Das Daimonische

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Einleitung und Motivation

In der Vorlesung versuchen wir zu verstehen, wie die kybernetischen Phänomene der Gegenwart mit Platon zusammengehen. Im Folgenden versuche ich hier als Nebenuntersuchung, einen Aspekt der zeitgenössischen individuellen Emanzipation näher anzusehen: Es geht um persönliche Entwicklung, Talente, Mentoringprogramme, Exzellenz-Netzwerke und Konsensuale Entscheidungen.

Was soll das heißen, talentiert zu sein? (Unter welchen Voraussetzungen kann man jemanden dieses Prädikat zu- oder absprechen?) Mir stellt sich diese Frage, weil ich seit Kurzem im Vorstand eines Vereins bin, der sich "Talente Österreich" nennt. Der Verein existiert schon einige Jahre und hat dementsprechend eine bestimmte Geschichte, Gepflogenheiten und Anschlüsse. Eine der Hauptaktivitäten des Vereins besteht darin, ein Mentoringprogramm (T²) zu organisieren, in dem "Talente Talente fördern". So lautete zumindest der vom ehemaligen Vorstand übernommene Untertitel.

Es baut sich aber eine Spannung auf, sobald man außerdem in einer Basisgruppe aktiv ist, dessen Vorstellungen und Anschlüsse sich zunächst einmal recht penetrant voneinander unterscheiden. Ich denke, der Gegensatz ist offensichtlich und schnell zu benennen: Elitär vs. Egalitär. Es gibt unterschiedliche Vorstellungen davon gibt, was Emanzipation (oder: ein Zugewinn von Freiheit) bedeutet und vor allem wie man in den Prozess der Emanzipation einsteigen kann, um ein gutes Leben zu leben.

Man mag einwenden, dass es Grenzen der eigenen Prinzipien gibt und man sich für eine der Seiten zu entscheiden hat. Wer das nicht tut, ist opportunistisch.

Ich würde auf diesen Einwand mit Wikipedia antworten: Das Gegenteil von opportunistisch ist idealistisch. (Der Opportunismus stellt die Zweckmäßigkeit über die Grundsatztreue. Eine abgeschwächte Form des Opportunismus findet sich im Pragmatismus oder eventuell auch im Realismus wieder. Man kann als Gegenpol zum Opportunisten den Ideologen sehen. In diesem Begriffszusammenhang ist es schwierig, den Übergang zwischen Kompromissbereitschaft und Opportunismus zu definieren oder festzulegen.) Tatsache ist, dass wir in unserer Gesellschaft sowohl exklusive auf Auswahl basierte Mentoringprogramme sowie konsens-orientierte Gruppen finden.

Was ich mir vornehme ist, Linien durch sogenannte elitäre und egalitäre Gemeinschaften zu ziehen und Interaktionen aufrechtzuerhalten. Sobald man nämlich den Versuch aufgibt, das Verständliche und Unverständliche der beiden Bereiche herauszufinden, macht man die Entscheidung davon abhängig, wer welcher Ideologie angehört (und daher: wer wie sozialisiert wurde). Man meint den anderen zu kennen - auf Basis der Klischees, die in den In-Zirkeln kursieren und die für den In-Zirkel den Zweck haben, die eigenen Vorstellungen aufzuwerten. : das kann man als opportunistisch beschreiben. Selbst wenn wir nicht anders können, als an irgend einer Stelle Klischees auszubilden, ist nicht gesagt, dass es gut und sinnvoll ist, sie an dieser Stelle zu behalten.

