Deutsche Zeitschrift für Philosophie (FiK)

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Version vom 29. März 2007, 19:24 Uhr von Mario R (Diskussion | Beiträge) (Uwe Kasper: Kann die Quantentheorie den Hirnforschern helfen, Probleme zu verstehen?)
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bearbeitet von Nancy Mertins und Mario Reiter
ausgewählte Texte aus der deutschen Zeitschrift für Philosophie mit Schwerpunkt: Hirn als Subjekt? I (2/2004) + II (6/2004) + III (5/2005)


Gerhard Roth: Worüber dürfen Hirnforscher reden - und in welcher Weise?

Wolf Singer: Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbestimmung. Zwei konfliktträchtige Erkenntnisquellen

Hans-Peter Krüger: Das Hirn im Kontext exzentrischer Positionierungen. Zur philosophischen Herausforderung der neurobiologischen Hirnforschung

Jürgen Habermas: Freiheit und Determinismus

Wolfgang Detel: Forschungen über Hirn und Geist

Uwe Kasper: Kann die Quantentheorie den Hirnforschern helfen, Probleme zu verstehen?

Reinhard Olivier: Die Willensfreiheit aus der Sicht einer Theorie des Gehirns. Ein unentscheidbares Problem.

Ilan Samson: Freier (?) Wille

„Es gibt drei Bereiche, in denen der Widerspruch zwischen Willensfreiheit und Determinismus von Bedeutung sein könnte: 1. Der Konflikt zwischen den Begriffen selbst 2. Die Konsequenzen für unsere Einstellung zu zukünftigen Handlungen 3. die Betrachtung im Nachhinein, besonders wenn es um Verantwortlichkeit geht Ich möchte nun für diese Bereiche zeigen, dass der Widerspruch zwischen Willensfreiheit und Determinismus nicht von Bedeutung ist.“


Der Konflikt selbst

Eine Weise, wie der Konflikt zwischen Determinismus und Willensfreiheit eine äußerst große und beunruhigende Bedeutung erlangen könnte, wäre, wenn es uns gelänge, den Determinismus dafür einzusetzen, Entscheidungen vorauszusagen oder vorauszuberechnen, und dann zu entdecken, dass noch so viel ‚freies Wollen’ in der Zwischenzeit nie ein anderes Ergebnis bewirkt hat. Wir werden zeigen, dass dies nicht geschehen kann. (...) Aus Unschärfe bzw. Unvorhersagbarkeit folgt jedoch keine Nicht-Kausalität. Unschärfe bedeutet nicht, dass es keinen Grund gibt, warum das Ereignis eintritt oder nicht. Alles hat eine Ursache, es ist bloß so, dass wir sie nicht kennen, bzw. nicht dazu in der Lage sind, aus ihr den Endzustand zu berechnen, bevor er eintritt. (...)“

Ist uns der Endzustand nicht bekannt bezeichnen wir ihn als Zufälligkeit „aber diese Zufälligkeit ist nur eine scheinbare“ denn alles geschieht „durch eine Abfolge von ganz bestimmten physikalischen Ursachen“ Wir allerdings sind nicht dazu in der Lage, das Ergebnis vorher zu sagen bzw. zu berechnen weil zu viele Faktoren eine Rolle spielen und dass „die Vorhersage des Ergebnisses dieser Faktoren in bestimmten Situationen davon abhängt, dass ihre „Anfangszustände“ mit einem Grad an Genauigkeit bekannt sind, der in der Praxis unmöglich zu erreichen ist.“

Hier spricht Samson auf das an, was wir mit „Chaos“ bezeichnen. Ein Vorgang, der möglichst exakt wiederholt werden soll, bei dem ein möglichst ähnlicher Anfangszustand wiederhergestellt werden soll um ein möglichst ähnliches Ergebnis zu erhalten, führt zu einem vollkommen anderen Ergebnis. „Es gibt keine Wunder: Hätten wir den Durchlauf mit genau dem gleichen Anfangszustand wiederholt, erhielten wir in der Tat wieder das gleiche Ergebnis. (...) Da es natürlich in der Praxis unmöglich ist, den Anfangspunkt mit unendlicher Genauigkeit zu messen und festzuhalten, gibt es also keinen Weg, den Endzustand solcher ‚chaotischen’ Prozesse zuverlässig vorherzusagen.“

