Das 'Erkennen als solches'

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Aus Christoph Halbig: Das 'Erkennen als solches' in: Ch. Halbig, M. Quante und L. Siep (Hrsgg.): Hegels Erbe. Frankfurt/M 2004

2. >Das Erkennen als solches< — zur Grundgrammatik von Hegels Epistemologie Die Grundgrammatik von Hegels Epistemologie wird, so die hier vertretene These, innerhalb des ersten Teils, zweites Kapitel, dritter Abschnitt der Begriffslogik, >Die Idee des Wahren<, beziehungsweise in dem korrespondierenden Abschnitt der enzyklopädischen Logik, >Das Erkennen< (g 226-232), entwickelt. Das gesamte zweite Kapitel der Wissenschaft der Logik ist überschrieben mit >Die Idee des Erkennens<; es umfasst indes nicht nur theoretische Leistungen, wie sie im unterminologischen Gebrauch mit dem Begriff des Erkennens verbunden sind, sondern auch praktische Leistungen der handelnden Transformation der Wirklichkeit, die unter dem Titel >Die Idee des Guten< beziehungsweise, in der enzyklopädischen Logik, unter dem des >Wollens< diskutiert werden. In der enzyklopädischen Logik er-gibt sich aus diesem Umstand die unschöne terminologische Doppelung, dass das entsprechende Kapitel denselben Titel trägt wie der erste seiner Teile, nämlich >das Erkennen. In der Wissenschaft der Logik vermeidet Hegel diese Schwierigkeit, indem er den ersten Teil des Kapitels >Die Idee der Erkenntnis< überschreibt mit >Die Idee des Wahren<, dessen Gegenstand aber eben das Erkennen in seiner theoretischen Bedeutung bildet. Um einer Konfundierung der Theorieebenen vorzubeugen, spricht Hegel in beiden Texten daher vom »Erkennen als solchem« (497; vgl. § 225), wenn er das Erkennen als epistemologische Kategorie im Blick hat. Im Folgenden wird der Begriff des Erkennens, sofern nicht ausdrücklich anders gekennzeichnet, ausschließlich in diesem Sinne verwendet. Bereits mit den Kapitelüberschriften sind entscheidende Hinweise für den theoretischen Rahmen gegeben, in dem Hegel die Grammatik seiner Epistemologie entwickelt. Dieser jiiid~ämlich,_w' zeigen möchte, durch die beiden Kategorie >Idee und >Wahrheit< bestimmt. Entscheidend ist, dass es sich bei bei en um ontO-t hie Kategorien handelt. Aus einer modernen Perspektiv e; in der Wal—ir-heit als Eigenschaft von Sätzen beziehungsweise propositionalen Gehalten betrachtet wird, mag dies überraschen. Hegel selbst verwendet den Wahrheitsbegriff zwar auch in diesem Sinne, hält ihn aber für derivativ gegenüber dem ontologischen Wahrheitsbegriff. Wahrheit im ontologischen Sinne ist definiert als »Einheit des Begriffs und der Objektivität« (464). Eine Entität ist für Hegel in dem Maße wahr, wie sie ihren Begriff aaa'quat realisiert. Seinem Wahrheitsbegriff eignet damit eine normative Komponente: Eine Entität, die ihren Begriff verfehlt, wie etwa ein diktatorisches Regime den Begriff der Freiheit, ist in dem Maße schlecht, wie sie unwahr ist — sie bleibt hinter dem in ihrem Begriff gesetzten Anspruch zurück.5 Auch eine Entität, die dem normativen Anspruch ihres Begriffs gerecht wird, kann indes simpliciter nicht wahr sein. Diese Folgerung ergibt sich aus Hegels ontologischem Holismus, den He-gel selbst im Zusammenhang seiner Erörterung der Idee-Struktur in Erinnerung ruft. Nach Hegel nämlich ist jede Entität bereits qua endliche falsch: »Das einzelne Sein ist irgendeine Seite der Idee, für dieses bedarf es daher noch anderer Wirklichkeiten, die gleichfalls als besonders für sich bestehen-de erscheinen; in ihnen zusammen und in ihrer Beziehung ist allein der Begriff realisiert. Das Einzelne für sich entspricht seinem Begriffe nicht; diese Beschränktheit seines Daseins macht seine Endlichkeit und seinen Untergang aus« (g 213). Eine einzelne Entität mag zwar ihren Begriff realisieren, dieser selbst lässt sich indes nicht explizieren, ohne dabei auf andere Begriffe zu rekurrieren, die insgesamt den Begriff, wie er in dem Zitat im Singular verwendet ist, als das System kategorialer Bestimmungen konstituieren, das in der Wissenschaft der Logik expliziert wird. Ohne Einschränkung wahr im ontologischen Sinne kann mithin nur eine Entität sein, die in dem doppelten Sinne unendlich ist, dass sie selbst die Totalität aller semantischen Bestimmungen bildet, mithin keine Augenperspektive zulässt, die sie als Ganze >einklammern< könnte, eine Totalität, die zugleich gemäß dem Kriterium der Übereinstimmung von Begriff und Realität vollständig realisiert sein muss. Diese Entität ist aber eben keine andere als die Idee beziehungsweise das Absolute (vgl. § 213) selbst.