Ich kann dazu Notizen aus einem Gespräch mit dem Leiter der Postgraduate Ausbildung an der Universität Wien beitragen. Er hat einen Exzellenzkurs entwickelt, der im Jahr 14.500.- EUR kostet und mit einem Großaufgebot an Phrasen beworben wird. Er zeigte soviel Managmenttraining, dass er mich zu einem Kaffee einlud. Dort wurde ein wenig klarer, worum es ihm ging und was der Anstoß war.
Der Hintergedanke war, eine Art exklusiven britischen "Club" aufzubauen, in dem die elitäre Grundvoraussetzung die Attraktion ausmacht. Meine unmittelbare Reaktion war "Udo Proksch im Demel, CLub 45". Die Antwort war, dass es zum Anspruch der Universität gehört, sich an die alleroberste Schicht der Wirtschaft und Verwaltung zu wenden. Also einen Raum zur Verfügung zu stellen, in dem die Vorsitzenden der Aufsichtsräte nicht mit ihren Abteilungsleitern zusammentreffen. Darauf als Reaktion erfand ich einen Witz. "Was ist der Unterschied zwischen einer Prostituierten und der Universität Wien? -- Die Universität Wien steht nicht am Gürtel, sondern am Ring."
Ich konnte einen Punkt deutlich machen, nämlich dass die marktschreierische Werbung für so ein Vorhaben an der genannten Absicht vorbeizielt. Die angesprochenen Top-Manager kommen nicht über Broschüren. Solche Werbematerialien sind eigentlich nur eine Vorkehrung für das Fussvolk. So wie Mercedes und BMW mit den Spitzenmodellen werben, um die simpleren Modelle zu verkaufen. Es geht um das Image der Marke "Universität".
Das alles vorausgeschickt, muss ich gestehen, dass ich an der Idee eines erlesenen Clubs nichts auszusetzen habe. Solln sie doch machen, warum soll die Uni nicht ihr Prestige und ihre holzgetäfelten Räume zur Verfügung stellen? Siehe Lausanne: Warum nicht Rolex als Sponsor? Eine Schwierigkeit ergibt sich allerdings daraus, dass in solchen Unternehmen dann auch Philosophen auftreten, die der versammelten Elite ihre klugen Gedanken vorlegen. O ja, wir verstehen uns auf raffinierte Pointen. Meine eigene Befindlichkeit ist allerdings derart, dass ich mich immer ein wenig danebenbenehmen würde. Da sind wir nun beim Ausser-Gewöhnlichen. --anna 20:52, 6. Dez. 2010 (UTC)


Splitter und Quellen

Ich beginne mit einem Platon-Zitat, das ich an zentraler Stelle für das Werbematerial des Mentoringprogramms verwendet habe. Von hier beginnend versuche ich die oben skizzierte Spannung zu verstehen:

Nicht wird ein Daimon euch erlösen
sondern ihr werdet euch einen Daimon
wählen, den Lebenslauf wählen, mit dem
ihr dann notwendig verbunden bleibt.

Ich bin erst später drauf gekommen, dass es aus dem 10. Buch der Politeia stammt (617e) und Teil des Endspurts der ganzen Untersuchung in diesem Werk ist. Eine alternative Übersetzung dieser Textstelle:

"nicht euch erlost das Lebensverhängnis, sondern ihr wählt euch das Geschick. Sobald einer gelost hat, so wähle er sich eine Lebensbahn, womit er nach dem Gesetze der Notwendigkeit vermählt bleiben wird" (Quelle)

Nochmal in Englisch aus dem Perseus-Projekt, wo sich auch der Griechische Text findet:

"No divinity shall cast lots for you, but you shall choose your own deity. Let him to whom falls the first lot first select a life to which he shall cleave of necessity" (617e)

  • Kontext: Platon Politeia, Buch 10, speziell 614-621 (das ganze ist in einer recht langen Geschichte über Lebensweisen eingebaut, die erzählt wird, um zu beantworten, welche Belohnung jene Personen bekommen, die gerecht sind)