„Wir [brauchen] auch dann, wenn die Dinge für immer ungewiss und unvorhersagbar sein mögen, keinen Mystizismus, um zu erklären, warum sie sich uns entziehen. Situationen ergeben sich auf eine vollkommen kausale Art und Weise. Es sind bloß wir, die nicht mithalten können und an der Aufgabe scheitern, Situationen vorherzusagen, nicht nur weil die erforderliche Menge an Daten und Berechnungen unsere praktischen Fähigkeiten übersteigt, sondern weil sich die erforderliche Genauigkeit sogar allem entzieht, wozu wir theoretisch im Stande wären. Das Auseinanderklaffen von vorausberechneter und tatsächlicher Entscheidung kann also nicht die Grundlage für eine Unterscheidung zwischen Freiheit des Willens und Ungenauigkeit der Vorausberechnung bilden. Willensfreiheit und Unausweichlichkeit der Kausalität sind mithin nicht widersprechende Vorstellungen, aber der Widerspruch kann sich niemals zeigen.“


eine 'Komme was wolle'-Option?

Gewiss wäre die Unverträglichkeit zwischen Determinismus und Willensfreiheit von größter Bedeutung wenn der Determinismus eine Rechtfertigung für den Fatalismus wäre. (...) Es gibt keinen Weg für uns, in Erfahrung zu bringen, was der ‚Plan’ enthält (...) In einer solchen Situation hat die Vorherbestimmtheit keinerlei Auswirkung, sie ist einfach bedeutungslos.“


Die Betrachtung im Nachhinein, Verantwortlichkeit

Hier geht es wieder um den Konflikt im Rechtssystem, dass Menschen, die so zusagen aus dem Affekt heraus gehandelt haben, anders bestraft werden, als Menschen, die ihre „Taten“ lange geplant haben und sozusagen vorsätzlich vorgegangen sind. Immer wieder wird hier das Argument gebracht, dass in beiden Fällen eine Entscheidung des Gehirns vorliegt, dass der Unterschied lediglich darin läge, dass der eine seine Entscheidung unbewusst getroffen hat (das Gehirn wägt unbewusst ab und bezieht Genetik, Erfahrungen und Gelerntes aus frühester Kindheit – Wissen, welches nicht mehr erinnert werden kann und deswegen im allgemeinen als unbewusst gilt –, Erfahrungen, die uns nicht bewusst geworden sind, dennoch im Hirn gespeichert wurden etc.  Wolf Singer) und der andere bewusste Argumente gegeneinander abgewogen hat (und dabei gar nicht merkt, dass das Gehirn natürlich auch unbewusste Daten verarbeitet). Auch hier geht es wieder um die Vorherbestimmung, um Kausalität: alles was getan wird, ob aus Berechnung oder aus dem Affekt heraus entspricht einer Kette von kausalitätsbedingten Unausweichlichkeiten. Samson schlägt nun eine neue Art und Weise vor, mit dem Thema umzugehen: „Strafen gibt es nicht für die Taten, sondern als gerechten Ausgleich für das, was man sowieso ertragen hätte – auch wenn man sich zurückgehalten hätte. Belohnungen werden nicht für die Leistungen verteilt, sondern als gerechter Ausgleich für das, was man sowieso genossen hätte – auch wenn man sich der Mühe entzogen hätte.“ Als Beispiel für die Strafe nennt er einen Jugendlichen, der mit einer 50 Pfund Geldstrafe dafür bestraft wird, dass er die Zeitung ‚aus einem Kasten für Zeitungen mit einer Dose für Münzen’ mitgehen lässt, ohne dafür zu bezahlen. Das Argument des Jugendlichen, das Geld nicht bezahlen zu müssen: „Wir beide (...) wissen doch, dass ich keine wirkliche Wahlfreiheit hatte.“ Das Argument des Polizisten, warum das Geld doch zu bezahlen sei: „All die anderen, die – unbeaufsichtigt – vor dem Kasten standen, wussten auch, dass sie die Zeitung einfach mitgehen lassen könnten. Um das nicht zu tun, mussten sie der Verlockung widerstehen. Das tut weh, das ‚kostet“. Daher hätten Sie in irgendeiner Form sowieso bezahlt – selbst wenn Sie das Geld eingeworfen hätten.“ Die Belohnung als gerechter Ausgleich beschreibt er hier mit einem Angestellten, der nicht um 17 Uhr seinen Arbeitsplatz verlässt um nach Hause zu gehen, sondern sich die ganze Nacht mit einem Problem beschäftigt, einen Durchbruch erlangt und dafür mit einer Auszeichnung belohnt wird. „Die Belohnung gibt es nicht für die Leistung. Sie wird als ein gerechter Akt des Ausgleichs für den großen Preis ausgeteilt, den alle anderen sich dadurch verschaffen konnten, dass sie um fünf Uhr gegangen sind.“

