NEUSSER, Marion (Arbeit2)

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DISKUSSION (2.Arbeit NEUSSER, Marion)

„Erkenntnis der Wirklichkeit“

  • verfasst von Marion Neusser
  • zur Vorlesung von Prof. Gerhard Gotz am 23.10.2008


Gerhard Gotz’s Methode, die Studenten im Rahmen der Ringvorlesung zur Philosophie „hinzuführen“, hat im zweiten Teil seines Vortrages mit der Frage nach der wahren Erkenntnis der Wirklichkeit begonnen. Um dieser Frage nachzugehen, ist eine methodische Vorgangsweise notwendig. Die Methode der Erfahrungswissenschaft, die ihre Erkenntnisse aus Erfahrungen gewinnt, orientiert sich dabei an beiden Ergebnisvermögen, nämlich an Wahrnehmung und Denken. Sie stützt sich auf Klassifikation und Quantifizierung und bietet somit Beobachtung auf wissenschaftlicher Ebene. Beobachtung alleine ist jedoch noch nicht Erfahrungswissenschaft; die Beobachtung muss reflektiert werden, begründetes Denken muss zu einer Theorie mit mathematischen Gesetzmäßigkeiten führen um zukünftige Fakten prognostizieren zu können. Fakten müssen aus Gründen abgeleitet und nicht nur hingenommen werden. Begründete Aussagen können zunächst nur hypothetisch gemacht werden: je öfter die gestellten Prognosen zutreffen, desto besser ist die Hypothese bestätigt, woraus sich sodann eine Theorie ableiten lässt.

Die Methode der Erfahrungswissenschaft wirft jedoch auch einige Schwächen auf: Einerseits ist unsere Wahrnehmung begrenzt, das heißt wir können kein eindeutiges Ende der Wahrnehmung definieren und andererseits sind wir mit einer Unschärfe im Mikrobereich konfrontiert: wir können nicht alle Fakten heranziehen, da wir diese gar nicht alle verarbeiten können. Das Kriterium für die gesetzten Prioritäten kann somit nicht aus der Wahrnehmung selbst kommen, weil diese subjektiv gesetzt sind. Diesen „Schwächen“ der Erfahrungswissenschaft könnte man jedoch nach Gotz entgegenhalten, dass wir das beobachten, was uns die Wirklichkeit selbst zeigt, somit sind Teilbereiche der Wirklichkeit sehr wohl erforschbar. Ein Gegenargument für die erwähnte Unschärfe wäre die Tatsache, dass Fakten nicht von einer Einzelperson ausgewählt werden, sondern von einer Gruppe, nämlich der Gemeinschaft der Forscher, womit Intersubjektivität erreicht wird anstelle von bloßer Subjektivität. Eine wesentlich schwerwiegendere Schwäche der Methoden der Erfahrungswissenschaft besteht darin, dass die Überprüfung der angenommen Gründe an den Fakten selbst nicht möglich ist. Denn selbst, wenn genau die Ereignisse eintreten, die abgeleitet wurden, können dennoch nie die Gründe selbst, sondern nur deren Auswirkungen beobachtet werden. Wenn eine Theorie bestätigt wird, werden die Gründe bestätigt, aber diese werden ja nicht beobachtet. Die Erfahrungswissenschaft nimmt also immer nur an, dass die Gründe die wahren Gründe sind. Diese sind Konstrukte, die in der Erfahrungswissenschaft nie eine Bestätigung bekommen. Dieselben Beobachtungen können durch verschiedene Theorien subsumiert werden. Gotz verdeutlicht dies an einem Beispiel: Die Gründe für das Herunterfallen eines Stückes Kreide können nie bestätigt werden, da die Schwerkraft, die für das Herunterfallen verantwortlich gemacht wird, nicht beobachtet und somit auch nicht bestätigt werden kann. Ebenso gut könnte die teleologische Erklärung von Aristoteles dafür verantwortlich sein, was sich jedoch ebenfalls nicht bestätigen lässt.

Die Wirklichkeit, die hinter den Fakten steht, kann also nicht erfasst werden, auch nicht mit der Methode der Erfahrungswissenschaft. Es ist immer nur ein Gedankenkonstrukt erfassbar; interpretiert werden immer nur Erscheinungen, nicht die Wirklichkeit. Die Erfahrungswissenschaft ermöglicht zwar die Naturbeherrschung, kann aber nicht erklären, warum sie selbst anwendbar und brauchbar ist. Die Erfahrungswissenschaft steht also nicht unter dem Aspekt des Strebens nach wissenschaftlicher Wahrheit, sondern unter dem Aspekt der Nützlichkeit, da sie als praktisches Instrument anwendbar ist. Das Handeln bleibt also nach wie vor unsicher und beschränkt auf subjektive Meinungen. Sicher ist nur die Unsicherheit, bedingt durch unsere Reflexionsfähigkeit.