Bei der Idee handelt es sich mithin um eine ontologische, nicht um eine epistemologische Kategorie. Hegel selbst wehrt ausdrücklich das Missverständnis ab, das sich aus dem umgangssprachlichen Gebrauch von Idee im Sinne einer >Idee von oder über etwas< er-geben könnte: »Die Idee selbst ist nicht zu nehmen als eine Idee von irgend etwas [...]« (g 213). Wenn die Idee aber den Titel für die Gesamtstruktur der Wirklichkeit bildet, ist klar,-dass es kern AU- er-halb d der 73e geben kann, von dem aus diese selbst durch einen außenstehenden Beobachter gleichsam >from nowhere< in den Blick genommen werden könnte. Epistemische Perspektiven ergeben sich vielmehr nur innerhalb des metaphysischen Prozesses der Selbstentfaltung der Idee und müssen sich als notwendige Momente des Prozesses verständlich machen lassen. Der Versuch, die Idee selbst als Titel für ein Kategorienschema zu lesen, dem ein zu schematisierender, bloß gegebener Input gegenüberstände, verfehlt mithin bereits den Ausgangspunkt von Hegels Diskussion des Erkennen-Begriffs. Natürlich ergeben sich aus der Idee-Struktur epistemologische Konsequenzen: Hegel selbst hebt hervor, dass die Idee nicht ein äußeres Kriterium darstellt, das an etwas ontisch Gegebenes als Maßstab angelegt wird und mit ihm dann entweder in Übereinstimmung steht oder nicht, sondern dass sie selbst das Kriterium dafür bildet, was es im ontologisch emphatischen Sinne des Wortes wirklich gibt. Darin Iiegt der Kern seiner normativen Ontologie. Adäquate Erkenntnis muss entsprechend unterscheiden können, ob ein Gegenstand wirklich ist im Sinne einer angemessenen Realisation seines Begriffs oder bloßer Schein. Hier handelt es sich jedoch nur um den epistemologischen Nachvollzug ontologischer Ebenen. Im Zusammenhang der Fragestellung dieses Beitrags wird es hinge-gen darum gehen, die fundamentalere Frage zu klären, inwieweit sich die Möglichkeit des Erkennens, also der epistemischen Perspektivität überhaupt, aus der Idee-Struktur heraus verständlich machen lässt. Aber ist damit, so könnte man hier einwenden, nicht der Wahrheitsbegriff gerade wegen seiner ontologischen Überfrachtung für die Erhellung epistemologischer Problemstellungen gleichsam neutralisiert? Ein solcher Einwand übersieht, dass Hegel neben seinem ontologischen auch einen propositionalen Wahrheitsbegriff vertritt, der nicht wie Ersterer als Ubereinstimmung von Begriff und Realität, sondern als der von Vorstellungen und äußeren Dingen (vgl. § 213) definiert wird; es handelt sich hier mithin eindeutig um eine epistemologische Relation. Zur Vermeidung terminologischer Konfusionen gebraucht Hegel, um den propositionalen Wahrheitsbegriff zu kennzeichnen, – zumeist – den Begriff der Richtigkeit, während der der Wahrheit ontologischen Kontexten vorbehalten bleibt.' Zu beachten ist, dass es natürlich richtige Urteile über im ontologischen Sinne falsche Entitäten geben kann, zum Beispiel wenn jemand urteilt, dass eine diktatorische Staatsform schlecht sei. Dieses Urteil ist gerade deshalb wahr – oder, in Hegels terminologischem Sinne des Wortes, richtig– weil sein Gegenstand, die diktatorische Staatsform, ontologisch falsch ist. Gegenstand des uns hier beschäftigenden erstens Teils des Erkennen-Kapitels ist eben, wie bereits sein Titel >Die Idee des Wahren< anzeigt, die Rekonstruktion der Struktur unserer epistemischen Leistungen aus dem Zusammen-spiel beider Wahrheitsbegriffe vor dem Hintergrund der sie gleichermaßen fundierenden Idee-Struktur. Zunächst bleibt hier noch, gleichsam eine Gliederungsebene höher, zu klären, unter welchem Gesichtspunkt Hegel eigentlich theoretische und praktische Leistungen, das Wahre wie das Gute, unter dem Titel des >Erkennens überhaupt< (487) zusammenordnen kann. Erst wenn diese allgemeine Struktur