Expertinnen (OSP)

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455a - 458g

SOKRATES: Wohlan denn, laß uns sehen, was wir doch eigentlich sagen von der Redekunst; denn ich selbst kann noch gar nicht verstehen was ich recht sage. Wenn um Ärzte zu erwählen die Stadt sich versammelt, oder um Schiffsbaumeister, oder eine andere Art von Gewerbsleuten, nicht wahr, dann darf der Redner nicht Rat geben? Denn es ist klar, daß bei jeder Wahl der kunstverständigste muß gewählt werden. Auch nicht, wenn von Erbauung der Mauern die Rede ist, und davon, die Häfen in Stand zu setzen oder die Werfte, sondern dann die Baumeister. Auch nicht wenn die Beratschlagung die Wahl eines Heerführers betrifft, oder die Stellung eines Heers gegen den Feind, oder die Besitznehmung einer Gegend; sondern die Kriegskünstler werden dann Rat erteilen, nicht die Redekünstler. Oder was meinst du, Gorgias, hievon? Denn da du behauptest, selbst sowohl ein Redner zu sein, als auch Andere zu Redekünstlern zu machen, so ist es ja recht was deine Kunst betrifft von dir zu erfragen. Ja glaube nur, daß auch ich jetzt zugleich auf das deinige bedacht bin; denn vielleicht ist Mancher hier drinnen gesonnen dein Schüler zu werden, wie ich denn fast mehrere glaube zu bemerken, die aber nur blöde sind dich weiter zu fragen. Wie du also jetzt von mir befragt wirst, so denke dir du würdest auch von Jenen gefragt. Was, o Gorgias, wird uns dafür werden, wenn wir uns zu dir gesellen? Worüber werden wir vermögen der Stadt Rat zu geben? Nur über Recht und Unrecht allein, oder auch über das, was Sokrates eben anführte? Versuche also ihnen zu antworten.

GORGIAS: So will ich denn versuchen, Sokrates, dir recht deutlich die ganze Kraft der Redekunst aufzudecken. Denn du selbst hast es sehr gut eingeleitet. Nämlich du weißt ja wohl, daß diese Werfte und diese Mauern der Athener, und dieser Bau ihrer Häfen auf den Rat des Themistokles entstanden ist, teils auch des Perikles, nicht aber jener Baumeister aller Art.

SOKRATES: So sagt man, o Gorgias, vom Themistokles. Den Perikles aber habe ich noch selbst gehört, als er seine Meinung vortrug wegen der mittleren Mauer.

GORGIAS: Und wenn eine Wahl solcher Männer angesetzt ist, wie du erwähntest, so siehst du doch, daß die Redner die Ratgebenden sind, und deren Meinung durchgeht in solchen Dingen.

SOKRATES: Eben weil ich mich hierüber wundere, Gorgias, frage ich so lange schon, was doch eigentlich das Wesen der Redekunst ist. Denn ganz übermenschlich groß dünkt sie mich, wenn ich sie so betrachte.