Wie werden wir also mit dieser Endlichkeit, bedingt durch permanente Unsicherheit, fertig? Die fraglose Reaktion der Tiere wird zerbrochen durch unser Wissen auf den verschiedenen Reflexionsstufen. Wir wissen uns selbst auch immer eingeordnet in große Zusammenhänge, z.B. in Beziehung zu anderen Menschen, in Beziehung zur Natur etc. Dadurch gewinnen wir Distanz zur Unmittelbarkeit, was dazu führt, dass unmittelbare, spontane Reaktionen gebremst werden. Der Antrieb wird durch die Reflexion in Handlungsmöglichkeiten verwandelt, was nun die Frage aufwirft, wie wir von den verschiedenen Möglichkeiten zur tatsächlichen Handlung kommen. Handlungen selbst sind ja nur Mittel, nicht der Zweck. Der Zweck kann somit als Kriterium dafür angesehen werden, welche Handlung ausgewählt wird; er ist unser eigentlicher Handlungsgrund, während die Handlung an sich das Mittel dafür darstellt. Grundsätzlich muss davon ausgegangen werden, dass es verschiedene Handlungsmöglichkeiten, also verschiedene Zwecke gibt. Jeder Zweck wird dann wieder zum Mittel, der wieder einen übergeordneten Zweck hat usw. Dies kann zur Unendlichkeit führen, daher muss ein wirklicher Zweck gesucht werden: die Wirklichkeit des Ich. Das ist jedoch auch noch keine Lösung, da das Ich gespalten ist in Unmittelbarkeit und Reflexion, also eine doppelte Wirklichkeit existiert. Wenn eines von beiden zum Zweck gemacht wird, ist das andere somit Mittel. Auf diese Weise ergeben sich somit zwei mögliche Zwecksetzungen:

Wird die Unmittelbarkeit zum höchsten Zweck gemacht, ist es unser oberstes Ziel, maximalen Lustgewinn zu erreichen, wobei die Reflexion als Mittel dient. Diese Position des EGOISMUS ist jedoch eine höchst irrationale, da wir nicht davon ausgehen können, dass uns auch unsere Umwelt zum höchsten Zweck macht. Darüber hinaus ist das einzige Mittel für egoistische Zwecke man selbst, also der endliche Körper. Der Egoismus der Menschen darf nicht mit dem unmittelbaren Befriedigen von Bedürfnissen bei Tieren verwechselt werden: Egoismus braucht Reflexion – nur wenn wir darüber reflektieren können, verhalten wir uns „egoistisch“. Werden allgemeine Werte der Gesellschaft zum höchsten Zweck gemacht, also an unsere Reflexivität appelliert, sprechen wir von IDEOLOGIEN. Im Gegensatz zum Egoismus steht hier die gemeinsame Meinung im Vordergrund, wobei es sich dabei um eine eingeschränkte Wahrheit einer Gruppe von Menschen handelt. Im Rahmen der Ideologien wäre die Position des Egoismus nur eine Reduktion. Die Schwäche der Ideologie liegt jedoch in der Tatsache, dass deren Grundlagen nicht argumentierbar, also nicht letztbegründet sind, sondern nur durch Glauben akzeptiert werden. Gotz betont also, dass weder die Position des Egoismus noch die der Ideologie höchster Zweck des Menschen sein kann.

Anmerkung: Betrachten wir die Position des Egoismus unter dem Aspekt der klassischen Psychoanalyse: Freud ging von der Beobachtung aus, dass der Mensch danach strebt, sein inneres Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, indem er seine Bedürfnisse zu befriedigen versucht. Die zentrale Triebkraft dabei nennt Freud „Libido“, wobei der Begriff der Sexualität weiter gefasst ist als umgangssprachlich darunter verstanden wird und alle Funktionen der Lustgewinnung subsumiert. In der Libidotheorie wird also, wie beim Modell des Egoismus dargestellt, die Unmittelbarkeit zum höchsten Zweck gemacht. Auch wenn das Modell der Psychoanalyse in weiterer Folge kritisiert wurde, erscheint es dennoch interessant, dass die Libidotheorie eine derart große Anhängerschaft gefunden hat und bis heute ein weit verbreitetes Psychotherapiemodell ist.