„Zusammengefasst heißt dies: Dadurch, dass Belohnung und Bestrafung mit Fragen der Gleichheit verbunden werden – das heißt: „’Verlockung widerstehen’ vorher = Strafe nachher“ und „’Sich Belastungen entziehen’ vorher = Belohnung nachher“ – anstatt mit den Handlungen, hat die Frage ob sie „frei“ sind oder nicht, keine Auswirkung auf die Haltbarkeit des Belohnens oder Bestrafens.“

Wie sähe das Verfahren dann angewandt auf einen Mord aus? Wäre dann die Gefängnisstrafe doppelt so hoch mit dem Argument, dass der Täter, hätte er sich zurück gehalten, noch länger unter der Last des noch Lebenden zu leiden gehabt?
Was hieße das, angewandt auf unser Rechtssystem? Ließe sich diese Art und Weise zu verfahren überhaupt durchsetzen, ohne dass man in den Menschen das Gefühl weckt, immer alles nur falsch machen zu können? Mal angenommen, es wäre so, dass Belohnung und Bestrafung sich genau ausgleichen, egal was man tut – wäre es nicht verdammt unklug, das den Menschen innerhalb einer Rechtslage vor Augen zu führen? Wäre es überhaupt möglich, Menschen unter „Kontrolle“ zu haben, würde man ihnen das Gefühl geben, es wäre egal, es käme sowieso aufs gleiche heraus? Menschen halten sich doch nur an Gesetze, weil sie das Gefühl haben, dass ihnen dieses Verhalten einen Vorteil verschafft.

Konklusion

Anstatt danach zu suchen, wie die offensichtlich unverträglichen Vorstellungen Determinismus und Willensfreiheit doch zu vereinbaren sind, wird stattdessen das Beunruhigende an dem Widerspruch in seine Schranken verwiesen – dadurch, dass gezeigt wird, dass er nicht notwendigerweise Auswirkungen für die Praxis hat. Anders gesagt: Die Frage ist nicht, ob Determinismus und Willensfreiheit unverträglich sind – natürlich sind sie das (...) –, sondern ob es von Bedeutung ist, dass sie unverträglich sind. Es wurde gezeigt, dass dem nicht so ist: die Anerkennung einer völligen kausalitätsbedingten Unausweichlichkeit (Determinismus) muss nichts an der Art und Weise ändern, wie wir unter dem Eindruck von Willensfreiheit handeln (ausgenommen ein paar Anpassungen im Vokabular von Anwälten).“


Matthias Vogel: Diskussion: Gehirne im Kontext

Folgenden Absatz aus Singers Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbeschreibung wird von Vogel kritisch kommentiert:

„Die Aufklärung der neuronalen Grundlagen höherer kognitiver Leistungen ist mit epistemischen Problemen behaftet. Eines folgt aus der Zirkularität des Unterfangens, da Explanadum und Explanans eins sind. Das Erklärende, unser Gehirn, setzt seine eigenen kognitiven Werkzeuge ein, um sich selbst zu begreifen, und wir wissen nicht, ob dieser Versuch gelingen kann.“

Vogel meint dazu folgendes im Zusammenhang mit Unklarheiten und Verständnisschwierigkeiten zwischen Hirnforschern und Philosophen:

