Diskussion:Friedrich Kittler: Code oder wie sich etwas anders schreiben lässt

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Version vom 3. April 2008, 12:07 Uhr von Richardd (Diskussion | Beiträge) (Turing hat nicht alles erfunden)
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Weltoffenheit als Warten auf den Propheten

Es gibt eine, wenn auch von einigen Seiten bezweifelte, medienwissenschaftliche Theorie, die den Übergang des vorherrschenden Schreibmediums von der antiken Buchrolle zum buchförmigen Kodex im Mittelalter mit dem Starkwerden des Christentums verbindet. Der mittelalterliche Kodex, der, bis auf die etwas andere Größenordnung, durchaus mit unserer heutigen Buchform gleichzusetzen ist, deute demnach einen Übergang von der heidnischen Weltoffenheit zur christlichen Innerlichkeit und Abgeschlossenheit. Die zwischen den beiden Holzdeckeln befindliche "höchste Schrift" nähme in ihrer Gesamtheit Anspruch auf Abgeschlossenheit und auf das Privileg der Vollendung, oder, wollte man in diesem Sinne geschichtlich etwas schräg vorgreifen, beträfe als einziger Kodex die Welt "als Ganzes".

Dieser Theorie der Ganzheit widerspräche jedoch das, wenn auch spärliche, Auffinden von Teilen des neuen Testaments in "offener" Rollenform. Ließe sich sonst die Rollenform auf ein paradoxes oder mindestens skeptisches Denken projizieren?

Aus jüdischer Sicht ließe sich zumindest von einer Welt und Anschauungsschreibung, bzw. Ausschreibung des "Codes" in Form des Talmud sprechen. Im christlichen Bereich bestand für die Deutung "des Codes" nicht genug Zwischenraum, um Kommentare bindend zu machen. Möglicherweise hat der Gottessohn die Dinge schon allzufest mit dem Wort verbunden.

Recht als Handlungscode

Der Abstand zwischen dem rechtlichen Kodex und dem "technischen" Code ist nicht ganz so weit wie Kittler ihn deutet. Zumindest zu dem Zeitpunkt wo das Recht seine Positivität eingestehen muss oder seine eigene Bezweifelbarkeit andeutet (Widerstandsrecht) bekommt der Komplex der Rechte den Wert eines Instrumentariums, innerhalb dessen die ganze Breite des möglichen Handlungsspielraums codiert werden kann. Man sieht also, dass das "naive" Verständnis eines Rechts als unhintergehbare Grenzziehung einem anderen abgeschlosseneren Denken entspricht. Das Recht ist so nicht mehr Grenze des Möglichen sondern vielmehr Ausweg aus dem Begrenzten. Recht als sanktioniertes Unrecht.

Code und Gewohnheitsrecht

Bezogen auf das Recht könnte man auch noch eine andere Linie in Richtung Code ziehen. Das festgehaltene Gewohnheitsrecht entspricht im konstruktivistischen Sinn der Gerinnung eines Codes. Das wiederholte Auftreten möglicherweise ähnlicher Gegebenheiten (in jederlei Hinsicht) wird auf eine Wort- bzw. Sinnebene kondensiert. Aus systemtheoretischer Position vertritt dieses Kondensat die zur Sprache nötige Verbindung aus Einheit und Vielfalt. Einerseits ist klar erkennbar, dass eine Sache unter einem gewissen Gesichtspunkt identifizierbar und codifizierbar ist, andererseits lässt das vereinheitlichende Kondensat Raum für individuelle Gegebenheiten.