Texte zum Thema Daimon

  • Das Daimon-Portal (Lexikon-Artikel zu Daimon, Daimonion, ...)
  • Rafael Capurro: Engel, Menschen, Computer
    • "Die abendländi­sche philosophische Tradition spricht von "daimones", "göttlichen Wesen" und "intelligentiae separatae". [...] Vor diesem Hintergrund mag es vielleicht weniger befremdend erscheinen, wenn nach der Relevanz der thomistischen Engellehre für die philoso­phische Anthropologie vor dem Hintergrund der Ansprüche der KI-Forschung bzw. der daraus entstehenden mythischen Visionen gefragt wird. Soweit ich feststellen konnte, ist der hier darzustellende Zusammen­hang in der philoso­phischen Literatur bisher nicht erörtert wor­den (4). Die Suggestibilität der thomistischen Engellehre, scheint mir, vor allem an­gesichts unserer jüngsten Träume bezüglich der Schaffung einer uns überra­gende "künstlichen Intelli­genz", be­sonders nahe­liegend. Was unter anderem dadurch zum Vorsch­ein kommt, ist die Suche nach der menschli­chen Selbst­be­stimmung zwischen Natur und Geist. Mit anderen Worten, der Mensch begehrt nicht nur, was unter ihm ist, sondern er strebt über sich hinaus."
  • Das Klischee und die Endlichkeit der Erkenntnis
    • "Unaufgearbeitete Erfahrungsreste, unverdauliche Brocken im Zusammenhang der Kommunikation, sind nicht bloß verpaßte Aufgaben. Es ist auch illusorisch, die Erledigung aller Aufgaben zu verlangen. Bisher war nur von Anforderungen die Rede, die im regulären Erfahrungsprozeß auftauchen können. Die philosophische Sicht reicht darüber hinaus. Nirgends steht geschrieben, daß die permanente Revision der Ausgangsvoraussetzungen das letzte Wort über Erkenntnis ist. Es gibt keine Garantie, daß dieser von der atemberaubenden Entwicklung wissenschaftlich-technischer Möglichkeiten vorangetriebene Anspruch nicht eine glatte Überforderung des ihm zugrundeliegenden Substrat ist. Bevor Erkenntnis unter diesem Druck funktionsunfähig wird, nimmt sie Zuflucht zum Klischee. Traditionell ist die Untersuchung jener Denk- und Wirklichkeitformen, die der ständigen kritischen Bestätigung der Empirie entzogen sind, Metaphysik genannt worden."
  • Jean Baudrillard: Das perfekte Verbrechen
    • "Tatsächlich sind wir nicht mehr Opfer eines Übermasses an Schicksal, an Illusion und an Bedrohung, sondern Opfer einer Abwesenheit von Schicksal und eines Übermasses an Realität, an Sicherheit und an Effizienz so dass gerade das Übermass dessen, was uns rettet und schützt, heute mörderisch geworden ist. Darin liegt heute die Gefahr, in der Positivität, im bedingungslosen Heil durch die Technik. Doch gewiss steht dem etwas Unüberwindliches entgegen, und wir müssen als Anklang an den Satz von Hölderlin jenen zutiefst geheimnisvollen von Heidegger anführen: "Blicken wir in das zweideutige Wesen der Technik, dann erblicken wir die Konstellation, den Sternengang des Geheimnisses." Ein rätselhafter Aphorismus, denn er widerspricht Heideggers eigener Theorie über die Technik als Annektion und Wesensverlust - eine negative Ontologie, welche den gesamten Technizismus durchzieht, der (und das ist das "perfekte Verbrechen", von dem wir sprachen), zur endgültigen Beseitigung des Geheimnisses des Universums beiträgt, zur völligen Sichtbarkeit, zur absoluten Identifikation, mit anderen Worten zum Tod. Und dennoch schimmert durch diese Formel eine andere Hypothese: die einer übermächtigen Reversibilität, die sich letztendlich gegen den unerbittlichen Prozess der Desillusionierung durchsetzen würde. In dieser Hypothese gäbe es am äussersten Horizont der technischen Entwicklung etwas anderes, das Auftauchen einer anderen Spielregel. Der ironische Widerstand des Geheimnisses am Ende eines aussergewöhnlichen Anspruchs, es zu zerstören, zu eliminieren, zu vernichten. Letztlich ist die Technik vielleicht nur ein riesiger Umweg, der uns zur radikalen Illusion der Welt zurückführt - ein riesiger, von unserer Kultur erdacht Umweg, und damit ihre ureigenste Art und Weise des Auftauchens und des Verschwindens, an dessen Ende irgendein Ereignis möglich bleibt, doch davon wissen wir nichts. Wir wissen nichts von einem unvorhersehbaren Ereignis, das endlich jenseits der Metaphysik eintreten könnte und zu dem uns ironischerweise die Technik hinführen würde, in dem Masse gerade wo sie nach Heidegger die absolute Verwirklichung der Metaphysik ist."
  • Die Visualisierung des Außer-Ordentlichen
    Mein Versuch, das Außer-Ordentliche in einem Werbematerial für ein Mentoringprojekt darzustellen
    • "Der Heilige war ein Mensch, aber das ist kein Familienalbum. Der Zweck der Abbildung ist eine Transzendenz. Die Pointe dieser Ikone ist, dass diese Transzendenz durch die Schematisierung einer Fotographie erreicht wird. Man möchte sagen durch den Rückschritt auf veraltete Darstellungsmittel. (Vgl. die Interieurs des 19. Jahrhunderts in "Blade Runner" und "Matrix".) Welche Mittel stehen zur Visualisierung des Ausserordentlichen zur Verfügung? Eine Strategie: Entzeitlichung, Abstraktion, Statik. Die Anfertigung einer Form. Hier eine Zeichenkette: 2,4,6,8,10,12,14,16. Gibt es Gemeinsamkeiten? Was fällt Dir auf? ==> "2n+2". Das ist 'die Form dahinter'."
    • Eine andere Strategie: Störung einer Reihe oder Form. Indem das Außer-Ordentliche als Ordentliches, als Abstraktion, als Vor-Bild dargestellt wird, muss es doch den Charakter des Außer-Ordentlichen verlieren? Als Störung verliert es jedoch das Erhabene und Strahlende. An die Stelle der Sonne tritt das Gewitter.