analysiert worden ist, kann nach der differentia specifica gefragt werden, die das >Erkennen als solches<, also unsere spezifisch theoretischen Leistungen, ausmacht. Als systematisch wenig hilfreich erweist sich die Herleitung der Idee des Erkennens aus der ihr vorgeordneten Stufe der Idee, der des Lebens. Formal beschreibt Hegel das Verhältnis der beiden Stufen nach dem Modell der Unmittelbarkeit (Idee des Lebens), die durch ein Urteil im Sinne von Hölderlins Ur-teilung aufgehoben wird (Idee des Erkennens überhaupt), bevor dieses Urteil wiederum zu einer Einheit auf höherer Ebene (absolute Idee) zusammengeführt wird. Die Hierarchisierung der drei Stufen ergibt sich daraus, dass in ihnen die Struktur der Idee zunehmend adäquater realisiert wird.' Die Defizienz des Lebens in der Realisierung der Struktur liegt im Kern darin, dass in ihr eine instabile Identität von Begriff und Objektivität vorliegt: Der Begriffwird hier repräsentiert durch das All-gemeine der Spezies, die gleichwohl nicht als platonische Entität außerhalb, sondern nur innerhalb der Individuen existiert, die dieser Spezies zugehören, ohne jedoch mit einem einzelnen dieser Individuen identisch zu sein. Darin aber sieht Hegel einen Widerspruch (vgl. § 221): Die Allgemeinheit der Spezies muss ausdrücklich gesetzt werden, also eine Weise finden, sich innerhalb der Individuen zu manifestieren, ohne jedoch zu einer von diesen unabhängigen Seinsweise finden zu können. Aus dieser Spannung leitet Hegel die Prozesse der Fortpflanzung und des Todes des individuellen Organismus ab, in denen sich die »Gattung als Macht über die unmittelbare Einzelheit» (g 221) erweist: Der individuelle Organismus stirbt, garantiert aber zugleich im Prozess der Fortpflanzung das Weiterbestehen seiner Spezies. Für unsere Fragestellung relevant sind hier lediglich (I) die allgemeine Problemstellung, die sich auf allen Stufen der Idee durchhält, und (ii) der Grund dafür, dass diese innerhalb des Lebens eben nicht befriedigend gelöst werden kann. Erstere besteht darin, ein stabiles Verhältnis von Begriff und Realität zu finden — die Struktur, in der sich die Realität vollständig als Ausdruck ihres Begriffs verstehen lässt, definiert ja gerade, wie wir oben gesehen haben, die Idee. Letzterer ist darin zu sehen, dass die Realität auf der Ebene des Lebens zwar dem Begriff mehr oder minder angemessen sein kann, diese Angemessenheit epistemisch jedoch nur für den äußeren Betrachter erkennbar ist, der basale natürliche Prozesse als Ausdruck der Spannungen zwischen beiden zu deuten vermag: »die objektive Realität ist dem Begriffe zwar angemessen, aber noch nicht zum Begriffe befreit, und er existiert nicht Ar sich als der Begriff< (468). Kurz gesagt: Dem Leben fehlt Subjektivität, diese erst ermöglicht eine adäquatere Realisierung der Idee-Struktur, deren Charakterisierung den Gegenstand des >Erkennen-überhaupt>-Kapitels bilden wird. Ihm liegt die »Beziehung der fürsichseienden Subjektivität des einfachen Begriffs und seiner davon unterschiedenen Objektivität» (467) zugrunde. Die Subjektivität zeichnet sich mithin durch die Reflexivität des Selbstbewusstseins aus (fürsichseienden Subjektivität), die gleichwohl nicht für sich bestehen kann, sondern immer über einen Objektbezug vermittelt sein muss. In einem subjektivitätstheoretischen Exkurs in der Einleitung zur >Idee des Erkennens< akzentuiert Hegel in expliziter Wendung gegen die kantische Theorie der transzendentalen Synthesis diese »Untrennbarkeit der zwei Formen, in denen es [sc. das Ich] sich sich selbst entgegensetzt«, nämlich der Form der Einheit des >Ich denke< einerseits, die des diese vermitteln-den Objektbezugs andererseits (»das Ich denkt etwas, sich oder et-




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