Die Wissensbilanz und der Cusanus-Club
DIE ORF-Version dieses Artikels
Sie organisieren ein Symposium, sagen wir über den mittelalterlichen Philosophen Nikolaus Cusanus. Wer soll den Eröffnungsvortrag halten? Zur Wahl steht ein Kollege, der das Verhältnis des Cusaners zu Aristoteles erläutert und eine Forscherin, die aus seinen Schriften neue Impulse für den Dialog mit dem islamischen Kulturkreis gewinnt. Das eine Thema ist seit langer Zeit bekannt und vielfach bearbeitet, das andere bietet interessante, neue Ausblicke. Die Entscheidung ist schwierig.
Wenn sich der Vorstand der Cusanus-Gesellschaft aus wohlverdienten Wissenschaftlern (m/w) der alten Schule zusammensetzt, wird das Votum gegen "billige Aktualisierung" ausfallen. Wenn Sie einen Sponsor gewinnen wollen, dem an öffentlichem Echo liegt, empfiehlt sich die zweite Option. Eine Idee ("Cusanus und der Islam") kostet nichts und läßt sich ziemlich preisgünstig (in Bibliotheken, am Schreibtisch) weiterverfolgen. Dennoch ist sie auch etwas wert. Sie weckt Interesse für die Forscherin; sie eröffnet ein Potenzial von Aufmerksamkeit und Prestige; sie verspricht Folgewirkungen. Der Cusanus-Club expandiert, wenn er einige "innovative Projekte" startet.
Die alten Herrschaften werden einwenden, dass dabei die Substanz verloren geht. Sie meinen: es gibt traditionsgesicherte Standards der Cusanusforschung, die durch Kurzschluss mit Tagesthemen erodieren. Dabei setzen sie voraus, dass eine verläßliche akademische Expertenkultur über die Qualität des Forschungsbereiches wacht. Recht so, das wünsche ich mir auch. Aber es entspricht nicht ganz den Tatsachen. Ideen sind wertvoll und produktiv, sie durchkreuzen die Barriere zwischen akademischen Gepflogenheiten und der Populärkultur. Nikolaus Cusanus ziert das T-Shirt? Ein Sakrileg?
Es kommt zu einer Vorstandssitzung. Die Jahresbilanz des Vereins muss gelegt werden. Den Einnahmen durch Mitgliedsbeiträge stehen Ausgaben für das Vereinslokal und die Betreuung der Homepage gegenüber. Doch das ist nicht alles. In Kürze steht ein rundes Casanus-Jubiläum bevor. Der Verein könnte die große Ausstellung organisieren, die eventuell vom Kultusministerium Abu Dhabis gefördert wird. Damit würden sich die Finanzlage schlagartig ändern. De facto ist das durch die bloße Möglichkeit eines solchen Coups bereits geschehen. Die Kreditwürdigkeit steigt, die Vorstandmitglieder werden zu Geschäftsessen eingeladen. Die Vorgänge bedeuten eine Zerreißprobe für die Gruppe. Der plötzlich hervortretende Marktwert interferiert mit dem selbstgenügsamen Betrieb der Forschungsgemeinschaft.
Das fiktive Beispiel wird für die Universitäten Österreichs Wirklichkeit. Das UG2002 hat sich an einer kühnen Konstruktion versucht. Es verlangt ab 2007 eine "Wissensbilanz". Die Anwendung dieses Instruments aus dem innerbetrieblichen Rechnungswesen auf Universitäten ist weltweit eine Pionierleistung. Eine wertvolle Idee? Zumindest ist sie für eine Kontroverse gut.
Die Meinungen polarisieren sich wie Eisensplitter zwischen den Magnetpolen. Wissen fällt in die Zuständigkeit autonomer Expertenkulturen, die weder dem Verwertungsdruck, noch den Marktmechanismen unterworfen sind. Andererseits: Wissen ist messbar. Nicht bloß in Buchseiten ("Gelehrsamkeit"), sondern in "Human- , Struktur-, und Beziehungskapital". Das Faktum, dass der Vereinsvorstand am selben Golfplatz spielt, wie die Direktorin des Kulturamts, steigert den Wert des Cusanus-Clubs. Die Sponsoren werden auf derartige Verbindungen ("Beziehungskapital") achten. Der Umstand ist nicht neu. Das Unterfangen, die Tätigkeit tausender österreichischer Wissenschaftlerinnen (m/w) in einem Indikatorensystem, das Kennzahlen für das Vorliegen und die Steigerung von Wissen vorgibt, zu valorisieren, ist Staunen und einen Stoßseufzer wert.
Mit gleicher Sicherheit läßt sich voraussagen, das erstens die ermittelten Publikationszahlen, Kongressfrequenzen und Zitationsmuster in einem ausgeprägten Missverhältnis zu beliebig vielen Gutachten aus der Fachwelt stehen werden. Universitätsprofessoren (m/w) scheuen sich in der Regel nicht, im Einzelfall "numerisch" inferiore Kandidaten (m/w) dennoch uneingeschränkt zu empfehlen. Und zweitens kann die Auffassung nicht ausbleiben, dass diese Zahlen - da sie nun einmal erhoben worden sind - irgendetwas messen. Den Bilanzwert des Wissens relativ zu den Vorgaben der Bilanzgebarung. Woher stammen die Vorgaben? Aus dem Versuch, die Nützlichkeit des Wissens zu quantifizieren.
Eine Partei stellt fest, Wissen sei wesentlich zweckfrei; dagegen wird eingewandt, dass jeder soziale Prozess Werte beansprucht, schafft und beseitigt. In unserer kapitalistischen Wirtschaftordnung ist Fachwissen nicht mehr von einer solchen ökonomisch relevanten Einschätzung ausgeschlossen. Schwach ist der unter Philosophen (m/w) beliebte Rückgriff auf "Wissen in seiner ursprünglichen Bedeutung". Aussichtsreicher - die Kategorie ist nicht neutral - ist der Versuch, nachzuzeichnen, welche Grenzen hier unter welchen Bedingungen verrutscht sind. Sonst spielen wir eine weitere Episode der Serie "Konflikt der Kulturen". --anna 08:14, 20. Okt 2006 (CEST)
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