Frau Emmy v. N.

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Frau Emmy von N., die Freud ab dem 1. Mai 1889 behandelt, wird von ihm gleich zu Beginn seines Fallberichts als eine „Persönlichkeit“ bezeichnet, deren Leiden ihm „so viel Interesse einflößten, daß [er] ihr einen großen Teil [s]einer Zeit widmete und [sich] ihre Herstellung zur Aufgabe machte“ (Freud 1895, 66). Er beschließt, sie nach Breuerscher Anregung zu hypnotisieren, um sie dabei über ihre Vorgeschichte zu befragen. Ihre Erkrankung ist abgesehen von einem Stocken im Sprechen und Unruhebewegungen der Hände sowie tickartigen Zuckungen im Gesicht und an den Halsmuskeln durch folgendes Symptom gekennzeichnet: Sie bricht alle paar Minuten das Sprechen ab, zeigt eine verzerrtes, von Grauen gezeichnetes Gesicht und ruft Freud mit ängstlicher Stimme zu: „Seien Sie still – reden Sie nichts – rühren Sie mich nicht an! (ebd., 68).“ Freud vermutet, dass sie halluziniert. Sie ist, wie Freud anfügt, Witwe nach einem Großindustriellen, 13. Kind ihrer Eltern, Mutter zweier kränklicher Töchter, die 14 und 16 Jahre alt sind, ist viel gereist, hat zahlreiche lebhafte Interessen und einen Herrensitz an der Ostsee. Sie ist seit 14 Jahren erkrankt und nimmt Freuds Vorschlag, sich im Sanatorium in Wien aufnehmen zu lassen, damit er sie täglich zur Behandlung besuchen kann, sofort an.

Emmy v. N. klagt am ersten Tag über Kälteempfindungen. Freud ordnet einerseits warme Bäder an und beschließt andererseits, sie täglich am ganzen Körper zu massieren. Neben dieser direkten Einflussnahme auf die Patientin über ihren Körper beginnt er sogleich mit der Hypnose. „Sie ist ausgezeichnet zur Hypnose geeignet. Ich halte ihr einen Finger vor, rufe ihr zu: Schlafen Sie! Und sie sinkt mit dem Ausdrucke von Betäubung und Verworrenheit zurück. Ich suggeriere Schlaf, Besserung aller Symptome u. dgl., was sie mit geschlossenen Augen, aber unverkennbar gespannter Aufmerksamkeit anhört und wobei ihre Miene sich allmählich glättet und einen friedlichen Ausdruck annimmt. Nach dieser ersten Hypnose bleibt eine dunkle Erinnerung an meine Worte; schon nach der zweiten tritt vollkommener Somnambulismus (Amnesie) ein. Ich hatte ihr angekündigt, daß ich sie hypnotisieren würde, worauf sie ohne Widerstand einging. Sie ist noch nie hypnotisiert worden, ich darf aber annehmen, daß sie über Hypnose gelesen hat“ (ebd., 69).

Emmy v. N. erzählt Freud bei einem späteren Treffen von der Lektüre eines Zeitungsartikels über die Misshandlung eines Lehrbuben. Sie berichtet, dass dem gefesselten Lehrbuben eine weiße Maus in den Mund gesteckt worden sei, und er am Schreck gestorben sei. Emmy v. N. unterbricht ihre Erzählung, die von weiteren Ratten und Tieren in Paketen und im Bett handelt, mehrmals mit ihrem stereotypen Satz: „Seien Sie still, reden Sie nichts, rühren Sie mich nicht an!“ Freud hypnotisiert sie und liest in der Zeitung über die Misshandlung des Lehrbuben nach. In der Zeitung ist nicht von Tieren die Rede. Freud „verscheucht“ die Tiere unter Hypnose und Emmy v. N. kann sich am Abend nicht mehr an die weißen Mäuse erinnern. Unter Hypnose erfährt er von ihr, dass sie als Kind bisweilen ohnmächtig gewesen sei, wenn ihre Geschwister mit toten Tieren nach ihr geworfen hätten und später, als ihre Schwester tot im Sarg gelegen sei, als der Bruder sie als Leintuchgespenst erschreckte und als die Tante verstarb. Freud sieht in den traumatischen Erfahrungen den Grund ihrer Schreckhaftigkeit und verlegt sich nun darauf, die ihre Erinnerungsbilder zum Verlöschen zu bringen. Zur Unterstützung der suggestiven Rede streicht er ihr immer wieder über die verschlossenen Augen (ebd., 72). Auch einen Magenschmerz entfernt er durch Streichen über den Bauch (ebd., 73).

In den folgenden Hypnosen tauchen eine Reihe von grauslichen Erinnerungen auf, an eine Cousine, die ins Irrenhaus transportiert wird, an die Mutter, welche Emmy v. N. mit 14 Jahren tot aufgefunden hat, an einen Cousin, dem sämtliche Zähne auf einmal gezogen worden sind. Begleitet werden die Berichte von Schmerzen im Oberbauch, von Menstruationsbeschwerden und –unregelmäßigkeiten, auf die Freud in der Hypnose einzuwirken bestrebt ist. Er arbeitet mit jenen Mitteln, die wir heute in der Verhaltenstherapie von Phobien kennen. Er fordert die Patientin auf, sich zu erinnern, die Erinnerungen zu ertragen, gibt ihr den Auftrag, zu vergessen, erteilt ihr Lehren und massiert sie beständig. Ihre Symptomatik bessert sich, nachdem sie von einem Nadelkissen ihrer Kindheit erzählt, aus welchem einen Tag nachdem sie es geschenkt bekommen hat, Würmer hervorgekrochen sind, was sie sehr erschreckt hat. Und auch der Bericht über einen Spaziergang mit einem Mann im St. Petersburger Park, dessen Wege mit Kröten voll waren, sodass man umkehren musste, trägt zur Besserung bei.