„Inwiefern liegt hier eine – womöglich vitiöse – Zirkularität vor? Inwiefern gibt es eine Identität zwischen Explanandum und Explanans? Eine problematische explanative Zirkularität läge vor, wenn eine Erklärung das zu Erklärende als gültig Erklärtes voraussetzt, aber diese Beziehung besteht zwischen dem Explanandum höherer kognitiver Leistungen und dem Explanans einer Theorie neuronaler Prozesse nicht, denn die Erklärung höherer kognitiver Leistungen durch neuronale Prozesse setzt nicht voraus, dass wir diese Erklärung bereits akzeptieren müssen, um uns der explanativen Aufgabe stellen zu können. Das Explanandum kognitiver Leistungen ist aber auch nicht identisch mit dem Explanans, weil das zu erklärende Phänomen nicht identisch ist mit einer Theorie – oder einer Menge wahrer Sätze – über neuronale Prozesse. Und schließlich, inwiefern sollte es mit Blick auf die Erklärung höherer kognitiver Leistungen ein spezifisches Erkenntnisproblem geben? Weil wir, wenn wir unsere kognitiven Fähigkeiten erklären wollen, uns unserer kognitiven Fähigkeiten bedienen müssen? Haben denn Lebewesen, weil sie leben, ein spezifisches Problem, das Phänomen des Lebens zu verstehen? Oder weniger polemisch und etwas genauer: Stellt es ein spezifisches epistemisches Problem dar, dass das Geben von Erklärungen, die die Realisierung höherer kognitiver Leistungen durch das Vorliegen neuronaler Prozesse erläutern, gemäß ebendiesen Erklärungen selbst durch neuronale Prozesse realisiert werden muss? Ich glaube, kaum. Natürlich ist unsicher, ob unsere Erklärungsversuche erfolgreich sein werden, aber das gilt für nahezu jede Erklärung in nahezu jedem Kontext.“


Roth schlägt eine begriffliche Differenzierung vor, um den Satz „das Gehirn entscheidet“ (und nicht die Person) rechtfertigen zu können:

„Dieser Differenzierung zufolge gibt es a) mentale Ausdrücke, die auf der Grundlage von Verhaltenskriterien zugeschrieben werden und somit den gleichen Zuschreibungsbedingungen unterliegen, wie Ausdrücke, mit deren Hilfe das Verhalten des Gehirns beschrieben werden kann. Zu diesen Ausdrücken gehört das Verb „entscheiden“, das man auf Personen, aber auch auf das Organ anwenden kann. Und es gibt b) mentale Ausdrücke, die der Autorität der ersten Person unterworfen sind, insbesondere solche des phänomenalen Erlebens, die nur auf Personen angewendet werden dürfen.

Obwohl wir Roth zufolge sowohl von Personen als auch von Gehirnen sagen können sollen, dass sie entscheiden, müssen wir dafür sorgen, dass „Entscheidungen“ der Gehirne nicht grundbegrifflich von den Entscheidungen abhängen, die von Personen getroffen werden. Wir müssen daher ausschließen, dass die Rede von Entscheidungen des Gehirns so gerechtfertigt wird, dass es sich um Gehirne von Personen handelt, die Entscheidungen treffen. Versuchen wir, diese Anforderung zu erfüllen: Wenn ein System S beobachtbare Verhaltensalternativen Vn angesichts des Eintretens gewisser Umweltbedingungen Un hat und beim Eintritt von U1 vom Verhalten V1 zu V2 übergeht, dann hat sich S für V2 entschieden. Doch diese Formulierung wird offenbar auch von folgendem Satz erfüllt: wenn ein Stück Eisen die Verhaltensalternative hat, stabil zu sein (V1) oder zu rosten (V2), und Eisen angesichts von U1 (Gegenwart von Sauerstoff und Feuchtigkeit) zu V2 übergeht, dann hat sich das Stück Eisen entschieden zu rosten.“

Vogel räumt in weiterer Folge ein, dass Roth vielleicht etwas anderes gemeint hat.


Hans Julius Schneider: Reden über Inneres. Ein Blick amit Ludwig Wittgensein auf Gerhard Roth.

<root><br /> <h level="2" i="1">== Kontext ==</h>

Freiheit im Kopf (Seminar Hrachovec, 2006/07)

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