Diskussion:Big Data (Vorlesung Hrachovec, WS 2015)

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Diskussionsbeitrag zu Eurodac: Die geniale Idee, das Konzept einer geordneten Datenbank in der Vorlesung anhand der Eurodac zu erörtern, hat zu einer lebendigen Diskussion geführt, die sich unmittelbar auf die ethischen Fragen der Speicherung personenbezogener Daten in Datenbanken zugespitzt hat. Angesichts von Millionen von Flüchtlingsschicksalen und befeuert durch Angela Merkels mutige Politik herrscht zur Zeit weitgehend die Devise „freie Fahrt den Flüchtlingen“ und jede Einschränkung durch Registrierung, Kanalisierung oder Beschränkung der Migrationsströme wird als Angriff auf elementare Menschenrechte gesehen. Die Erfassung von Flüchtlingen in Datenbanken hat damit schlechte Karten und wird unmittelbar mit Polizeigewalt und Vorverurteilung assoziiert.

Die Eurodac, an der Jonathan P. Aust schon im Mai 2006 kein gutes Haar gelassen hat, verliert durch das Scheitern der Schengengrenze im Migrationschaos fast zur Gänze ihre Existenzberechtigung - dabei halte ich ihre Konzeption im Hinblick auf die im Jahr 2002 festgelegten Ziele für gar nicht so schlecht. Es ging ja - zu einem Zeitpunkt, als das Hauptproblem nicht bei Kriegsflüchtlingen gesehen wurde, sondern bei einer Begrenzung illegaler Immigration – darum, legale von illegalen Immigranten unterscheiden zu können und das asylum shopping zu unterbinden. Dass man bei der Konzeption der Datenbank damals auf die Speicherung von Namen verzichtet hat, scheint mir ein Hinweis auf einen durchaus sensiblen Umgang mit persönlichen Daten zu sein, ebenso wie ein Versuch, den bürokratischen Aufwand niedrig zu halten. So wie die Datenbank konzipiert ist, trifft sie ausschließlich Personen, die entweder illegal eingewandert sind oder in mehreren EU-Staaten um Asyl ansuchen. Die Fingerabdrücke von Personen, die nicht gegen die Einreise- und Asylbestimmungen verstoßen, entfalten keinerlei Wirkung und können nicht für polizeiliches law enforcement außerhalb der Asyl- und Migrationsbestimmungen verwendet werden.

Dass ein Staat das Recht beansprucht, „asylum applicants deliberately concealing their identity“ (Zitat Aust, p 6) zu identifizieren und asylum shopping zu unterbinden, scheint mir nicht gegen irgendwelche Menschenrechte zu verstoßen. Personen, die keinerlei Ausweisdokumente mit sich führen, sind eben nicht anders in Datenbanken zu speichern als durch körperliche Merkmale, wie zum Beispiel die Fingerabdrücke. Insgesamt finde ich, dass Jonathan Aust die grundsätzlichen Probleme der Schengengrenze und ihrer Überwachung sehr treffend vorhergesehen hat – die Eurodac Datenbank hat aber an den aufgezeigten Problemen die geringste Schuld.




Zu khm100:

Es ist interessant, dass in der Diskussion um das Freihandelsabkommen (TTIP) der Abbau nationaler Regulierungen oft gerade als bedrohlich eingeschätzt wird. Das ergibt einen eigentümlichen "Kreisverkehr". Die EU ist maßgeblich aus wirtschaftlichen Gründen (Zollfreiheit, Erleichterung von Handelsschranken) eingerichtet worden. Für so ein Unternehmen muss es eine Außengrenze geben. Die EU vertritt aber auch Ideale, die prima vista nichts mit Wirtschaft zu tun haben. Dazu gehören die allgemeinen Menschenrechte und speziell das Asylrecht. Aus ihnen ergibt sich, dass die politischen Grenzen, innerhalb derer sich eine Handelsgemeinschaft etabliert, Externe unter bestimmten Bedingungen nicht ausschließen kann. Die ökonomisch-politische und die ethische Grundlage des "Projekts Europa" greifen ineinander und kommen in Konflikt.

An der Fussgängerinnenzone Mariahilferstraße kann man das Problem im Kleinen sehen.

khm100's Analyse ist zutreffend: ein Mittel zur Erfassung und staatlichen Steuerung Asylsuchender ist durch die Umstände zu einem unerwarteten Problem geworden. Dass dieses Mittel im Moment versagt, hängt an einem Notfall. (Am Anfang des Semesters sind viele Hörsäle "rettungslos" überfüllt.) Man sollte sich natürlich fragen, unter welchen Umständen es zu solchen kritischen Situationen kommt. Für Schengen und das Dublin-Abkommen ist zu sagen, dass die Aufhebung interner Mobilitätsbeschränkungen mit einer schweren Fehleinschätzung des Problems der neuen Außengrenzen verbunden war.

