Berührung ist der Ort des Plurals, denn Berührungen können nur zwischen zwei oder mehreren Körpern bestehen. Er kritisiert nun die Auffassung, eine Berührung sei die Verschmelzung zweier Körper, denn in Wirklichkeit, so Nancy, sei die Berührung zweier Körper eine Art Stockung, ein Hindernis der Ausbreitung der Körper. Deswegen heißt es in der Physik auch, dass zwei Körper aneinander „stoßen“. Er macht dann darauf aufmerksam, dass Körper sich immer exponieren, was eine Art von Ausgesetzt-Sein beinhaltet, denn Körper stoßen immer aneinander und somit bleiben auch Gesten des Sich-Versteckens, Schweigens oder Zurückziehens niemals unbeachtet. All diese Dinge sind für andere sichtbar, Körper stellen sich also immer zur Schau. Dieses Aushändigen wird auch nicht von uns beschlossen, sondern es findet durch das Sein statt. Nun stellt Böhler die Frage, ob es auch ein anderes Bild von res extensa gibt, nämlich im ethischen Sinn. Jacques Derrida, ein im Jahre 2004 verstorbener französischer Philosoph, wollte in seinem Werk „Le toucher, Jean-Luc Nancy“ der Konzeption von Nancy nachgehen und fragte sich, was es heißt, mit jemanden in Kontakt zu treten und wie man das taktvoll tun kann. Denn die Tatsache, dass wir einander eben andauernd berühren, lässt sehr wohl darauf schließen, dass wir einen taktvollen Umgang miteinander brauchen. Deswegen, so Böhler, sei die Frage der Ethik so wichtig, denn wenn wir keinen Leib hätten, bräuchten wir uns mit ethischen Fragen nicht auseinander setzen, wir könnten schließlich nichts empfinden. Und genau deswegen müssten wir uns auch überlegen, ob nicht auch eine Ethik für leblose Gegenstände nötig sei. Böhler geht nun zu einer Analyse des Romans „Schuld und Sühne“ (Originaltitel: „Verbrechen und Strafe“) über, weil darin genau dieses Problem behandelt wird. Er weist zuerst darauf hin, dass Dostojewski, wie die Romanfigur Raskolnikow, eine zeitlang in Sibirien gefangen war. In dieser Zeit las der Schriftsteller die „Phänomenologie des Geistes“ von Hegel, beschäftigte sich eingehend mit dem deutschen Idealismus und machte dann in seinem Roman eine anti-idealistische Wendung durch. Dies sieht Dostojewski auch als eine Kritik an der Moderne und an ihrem Verständnis von Wissenschaft. Ich möchte nun eine kurze Inhaltsangabe des Romans „Schuld und Sühne“ anführen, da diese wichtig ist, um den Interpretationen Arno Böhlers folgen zu können. Der Roman spielt in Sankt Petersburg um das Jahr 1860. Der hoch intelligente aber sehr arme Jura-Student und gesellschaftlicher Außenseiter Rodion Romanowitsch Raskolnikow beschäftigt sich viel mit der Frage nach Recht und Unrecht und kommt schließlich zu dem Entschluss, dass es nur zwei Arten von Menschen gibt: Die, die von ihrer angeborenen Freiheit gebrauch machen, und die, die es nicht tut und somit de facto keine Menschen oder Unmenschen sind. Raskolnikow ist der Meinung, dass jeder seine eigenen Gesetze aufstellen und sich dann daran halten muss. Er entwickelt schließlich die Idee des „perfekten Mordes“, welcher seiner Meinung nach von privilegierten und außergewöhnlichen Menschen, die Ruhe und Überblick bewahren können, ausgeführt werden darf. Er selbst sieht sich als ein eben solcher. Sein Mordopfer wird schließlich eine alte Pfandleiherin, die er vom ersten Augenblick an hasst. Er bekommt zufällig mit, dass sie an einem gewissen Abend alleine sein wird und nützt diese Gelegenheit, um die Tat zu vollbringen. Abgesehen von der Pfandleiherin befindet sich allerdings auch deren geistig zurückgebliebene Schwester im Haus, die er ebenfalls mit dem Beil erschlägt. Eigentlich ist die Tat gelungen und er entwischt unbemerkt, doch er verfällt kurz darauf in einen fiebrigen Dämmerzustand und erbricht häufig. Zusätzlich fühlt er sich nach dem Mord noch stärker als gesellschaftlicher Außenseiter und wendet sich auch von der geliebten Mutter ab. Der Ermittlungsrichter erkennt sehr bald, dass Raskolnikow der Täter ist, kann ihn jedoch aufgrund mangelnder Beweise nicht überführen. Es entsteht ein subtiles, psychologisches Spiel zwischen den beiden Männern, das erst beendet wird, als Raskolnikow die tief gläubige, aufopfernde Prostituierte Sonja trifft, die