Überlegungen

[to be continued]

Anknüpfung

Ich habe diese Seite jetzt schon mehrfach gelesen und ich habe immer noch das Gefühl, die Verknüpfung mit den Themen aus der Cyberplatonismus-Vorlesung nicht ganz erfasst zu haben. Könnten wir gemeinsam versuchen, die Zusammenhänge ein bisschen expliziter zu machen? Ich fange einfach mit einer kleinen Aufzählung an und bitte um Ergänzungen und Spezifizierungen: --PW 07:54, 7. Dez. 2010 (UTC)

  • Der Bildungsbegriff im Ausgang von Platon - paideia - persönliche Entwickung, Talent etc.
  • Platon als Technokrat
  • Darstellung des Außerordentlichen - Abstraktion, Alte Darstellungsmittel, Störung.

Ein Punkt der mir hier besser explizierbar scheint ist der des Hinführens zur Störung/dem Außerordentlichen. Das ist ja ein Moment Platons Sokrates, dass in der Spiegelthematik praktisch nicht zu sehen war. Sokrates führt Leute gezielt mit seinen Fragen zu einer Irritation, zu der sie ohne Sokrates vielleicht später, vielleicht aber auch gar nicht gelangt wären. Er weist ihnen einen Weg aus ihrem common-sense Verständnis der Welt hinaus. Er macht dies aber nicht indem er behauptet "so und so ist es", sondern er bietet mittels fragen die Richtung an und lässt die Antwortenden selbst die Erfahrung machen fortzuschreiten. Das ist eine Form von Mentoren-Mentalität. In dieser Art des Lehrens begegnen Sokrates verschiedenste Menschen die unterschiedlich darauf reagieren. Nicht jeder ist bereit Sokrates antwortend zu folgen, manch einer wendet sich auch einfach ab.

Das kann man auch mit den Matrixüberlegungen verknüpfen. Im Film agieren die bereits Befreiten auch als Mentoren für Neo in seinem Umgang mit der neuen Situation als Wissender der Matrix. Sie weisen ihm den weg, gehen muss er ihn selbst. Deutlich wird das vor allem bei Neos ersten Sprungversuchen in den Übungsprogrammen. Im Film ist aber vor dem Herausholen aus der Matrix bereits eine gewisse potentielle Skepsis oder Irritation bei Neo vorhanden. Es ist also eine Stufe zwischen der Störung die der Einzelne beim Erblicken des Spiegelbildes alleine erfährt und dem sokratischen Hinführen zur Störung durch jemanden. --Yadseut 16:34, 7. Dez. 2010 (UTC)