--anna (Diskussion) 08:10, 28. Okt. 2015 (CET)



Es ist mir selbst nicht recht geheuer, was ich nun sagen werde, aber ich möchte das bisher Vorgebrachte noch ein wenig zuspitzen.

Meiner Meinung nach gibt es (mindestens) zwei Arten eine Gesellschaft zu sehen: Entweder man sieht sie 1. als einen ungreifbaren Rahmen, der ein abstraktes Gebiet markiert, innerhalb dessen Grenzen Individuen agieren und dadurch “von oben” erfasst werden können (so wie z. B. der Zugang zum Internet es leichter macht, ein Individuum zu überwachen), oder 2. man sieht nur Individuen, die durch ihre Vernetzung so etwas wie die Gesellschaft erst erzeugen (so wie etwa der Besitz eines Bankkontos es leichter macht, einen Job zu finden, da fast alle Arbeitgeber mittlerweile bargeldlos die Löhne und Gehälter ausbezahlen). Vertritt man die erste Interpretation, dann ist es legitim, so wenig wie möglich mit den abstrakten Steuerungsmechanismen, die als dem Individuum äußerlich angenommen werden (z. B. staatliche Institutionen), in Kontakt zu kommen. Dann ist es legitim zu fordern, dass keine Fingerabdrücke abgenommen und gespeichert werden, da man dann diesem abstrakten Apparat unterstellt wird. Vertritt man die zweite Interpretation, dann stellt es eine grobe Reduktion dar, nur die Fingerabdrücke abzunehmen, ohne Aufmerksamkeit auf die mannigfaltigen Arten der Vernetzungen zu richten, denn dann sieht es so aus, als wenn diejenigen, die bloß auf ihre Fingerabdrücke reduziert werden, aus einer Gesellschaft ausgegrenzt werden, deren Vernetzungsgrad höher ist als jemals zuvor.

Da mir die erste Interpretation häufiger vorzukommen scheint als die zweite, möchte ich kurz darlegen, was ich damit meine, wenn ich sage, dass ausgegrenzt wird, wenn zu wenig Daten in Betracht gezogen und Beteiligte an der Gesellschaft damit auf ein nicht vertretbares Minimum reduziert werden.

Eine wichtige Pointe: Instinktiv haben kmh100 und ich die Restriktion auf Fingerabdrücke als positive Vorsichtsmaßnahme angesehen. Euphon dreht die Sache um. Es sei gerade eine Ausschlussstrategie! Die Deregulierung, die von Isolde Charim (siehe den obigen Link) als gemeinschaftsbildend beschrieben wird, ist ein neoliberales Prinzip. Das heißt: mit der Beschwerde gegen die Erfassung der Fingerabdrücke stellt man sich selbst ins Abseits einer vernetzten Gesellschaft. Das hatte ich in der vergangenen Sitzung als Wildweststrategie angesprochen. --anna (Diskussion) 13:13, 29. Okt. 2015 (CET)


Wird man von einer Polizistin aufgehalten, dann verlangt diese zuerst einen Ausweis. Die Übereinstimmung, die mein Ausweis mit mir hat beruht nicht allein auf einem Vergleich des Fotos mit meinem Gesicht. Es sind einige Institutionen notwendig, die den Bezug zwischen meinem Ausweis und mir erst erzeugen. Dazu gehört ein Meldeamt, ein Melderegister, vertrauenswürdige und ausgebildete Beamte, die die Meldung bearbeiten, Gerätschaften, die dafür sorgen, dass der Ausweis nicht leicht zu fälschen ist, wie z. B. eine Vorrichtung, die ein Wasserzeichen auf meinem Ausweis anbringt, die Unterschrift eines Beamten, der für die Richtigkeit der auf dem Ausweis aufscheinenden Daten verantwortlich zeichnet, usw. Es ist keineswegs so, dass mein Ausweis mich stellvertretend substituieren könnte, um als reduzierte Entität im institutionellen Apparat der Polizei besser verarbeitet werden zu können. Viel eher verursache ich, damit ich als registriert existieren kann, viel Aufwand und dadurch die Notwendigkeit von Vernetzungen. Gleichzeitig werde ich durch die Vorrichtungen, die ich durch meine ausweisbare Existenz nötig mache, geprägt und geformt. Ich muss einen Namen haben, eine Meldeadresse, einen Staatsbürgerschaftsnachweis, eine Geburtsurkunde, usw. Nun wird man von der Polizei nicht sonderlich oft aufgehalten, aber das Gesagte trifft auf alle möglichen Fälle zu, in denen ich in der Gesellschaft agieren will.