So gesehen muss natürlich ein Urcode existieren, in dem die restlichen Sinneinheiten aufgelöst sind. Die Differenz 0/1, bzw. innen/außen als Code lässt sich möglicherweise auf ein anthropologisches Grundweltverständnis zurückführen, das jede andere "Logik" und Sinnhaftigkeit trägt. Vollkommen klar ist hierbei allerdings, dass einem solchen Modell folgend, viel weniger der einzelne Wert z.B. 0 oder 1 als diese Werte strukturell zueinanderstehend Sinn ergeben. --> Code als notwendig formbegrenzte Menge. Die Semantik kann nicht mehr von einer Form getrennt werden. --Richardd 21:43, 23. Mär. 2008 (CET)

vom Signalverarbeitungssystem zum wortlosen Programmierer

Nachdem ich heute Kittler gelesen und die 1. Vorlesungseinheit angehört habe, sind bei mir einige Anmerkungen / Fragen / Irritationen entstanden, die ich hier gerne zur Sprache bringen würde:

Analoge Codes existieren nicht

  • In der Vorlesung wurde erwähnt, dass es Analogen Code schlichtweg nicht gäbe. Das würde heißen, Code ist nur möglich aufgrund diskreter, eindeutig unterscheidbarer Zeichen, oder wenn wir im Jargon der Signalverarbeitung reden: unterscheidbarer abgrenzbarer Zustände im Signal.
  • Ich möchte aber behaupten, dass Code überhaupt nur möglich ist weil ihm Analoges zugrundeliegt, denn: Das Signal ist prinzipiell immer analog. Das ideale Rechtecksignal, das in einer unendlich kurzen Zeit vom Zustand 0 (der einem bestimmten Spannungswert plus/minus Toleranz zugeordnet ist) in den Zustand 1 übergeht, ist nicht realisierbar. Auf dieser Ebene sind schon die Grundlagen von Code - das Alphabet, die wohl unterscheidbaren, diskreten Zustände - immer auf Analoges, auf prinzipiell unendlich fein differenzierten Spannungswerten, angewiesen.
  • Was man macht, um diese unüberschaubare Anzahl von Spannungswerten zu ordnen, es handhabbar und operabel zu machen, ähnelt der Verfahrensweise der Erfahrungswissenschaft: Das Analoge Signal wird (durchaus durch Konventionen) in Kategorien eingeteilt, das sind eben die Zustände. Das müssen nicht unbedingt 2 Zustände sein (in der Messtechnik nimmt man üblicherweise viel). Code entsteht also, wenn man das so sagen darf, durch Interpretation von Analogen Signalen. Man hat immer eine vielfältige, verrauschte, zugrundeliegende Welt, die man versucht zu kontrollieren. Dies kann man nun vielleicht zurückprojizieren auf die Gesetzgebung in der Gesellschaft.

"Man kann ebenen Code kaum weitersagen" - Seit wann können Programmierer nicht sprechen?

  • Der letzte Absatz von Kittlers Vortrag ist mir nicht ganz einsichtig. Wenn ich es richtig verstehe ist hier gemeint, dass die Worte, über die man sich als Mensch über ein Programm unterhält (oder Gedanken macht), fehleranfällig, ungenau und mehrdeutig sind. Sobald man aber seinen "eigene[n] Kopf von Worten ganz ganz [!] entleert" - läuft das Programm schlussendlich. Das klingt für mich so, als ob Kittler im Schreiben von Code eine sinnentleerte unnatürliche Tätigkeit sieht.
  • Als Informatikstudent muss ich dem widersprechen: Das Programm läuft nicht aus dem Grund, weil die Programmierer ihre Worte aus ihren Köpfen entleeren, sondern zunächst einmal, weil sie sich Gedanken darüber machen, welche Funktion das Programm zu erfüllen hat und auf welche Art diese Funktion zu realisieren ist (das kann mitunter ein sehr kreativer Vorgang sein). Natürlich muss man wissen, wie man diese Ideen dann in Code umsetzt - doch auch hier bedient man sich als Mensch natürlichsprachlicher Erklärungen, um zum Beispiel nachzulesen, was Hilfsfunktionen oder Schlüsselwörter in dieser Programmiersprache bewirken.
  • Man darf meiner Meinung nach nicht vergessen, dass die Maschine (nur) Zeichen manipuliert und Bedeutungen erst von uns Menschen an die Maschine herangetragen werden. Es stimmt schon: Es ist schwer, Code zu lesen, den ein anderer geschrieben hat oder den man selbst vor langer Zeit geschrieben hat, wenn er nicht kommentiert ist. Andererseits ist es aber auch schwer, in die Gedankenwelt Hegels, Gödels, des EU-Vertrags oder seiner eigenen einzutreten; dabei sagt aber niemand, dass man seine Köpfe entleeren muss.