Wenn Egoismus und Ideologie zueinander in Konkurrenz stehen und selbst nur Handlungsmöglichkeiten sind, wird also ein Handlungsgrund benötigt, der entscheidet, welche der Möglichkeiten gewählt wird. Die Entscheidung, ob eine Handlung egoistisch oder ideologisch motiviert ist, wird ja von uns selbst getroffen. Ein Weg führt über die Tatsache, dass wir als Wissende über dieser Problematik stehen. Unsere Reflexivität ist der Grund unserer menschlichen Endlichkeit und muss somit einen Handlungsgrund liefern können. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass unser reflexives Wissen nur eine Seite der radikalen Differenz darstellt, und nicht deren Grund.

Wenn es also einen wirklichen Zweck gibt, muss eine andere Instanz aktiv sein, damit Handeln überhaupt ermöglicht wird. Diese Instanz ist unser Wille. Der Wille kann sich über das Risiko der Mittel sowie das Risiko der Zwecksetzung hinwegsetzen und den Reflexionsprozess beliebig abbrechen. Der Wille selbst ist reflexiv, sonst wäre er wie alles andere der Reflexion unterworfen, steht jedoch eindeutig über Reflexion und Unmittelbarkeit und ist als Kraft, die über das Denken hinausgeht, zu verstehen. Der Wille kann somit als eigentlicher Handlungsgrund aufgefasst werden, wobei er sich nicht über allgemeine Denkgesetze hinausbewegen, sondern diese nur missachten kann. Dabei werden beide Seiten der radikalen Differenz aktiv aufeinander bezogen: unmittelbare Dinge werden subjektiv interpretiert um aus Interpretationen wieder neue Unmittelbarkeit zu schaffen. Wir können also von einer „theoretisch geprägten Praxis“ sprechen.

Der Wille kann also als das Bestimmende unserer eigenen Individualität aufgefasst werden. Die Entscheidung, ob eine Handlung egoistisch oder durch eine Ideologie motiviert ist, wird nicht von außen bestimmt, sondern von uns selbst getroffen. In die Wahl des obersten Zweckes kommen aber auch Inhalte, die nicht ausreichend reflektiert sind, da der Wille den Reflexionsprozess ja irgendwann abbricht. Im Glauben an eine Ideologie können sich somit auch egoistische Motive einschleichen. Das Wissen, aus dem heraus wir handeln, ist demnach willkürlich; die Beschränktheit des Wissens ist unvermeidbar, weil wir sonst nie zu einer Handlung kommen würden. Jedes Individuum muss eine gewisse Überzeugung haben um zu handeln; das Risiko muss sich dabei aber in einem gewissen Rahmen halten, der vom obersten subjektiven Zweck gesteckt wird. Der Wille ist aber immer auch manipulierbar und zwar so lange, solange er es selbst nicht merkt. Dieser inneren Grenze des Willens kommt noch die äußere Grenze der Macht hinzu. Der Wille ist jedoch unbeschränkt frei in seiner Zwecksetzung, was das Abbrechen und Lenken der Reflexion mit einschließt. Unter der Freiheit des Willens kann also das Umgehen mit der reflektierten Unfreiheit verstanden werden, aus der eine subjektive Sicht der Welt entsteht. „Wahrheit ist eine Konstruktion vom Standpunkt des Beobachters aus.“ sagt Paul Watzlawick. Das heißt, wir können nichts sicher wissen, sondern konstruieren unsere Ansichten von der Welt selbst.

Der Wille zeigt uns also, wie wir handeln können, aber zeigt er uns auch, wie wir handeln sollen? Woran orientiert sich der Wille? Der Wille bewältigt die radikale Differenz, setzt sie aber auch voraus: Erst wenn diese vorhanden ist, muss der Wille tätig werden, somit kann der Wille selbst keine absolute Kraft sein und muss selbst einen Grund haben, der alle Endlichkeit übersteigt. Diese absolute Dimension zu erfassen ist die eigentliche Aufgabe der Philosophie. Philosophie kann also als universale Grundlagenwissenschaft in praxisorientierter Absicht verstanden werden.


LITERATUR: Paul WATZLAWICK, Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn – Täuschung - Verstehen. R. Piper & Co Verlag, unveränderte Neuausgabe aus 1976

Siegfried ELHARDT, Tiefenpsychologie. Eine Einführung. Verlag W. Kohlhammer, 1984.


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