ihm dazu rät, sich zu stellen. Raskolnikow gibt den Mord zu und kommt in ein sibirisches Arbeitslager, wo er sich langsam von seiner Vergangenheit befreit und in Sonja seine große Liebe findet. Ich möchte nun einige Interpretationsansätze, die Böhler vorschlägt, anführen. Diese teilen sich meiner Meinung nach in zwei große Blöcke. Zum einen hebt Böhler die Kritik Dostojewskis an der neuzeitlichen Wissenschaftsmethodik hervor. Als Raskolnikow nämlich den Entwurf des perfekten Mordes entwirft, weiß er noch nicht, ob es funktionieren wird und führt dann den Mord sozusagen als Experiment im Bezug auf die Theorie aus, was typisch neuzeitlich ist. Der Mord gelingt zwar und Raskolnikow wird sogar durch den Zufall geholfen und beweist sich eigentlich mit diesem Mord, wie souverän er ist, womit er allerdings nicht rechnet, ist, dass sein eigener Körper sich vor ihm ekelt und sich weigert, diese Tat im positiven Sinne zu akzeptieren. Der entscheidende Punkt, so Böhler, ist, dass die Theorie besagte, dass er nach diesem gelungenen „Experiment“ im Einklang mit sich selbst stehen würde. In Wirklichkeit aber trat das Gegenteil ein. Die Natur fügt sich unserer Form des spekulativen Denkens einfach nicht immer und dieser im Roman gegebene Ansatz ist eine offene Kritik an der neuzeitlichen Wissenschaftsmethodik. Als zweiten großen Block sehe ich die Interpretation Böhlers im Bezug auf den Stellenwert der Körperlichkeit im Roman. Er meint, dass es spätestens ab dem Zeitpunkt des Mordes, im Roman um einen Kampf zwischen dem Körper und der Theorie geht, womit er sicherlich Recht hat. Der Körper ist hier das Entscheidende, er zeigt nach außen hin, dass Raskolnikow nicht nur die Tat begangen hat, sondern dass er auch schuldig ist. Wir haben es hier also wieder mit der „Unzuhandenheit“ des Körpers zu tun. Ein weiterer interessanter Ansatz ist, dass in dem Moment, wo Raskolnikow sich endgültig auf Sonja einlässt, er wieder Verbindung mit seiner Physis aufnimmt und sich vom rein spekulativen Denken abwendet. Der Körper „gewinnt“ sozusagen. Böhler beendet seinen Vortrag mit der abschließenden Bemerkung, dass Dostojewski mit seinem Roman aufzeigt, dass das rationalistische Weltbild der Neuzeit den Körper ausblendet und auch ausgrenzt, um rational zu denken und dass dies ein großes Problem darstellt. Im Großen und Ganzen war ich von Arno Böhlers Vorträgen begeistert. Ich fand diesen Ansatz, den Körper und seine Wirkungsweisen einmal genau zu betrachten und nicht immer in den Hintergrund zu stellen, sehr spannend, auch wenn ich manche Argumente von Böhler als etwas zu radikal, leidenschaftlich und poetisch empfand, was prinzipiell ja nichts Schlechtes ist, aber ich hatte das Gefühl, dass er sich so vehement auf die Gegenseite gestellt hat, dass sein Vortrag teilweise wie ein Plädoyer (für den Körper) eines Verteidigers klang. Ich finde, das merkte man daran, dass die Art und Weise wie er den Körper beschrieb, ihn teilweise selbst als eigenständige Person dastehen ließ und wiederum den „Geist“, oder eben die zweite Instanz, in den Hintergrund drängte. Ich weiß, dass diese Formulierung problematisch ist, ich gehe nur davon aus, dass es beim Menschen eine prinzipielle Trennung zwischen dem reinen Körper und dem reinen „Geist“ oder der reinen „Seele“ gibt, was ich natürlich nicht beweisen kann und dadurch meine Kritik an Arno Böhler äußerst subjektiv erscheinen lassen muss. An seiner Vortragsweise hingegen habe ich überhaupt nichts auszusetzen, im Gegenteil: Er sprach wunderschön fließend, verständlich und klar und ich konnte ihm immer folgen. Außerdem hat es mich sehr gefreut, dass es in diesem Vortrag teilweise Überschneidungen der Philosophie mit künstlerischen Aspekten, wie eben der Malerei oder der Literatur gab. Die Art und Weise, wie Böhler Teile des Romans „Schuld und Sühne“ interpretierte fand ich sehr aufschlussreich und auch anregend. Wahrscheinlich hätte ich diesen durchdringenden Aspekt der Körperlichkeit nicht so intensiv wahrgenommen. Alles in allem waren es zwei äußerst aufschlussreiche und auch mitreißende Sitzungen, über die ich mich sehr gefreut habe.


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