GORGIAS: Wie wenn du erst alles wüßtest, Sokrates, daß sie mit einem Wort alle andern Kräfte zusammengenommen unter sich begreift! Einen auffallenden Beweis will ich dir hiervon geben. Nämlich gar oft bin ich mit meinem Bruder oder andern Ärzten zu einem Kranken hingegangen, der entweder keine Arznei nehmen, oder den Arzt nicht wollte schneiden und brennen lassen, und da dieser ihn nicht überreden konnte, habe ich ihn doch überredet durch keine andere Kunst als die Redekunst. Ja ich behaupte, es möge in eine Stadt wohin du willst ein Redekünstler kommen und ein Arzt, und wenn sie vor der Gemeine oder sonst einer Versammlung redend durchfechten müßten, welcher von beiden zum Arzt gewählt werden sollte, so würde nirgends an den Arzt gedacht werden; sondern der zu reden versteht würde gewählt werden, wenn er wollte. Eben so im Streit gegen jeden andern Sachverständigen würde der Redner eher als irgend einer überreden, ihn selbst zu wählen. Denn es gibt nichts, worüber nicht ein Redner überredender spräche als irgend ein Sachverständiger vor dem Volke. Die Kraft dieser Kunst ist also in der Tat eine solche und so große. Indessen muß man sich, o Sokrates, der Redekunst gebrauchen wie auch jeder andern Streitkunst. Denn auch anderer Streitkunst muß man sich deshalb nicht gegen alle Menschen gebrauchen, weil einer den Faustkampf und das Ringen und das Fechten in Waffen so gut gelernt hat, daß er stärker darin ist als Freunde und Feinde, und muß deswegen nicht seine Freunde schlagen und stoßen und töten. Noch, beim Zeus, wenn einer der den Übungsplatz besucht hat, und ein tüchtiger Fechter geworden ist, hernach Vater und Mutter schlägt, oder sonst einen von Verwandten und Freunden, darf man deshalb nicht die Turnmeister und Fechtmeister verfolgen, und aus den Städten vertreiben. Denn diese haben ihre Kunst mitgeteilt, damit man sich ihrer rechtlich bediene gegen Feinde und Beleidiger zur Verteidigung, nicht zum Angriff, und nur jene kehren es um, und bedienen sich der Stärke und der Kunst nicht richtig. Nicht also die Lehrer sind böse, noch ist die Kunst hieran Schuld und deshalb böse, sondern die, glaube ich, welche sie nicht richtig anwenden. Dasselbe nun gilt auch von der Redekunst. Vermögend ist freilich der Redner gegen Alle und über Alles so zu reden, daß er den meisten Glauben findet beim Volk, um es kurz heraus zu sagen, worüber er nur will. Deshalb aber, soll er doch weder den Ärzten den Ruf entziehn, weil er das wohl auszurichten vermöchte, noch andern Sachverständigen den ihrigen, sondern rechtlicher Weise sich auch der Redekunst gebrauchen, eben wie der Streitkunst. Und wenn einer, meine ich, ein Redner geworden ist, und handelt hernach ungerecht vermöge dieser Kraft und Kunst, so muß man, denke ich, nicht seinen Lehrer hassen und aus der Stadt verweisen. Denn zu rechtlichem Gebrauch hat dieser sie ihm übergeben; er aber bedient sich ihrer entgegengesetzt. Den also, der sie unrichtig anwendet, mag es Recht sein zu hassen und zu vertreiben, nicht aber den, der ihn unterrichtet hat.

SOKRATES: Ich denke, Gorgias, auch du wirst schon vielen Unterredungen beigewohnt, und dieses dabei bemerkt haben, daß nicht leicht eine Zusammenkunft so auseinander gehen kann, daß sie dasjenige, worüber sie zu sprechen unternahmen, gemeinschaftlich bestimmt, und so einander belehrt und von einander gelernt hätten, vielmehr wenn sie über etwas uneins sind, und einer den andern beschuldigt er rede nicht richtig oder nicht bestimmt, so erzürnen sie sich, und meinen der Andere sage so etwas aus Mißgunst gegen sie, weil er nämlich nur um seine Ehre sich ereifere beim Gespräch, nicht aber den vorliegenden Gegenstand suche. Ja einige gehn zuletzt auf die unanständigste Art auseinander mit Schimpfreden, und indem sie dergleichen Dinge einander anzuhören geben, die es sogar den Anwesenden leid machen für sich selbst, daß sie solcher Leute Zuhörer haben sein gewollt. Weshalb nun sage ich dies? Weil mich dünkt, du sagest jetzt etwas nicht folgerechtes, und nicht zusammenstimmend mit dem was du vorher sagtest von der Redekunst. Ich fürchte mich aber dich zu widerlegen, damit du nicht denkest, ich sage es nicht im Eifer auf die Sache, daß sie uns offenbar werde, sondern auf dich. [458 St.] Bist du nun eben ein solcher als ich, so möchte ich dich gern durchfragen, wo nicht, so würde ich es lassen. Und von welchen bin ich einer? Von denen, die sich gern überweisen lassen, wenn sie etwas unrichtiges sagen, auch gern selbst überführen, wenn ein Anderer etwas unrichtiges sagt; nicht unlieber jedoch jenes als dieses. Denn für ein größeres Gut halte ich jenes um soviel, als es ja besser ist, selbst von dem größten Übel befreit zu werden, als einen Andern davon zu befreien. Denn nichts denke ich ist ein so großes Übel für den Menschen, als irrige Meinungen über das, wovon jetzt die Rede ist unter uns. Behauptest nun auch du ein solcher zu sein, so wollen wir weiter reden, dünkt dich aber daß wir es lassen müssen, so wollen wir es immerhin lassen, und die Unterredung aufheben.


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