Turing hat nicht alles erfunden

  • Was ist mit Leibniz oder Bool oder Von Neumann oder Shannon? Ich denke hier sind sehr wichtige Dinge passiert, die man sich für ein besseres Verständnis von Code näher ansehen sollte. Vor allem wäre interessant zu erörtern, warum Logik und Philosophie, einst eng beeinander, soweit auseinandergedriftet sind.
  • [to be continued...] --Andyk 00:16, 3. Apr. 2008 (CEST)
Das Ausblenden der eigenen Gedanken wird von Kittler wohl in keinster Weise mit einem Ausschalten der Intelligenz, Kreativität oder ähnlichem gleichgesetzt. Viel eher bezieht er sich auf die Tatsache, dass es dem Ausdruck in einem Codesystem nicht förderlich ist, digitale Reduktionen mit analogen Überinformationen zu strapazieren. Natürlich besteht aber trotzdem immer ein Zusammenhang zwischen codemäßig vielleicht nicht fassbarem Hintergrund und dessen Umsetzung oder Darstellung in einem bestimmten Kalkül. Man denke nur an das Schachspiel. Strategisches Vorgehen und Stil sind beim Schachspiel nicht durch die Angabe von bestimmten Zügen auflösbar, müssen aber durch irgendeinen Vorgang hinter jedem Zug stehen, bzw. sich als emergente "Wirkung" aus einer Struktur von Zügen ergeben.
Hier zeigt sich wieder ein anderer Bezug von Analog/Digital aufeinander. Wird das Analoge auf das Digitale begrifflich reduziert, oder ist das Analoge die Emergenz aus zwei- oder mehrwertigen Codestrukturen. Sollte zweiteres zutreffen, so sei wieder auf die Annahme einer Grundcodierung verwiesen: außen/innen, durchsichtig/undurchsichtig, ... die möglicherweise auf anthropologischen Voraussetzungen gründet. --Richardd 09:59, 3. Apr. 2008 (CEST)
Es ist die Frage, ob man einem der beiden Seiten den Vorrang zuteilen kann und soll, ob nicht die Strenge des Codes einerseits sowie die Kreativität des Hintergrunds andererseits sich so bedingen, dass eines nicht ohne das andere sich zu entfalten vermag. "Strenge allein ist lähmender Tod - Phantasie allein ist Geisteskrankheit" (Gregory Bateson) --Andyk 12:19, 3. Apr. 2008 (CEST)
Der von dir zitierte Bateson hat es sich ja eben zur Aufgabe gemacht, quasi könnte man das als ein Leitmotiv der Kybernetik sehen, "Geist und Natur" miteinander zu verbinden. Noch weiter ausgeholt zieht sich dieses Thema schon durch deinen Großteil der Philosophie des 20. und schon späten 19. Jahrhundert. In diesem Sinne steht die Naturwissenschaften unter dem kalkülorientierten Code und die Geisteswissenschaft unter dem Zeichen des Analogen, wenn auch, bezeichnenderweise, die Übergänge hier fließend sind.

Natürlich ist es immer problematisch überhaupt von einer Geisteswissenschaft zu sprechen. Ich beziehe mich hier einmal auf das Vorwort eines Buches von Edgar Zilsel "Die Geniereligion", das die Geisteswissenschaft als Residuum einer adeligen oder mindestens großbürgerlichen Stärke gegenüber der vom Proletariat interessiert aufgenommenen Naturwissenschaft bezeichnet. Naturwissenschaft ist hier weniger als logische oder kalkülhaft ausdifferenzierte Disziplin verstanden sondern eher als pragmatische und somit das praktische Leben betreffende Disziplin. --Richardd 13:07, 3. Apr. 2008 (CEST)