Diskussion:Eine Neubeschreibung des Problems
@"Im Unterschied dazu meine ich, daß liberale Neutralität nicht preisgegeben, sondern lediglich neu ausgelegt werden sollte. Liberale Neutralität ist ein antidiskriminatorischer Grundsatz, der einer unfairen Bevorzugung oder Benachteiligung von religiösen Bekenntnissen, ethischen Werten oder kulturellen Alternativen entgegenwirken soll." Naja. Liberale Neutralität, das ist erst einmal ein Produkt der Geschichte. Das sagt ja die Autorin selbst. Ob liberale Neutralität als universal gedeutet wird und gedeutet wurde, das ist meiner Meinung nach ganz hintanzustellen. Ich bin nicht der Meinung, dass man jetzt von einer universalistischen Deutung her eine neue Begründung für Toleranz aufstellt, à la context of justification.
Die Interpretation dessen, was frei und gleich heißt, ist ein historisches Produkt, und die neue Fragestellung der anderen Bekleidungsvorschriften ist faktisch nicht in den Entstehungsprozess des Liberalismus hineingefallen. Das zeichnet aber meiner Meinung nach diesen Liberalismus auch aus; dass eben nur über ganz bestimmte, relativ klar umgrenzte Fragen Übereinstimmung erzielt wurde.
Was diese Übereinstimmung betrifft, so ist das doch eine Sache gewesen, die innerhalb der vorhandenen stabilen Gesellschaft, also mit einer internen Entwicklung vor sich ging. Die Französische Revolution wäre so etwas: was sich von innen her entwickelt hat. Und diese Faktoren stellen meiner Meinung nach schon einen wesentlichen Inhalt des gewachsenen Toleranzbegriffes dar. Ich glaube, dass das auch der Grund ist, warum sich dieser Liberalismus faktisch durchsetzen konnte, warum man sich diese Toleranz schließlich bewusst geleistet hat. Die Akzeptanz ist nicht von einer universalistischen Begründung ausgegangen. Die Schriften Lessings oder anderer Aufklärer stützen sich doch auf den sehr natürlich gewachsenen Konsens, dass diese und diese Fragen nicht mehr Sache von grundsätzlichen Debatten sein kann.
Historische Bedingungen der Etablierung von Toleranz werden aber von Galleotti nicht irgendwo genannt. Das bleibt alles in der Sphäre der, könnte man sagen, Narrative über diese Toleranz. Dort ist natürlich auch die französische Diskussion geblieben; die ganzen psychologischen Fragen der Angst vor dem Unbekannten sind leicht ausgeblendet. Möglich, dass man Scham für diese Gefühle zu empfinden hat.
Aber für die neuen Bekleidungsprobleme gibt es wenig historsiche Entwicklung für eine Toleranz. Man bedient sich daher einiger Analogieschlüsse, die dann mit den Begriffen Diskrimination, Bevorzugung, Benachteiligung operieren. Ich würde schon sagen: Justice as fairness does, for historical reasons, not apply. Justice as fairness, der klassische Liberalismus betrifft die Probleme, die in den Geschichtslehrbüchern stehen; aber nicht Dinge, über die sich historisch kein Konsens gefunden hat. (Das liegt meiner Meinung nach auch daran, weil das Problem nicht von innen, sondern von außen kommt, und wenig Tradition hat. Es ist zu wenig Zeit vergangen.) Mit ein paar Analogieschlüssen kann man aber niemand zur Toleranz verpflichten. Das widerstrebt ja den Gefühlen.
Vernünftig begründen kann man eine Intoleranz nicht, zumindest nicht leicht. Die Intoleranz gehört doch ungefähr zu den Abwehrmechanismen, die -- obwohl sie bei Angst vor dem Fremden etwa natürlich sein mögen -- nicht vernünftig geheißen werden. Auch symbolische Akte, wie das einschlägige Verbot beim Gewand, sind nicht vernünftig. Aber weil die Argumente symbolisch und nicht stichhaltig sind, kann man noch niemand zur Toleranz verpflichten.
Die Frage Kopftuch oder nicht? fällt außerhalb des klassischen Kanons der europäischen Liberalität. In einem grundsätzlichen Sinne hat man hier nicht die traditionelle Stärke des Arguments zur Verfügung, dass Toleranz geübt werden muss. Es wird nicht so akzeptiert werden. --Georg 10:37, 17. Jun 2006 (CEST)
@ georg:
"Justice as fairness does, for historical reasons, not apply."
Hier stellt sich doch die Frage, inwieweit die Kopftuchdebatte juristisch, also im Rahmen des Rechtsstaates, geklärt werden kann. Diese Debatte scheint auch auf dieser Ebene den liberalen Staat zu überfordern!
@anna:
"Der Schleier als Demonstration für Gleichbehandlung im liberalen Staatsganzen? Der Vorschlag unterläuft genau das Widerständige der Intervention. "Repressive Toleranz"? Herstellung der Neutralität durch Beseitigung der Anlässe für Differenz."
...falls die Intervention widerständig gedacht ist, also als Kritik und nicht nur als Kopftuchträgerinnen ganz normal erscheinendes so-Sein- wie -sie-sind.
Die Unterstellung einer Widerständigkeit könnte ebensogut eine Überinterpretation sein oder eine bestimmte Position in der Kopftuchdebatte unterstützen.
--Sophie 18:15, 22. Jun 2006 (CEST)
Es scheint kleinlich zu sein- hat jedenfalls nicht unmittelbar mit der Kopftuchdebatte zu tun-, ist aber im Sinne einer wissenschaftlichen oder auch nur richtigen Analyse und um Diskriminierungsmechanismen in den so genannten westlichen Gesellschaften zu begreifen, wichtig: Galeotti spricht vom Verhalten der Mehrheit gegenüber der unterdrückten Minderheit; einerseits gibt es aber das Phänomen, dass eine Minderheit (Männer) die Mehrheit (Frauen) uneterdrückt; nun könnte gesagt werden, Minderheit hat nicht bloß eine quantitative, sondern auch eine qualitative Bedeutung; dennoch ist der Begriff nicht korrekt und neigt dazu, spezifische Mechanismen, die die Unterdrückung der Mehrheit durch die Minderheit ermöglichen,zu verschleiern. Andererseits gibt es- das hat nun wieder unmittelbar mit der Kopftuchdebatte zu tun- keine homogenen Minder- und Mehrheiten, sondern in einer Mehrheitsgruppe gibt es wieder Unterdrückte und UnterdrückerInnen und auch Mehrheiten und Minderheiten; so könnte eine Feministin, die in Frankreich geboren wurde, aus der Erfahrung ihrer Unterdrückung als Frau und der Unterdrückung anderer Frauen in der Kopftuchdebatte eine andere Position einnehmen als ein französischstämmiger Mann (so dieser die Mehrheitsposition vertritt)- die Französin kann, als solche zur französischen "Mehrheit" gehörend, sich zur "Minderheit" (im Sinn von unterdrückten, machtärmeren) Gruppe der Frauen zählen und sich damit als Teil der Mehrheit der in Frankreich Geborenen/ Lebenden (es ist ja nicht klar, wer genau zur "französischen" Mehrheit gehört) auf einer anderen Ebene der Minderheit der Kopftuchträgerinnen näher fühlen. Allgemein ist es unrichtig, von einer einheitlichen Position innerhalb der Mehrheit oder innerhalb der jeweiligen Minderheit auszugehen. --Sophie 18:53, 22. Jun 2006 (CEST)