Mein Argument ist nun, dass, falls ich davon ausgehe, dass ich in einer Gesellschaft lebe, die erst durch die Individuen und ihr Tun konstruiert wird, und diese Gesellschaft in dem selben Maße mitbestimmt, wer ich bin, ich danach trachten muss, möglichst alle Vernetzungen, durch die ich die Gesellschaft mitkonstruiere und die mich formen, ersichtlich zu machen, damit ich die Möglichkeit habe, nicht ausgegrenzt so an der Gesellschaft zu partizipieren und sie in der Art mitzugestalten, dass ich gerne darin leben will und dass andere die Möglichkeit haben, ihre Interessen mit meinen abstimmen zu können und ich meine Interessen mit ihren abstimmen kann.

Das gleiche gilt meiner Meinung nach für Asylsuchende. Die Diskussionen, die momentan geführt werden, wären vor fünfzig Jahren in der Form nicht möglich gewesen, weil der Grad der Vernetzung damals noch nicht erreicht war, der heute in unserer westlichen Gesellschaft gang und gäbe ist. Anstatt nur als namenloser Fingerabdruck herumzulaufen, twittern Asylsuchende z. B. und haben eine Facebook-Seite, wodurch sie an den gesellschaftlichen Netzwerken der Länder, in denen sie leben möchten, teilhaben. Inklusion beginnt mit Information auf die oben dargestellte bidirektionale Weise; formen und geformt werden. Fingerabdrücke sind weit entfernt davon, die Möglichkeit der Mitgestaltung und des Mitgestaltetwerdens in Anspruch nehmen zu können, also plädiere ich für mehr Informationen, die in Datenbanken gespeichert werden sollen - ich fordere gläserne Menschen, deren Daten auf Vorrat gespeichert werden. Und wer schon gläsern ist, soll noch gläserner werden. Opazität bedeutet Ausgrenzung, das Unbekannte ist das “Fremde”, “Andere”, “Feindliche”. Das Gläserne ist das Inkludierbare, das Mitgestaltete und das Mitgestaltende.

Auf der einen Seite die Personen, die aus dem Eurodac gelöscht werden wollen. Auf der anderen die Bootsflüchtlichtlinge, deren Smartphone die GPS-Koordinaten sendet, auf denen sie allenfalls gerettet werden können. Die Löschforderung, das muss betont werden, gilt für den Fall, dass die Flüchtlinge nicht gesellschaftlich integriert werden. Aber Euphon beschreibt plastisch, wie umständlichr und zeitraubend dieser Prozess ist. In ihn sind Datenbanken eingebettet. --anna (Diskussion) 13:13, 29. Okt. 2015 (CET)

Ich muss selbst den Kopf schütteln, wenn ich das so sage, aber es erscheint mir logisch, auch wenn es mir nicht geheuer ist. Es geht mir wohl um eine Art Umdenken. Anstatt sich dagegen zu sträuben, dass wir komplett vernetzt sind, warum nicht endlich anerkennen, dass es so ist und das Beste daraus machen? Jeder hat ein Recht darauf, sichtbar für andere zu sein, weil er nur dann auf nachvollziehbare Weise die Gesellschaft mitbestimmen kann. Ein Recht darauf, unsichtbar zu sein, hat nur diejenige, die im Prozess des Vernetzens mit Beteiligten der Gesellschaft zu tun hat, welche die Offenheit in für die Partizipientin nicht zuträgliche Art und Weise ausnutzen. Verweigerung der Öffentlichkeit sollte also ein Notbehelf im Extremfall sein und nicht als Normalzustand gesehen werden.

Es ist mir klar, dass ich hier irgendwie böse Geister beschwöre. Aber lieber die Realität der Gesellschaft in all ihrer Vernetztheit erkennen und Gefahr laufen, etwas gegen Parasiten zu unternehmen zu müssen, welche die Möglichkeiten, die sich durch die Offenehit ergeben, ausnutzen wollen, als in einer Scheinwelt leben, in der die Vernetzheit verneint und an und für sich vernetzte Menschen auf weniger reduziert und damit aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden.

Euphon (Diskussion) 10:09, 29. Okt. 2015 (CET)