Etienne Wenger: Communities of Practice

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Lektürenotizen zu: Etienne Wenger: Communities of Practice. Learnig, Meaning, and Identity. Cambridge University Press, Cambridge (u.a.) 1999.

Wissensgesellschaft

Im Rahmen des Projekts Wissensgesellschaft (LWC) wurde die Frage diskutiert, ob sich der Text für den Wikipedia-Artikel Wissensgesellschaft verwerten läßt. Das impliziert die Frage, ob sich Wenger explizit mit dem Stellenwert von Wissen in unserer Gesellschaft im Vergleich zu anderen auseinandersetzt, ob er nun den Begriff verwendet oder nicht.

Allgemein versteht man unter Wissensgesellschaft eine Gesellschaft, in der Wissen eine höhere Bedeutung hat als früher. Dagegen stehen Stimmen, die bemerken, daß Wissen schon immer eine entscheidende Rolle gespielt hat. So schreibt etwa Etienne Wenger, daß alle sozialen Gruppen gemeinsame Lernprozesse entwickeln.

Dabei stellt sich die Frage, inwiefern Wenger seine Aussagen auf alle sozialen Gruppen anwendet, davon ist abhängig, welche Auswirkungen Lernprozesse auf die Gesellschaft als Ganzes in allen Gesellschaftsformen haben. Anders formuliert: Ist Wengers Theorie des Lernens gleichzeitig eine Theorie sozialer Gruppen und damit eine Theorie zum Thema Gesellschaft? Denn nur dann ist sie für einen Lexikonartikel relevant, in dem über eine Gesellschaftsform diskutiert wird.

Stellenwert von Theorien/Diskursen in der gegenwärtigen Gesellschaft

Eine Stelle, in der Wenger explizit auf die moderne Gesellschaft Bezug nimmt, ist folgende:

Although learnig can be assumed to take place, modern societies have come to see it as a topic of concern - in all sorts of ways and for a host of different reasons. We develop national curriculums, ambitious corporate training programs, complex schooling systems. We wish to cause learning, to take charge of it, direct it, accelerate it, demand it, or even simply stop getting in the way of it. In any case, we want to do something about it. Therefore, our perspectives on learning matter: what we think about learning influences where we recongnize learnig, as well as what we do when we decide that we must do something about it - as individuals, as communities, and as organizations.
If we proceed without reflecting on our fundamental assumptions about the nature of learning, we run an increasing risk that our conceptions will have misleading ramifications. In a world that is changing and becoming more complexly interconected at an accelerating pace, concerns about learning are certainly justified. But perhaps more than learning itself, it is our ´´conception´´ of learning that needs urgent attention when we choose to meddle with it on the scale on which we do today. Indeed, the more we concern ourselves with any kid of design, the more profound are the effects of our discourses on the topic we want to address. The farther you aim, the more an initial error matters. As we become more ambitious in attempts to organize our lives and our environment, the implications of our perspectives, theories, and beliefs extend further. As we take more responsibility for our future on larger and larger scales, it becomes mor imperative that we reflect on the perspectives that inform our enterprises. A key implication of our attempts to organize learning is that we must become reflective with regard to our own discourses of learning and to their effects on the ways we design for learning. By proposing a framework that considers learning in social terms, I hope to contribute to this urgent need for reflection and rethinking.
S. 8f.

Wenger befaßt sich also mit der Sicht auf das Thema Lernen in unserer Gesellschaft und macht dabei folgende Aussagen: Lernen ist "a topic of concern", "we want to do something about it", und unsere Sorge ist auch "justified", da die modernen Gesellschaften "changing and becoming more complexly interconnected at an accelerating pace" sind. Man kann also festhalten, daß Lernen (und somit auch Wissen) in unserer Gesellschaft aufgrund ihrer Komplexität eine größere Rolle bekommt.

Wenger scheint aber noch eine zweite Aussage über moderne Gesellschaften zu machen: "[W]e become more ambitious in attempts to organize our lives and our environment[.]" Wir wollen unsere Lebenswelt in höherem Maß organisieren, d.h. von unseren (bewußten) Entscheidungen abhängig machen - also von dem, was in unserem Bewußtsein und in unseren Diskursen stattfindet. Deshalb sind die expliziten Inhalte und impliziten Voraussetzungen unserer "perspectives, theories, and beliefs" wichtiger als in anderen Gesellschaften, und für alle Themen, die für unsere Lebensführung von Bedeutung sind ist es in hohem Maß entscheidend, was wir darüber denken - auch für das Lernen. Nach dieser Perspektive ist Lernen in unserer Gesellschaft allerdings nicht bedeutender als in früheren - es wird zum Gegenstand der Diskussion, weil es schon von vornherein bedeutend ist. (Zu dieser Textstelle siehe auch den Abschnitt über zum modernen Leben.)

Unter diesem Gesichtspunkt könnte man argumentieren, daß nur eine bestimmte Form von Wissen in unserer Gesellschaft eine höhere Bedeutung hat als in anderen, nämlich diskursives Wissen.

Im Übrigen war mein Eindruck der, dass Wenger all diese Dinge nur sagt, um sein Vorhaben zu rechtfertigen, eine Theorie des Lernens vorzulegen. Hauptanliegen des Buchs ist die Entwicklung dieser Theorie. Ein etwaiges Konzept von "Wissensgesellschaft" kommt also wenn, dann nur auf einem argumentativen Nebengleis vor. Für einen Wikipedia-Artikel relevant wäre jetzt die Frage: Gibt es eine umfangreichere Diskussion über Aspekte von Lernen, Diskursen o.a., die für moderne Gesellschaften spezifisch sind?

Die Rolle von Lernen/Wissen in allen Gesellschaften

Wenger scheint zu argumentieren, daß Wissen/Lernen in allen Gesellschaften schon immer Bedeutung hatte. Das würde bedeuten: Alle Gesellschaften sind Wissensgesellschaften. Ein derartiger Standpunkt im Gegensatz zu einer Definition unserer Gesellschaft als Wissensgesellschaft bedeutet, den Begriff nicht zu erklären (zu erklären, wie er im gegenwärtigen Diskurs verwendet wird), sondern zu hinterfragen (zu klären, ob er angebracht ist). Wie das in den Wikipedia-Artikel integriert werden kann, sei erstmal dahingestellt.

Argumentation etwa: Alles Lernen findet in CoPs statt, alle Gemeinschaften sind CoPs. In einer Gemeinschaft sein heißt in gewissem Sinn dasselbe wie lernen, und Gemeinschaften gab es schon immer.

Dabei läuft Wengers Kernaussage in etwa darauf hinaus, daß alles Lernen ein sozialer Prozeß ist. Ich müßte dagegen argumentieren, daß jeder soziale Prozeß ein Lernprozeß ist.

Wikipedia-Artikel Communities of Practice

Beim Lesen des Wikipedia-Artikels Community of Practice und der dazugehörigen Diskussion habe ich den Eindruck bekommen, daß die gegenwärtige Diskussion über den Begriff von einem fundamentalen Mißverständnis geprägt ist. Einige Leute scheinen zu denken, daß CoPs eine neuartige Organisationsform sind. Mir dagegen scheint Wengers Argumentation in die Richtung zu gehen, daß alle Gemeinschaften Communities of Practice sind.

Kernfragen bei der Untersuchung dieser Diskrepanz:

  • Wann ist eine Gemeischaft keine CoP?
  • Was bedeutet es, ein gemeinsames Ziel zu verfolgen?

Ich lese aus Wenger ein wenig heraus, daß jede Gemeinschaft eine CoP ist; lt. Wikipedia-Artikel dagegen ist eine Gemeinschaft nur dann eine CoP, wenn sie bestimmte Kriterien erfüllt. Hier halte ich es für notwendig, sich zu fragen, ob nicht jede Gemeinschaft diese Kriterien erfüllt. (Dabei ist, wie oben andeutet, das Verfolgen eines gemeinsamen Ziels ein Kernpunkt.)

Ein Schlüsselzitat dabei:

Being alive as human beings means that we are constantly engaged in the pursuit of enterprises of all kinds, from ensuring our physical survival to seeking the most lofty pleasures. As we define these enterprises and engage in their pursuit together, we interact with each other and with the world and we tune our relations with each other and with the world accordingly. In other words, we learn.
Over time, this collective learning results in practices that reflect both the pursuit of enterprises and the attendant social relations. These practices are thus the property of a kind of community created over time by the sustained pursuit of a shared enterprise. It makes sense, therefore, to call these kinds of communities communities of practice.
(p. 45)

Dieser Text wurde besprochen in

Projekt zur Wissensgesellschaft, siehe Wissensgesellschaft - Erste Annäherungen