Die Debatte in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (FiK)

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Dieser Teil unseres Projekts soll darstellen, wie das Thema der Willensfreiheit zu einer starken interdisziplinären Diskussionen führte. Beispielhaft dafür ist die Debatte in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie (Hefte 2004/2, 2004/6 und 2005/5), welche hier auszugsweise und in stark komprimierter Fassung präsentiert wird.

Zu Wort kommen:

Gerhard Roth
Direktor am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen
"Nicht das Ich, sondern das Gehirn hat entschieden!"
"Der freie Wille ist nur ein gutes Gefühl." Wolf Singer
Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt a.M.
Jürgen Habermas
deutscher Sozialphilosoph, war u. a. Professor für Philosophie in Frankfurt a.M.
"Der Handelnde ist dann frei, wenn er will, was er als Ergebnis seiner Überlegung für richtig hält."
"Wir tun also das Gleiche, was wir mit dem Gefühl des freien Wollens tun, auch im Bewusstsein der Tatsache, dass alles im Voraus feststeht." Ilan Samson
Mathematiker, zahlreiche Publikationen zum Thema Wissenschaft und Mathematik
Uwe Kasper
Physiker, lebt in Berlin
"Es könnte sein, dass eine immer intensivere Beobachtung des Gehirns eine raumzeitliche, kausale Beschreibung der Vorgänge unmöglich macht."
"Freies Handeln ist ein Verhalten, das durch geistige Eigenschaften physischer Dinge verursacht und damit determiniert ist." Wolfgang Detel
Professor am Institut für Philosophie in Frankfurt a.M.
Matthias Vogel
war u. a. Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie in Frankfurt a.M.
"Wir müssen daher ausschließen, dass die Rede von Entscheidungen des Gehirns so gerechtfertigt wird, dass es sich um Gehirne von Personen handelt, die Entscheidungen treffen."


Gerhard Roth: Worüber dürfen Hirnforscher reden - und in welcher Weise?

02/2004 Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 223-234

Zum Verhältnis von Philosophie und Neurobiologie

Der Neurobiologe Gerhard Roth behandelt in seinem Aufsatz das Grenzverhältnis zwischen Philosophie und kognitiven Neurowissenschaften. Insbesondere geht es ihm darum, was Hirnforscher legitimer Weise sagen dürfen, ohne (sprach)philosophische Probleme zu bekommen.

Für ihn stellt sich die philosophische Kritik anhand zweier Punkte dar:

  1. Der „Fundamentalvorwurf“, die Hirnforschung als experimentelle Naturwissenschaft dürfe und könne nichts über philosophische Probleme sagen. Dies gilt als unzulässige Grenzüberschreitung.
  2. Der zweite Kritikpunkt handelt vom „Vorwurf, dass Hirnforscher auf unzulässige Weise das Gehirn zum Subjekt geistiger oder emotionaler Zustände macht.“ Dies wäre ein klassischer Kategorienfehler.

Für Roth stellen diese Einwürfe eine berechtigte Kritik dar, da er auch zugibt, dass die Hirnforschung als relativ junge Wissenschaft noch keine Zeit hatte, eine „grundlegende Methoden- und Begriffskritik“ durchzuführen.

Unproblematische Aussagen

Daher stellt sich für ihn die Frage, inwiefern die Sprache der Hirnforschung unproblematisch sei. Operiert sie rein auf der Ebene von Nervenzellen (z. B. Membranen, Ionenkanälen) oder spricht sie nur von Gehirnzentren bzw. dem ganzen Gehirn, ohne Kontakte zu geistig-psychischen Funktionen zu schließen, so ist dies unproblematisch. Roth nennt das einen selbstbeschränkenden bzw. agnostischen Ansatz. Auf dieser Ebene blieb die Hirnforschung aber selten – zeigten sich doch schon früh die Zusammenhänge zwischen Gehirn und perzeptiven, kognitiven, emotionalen oder motorischen Leistungen. So führt er auch die Erkenntnisse von Paul Broca an, welcher als Erster die Beobachtung gemacht hatte, „dass die Zerstörung in einem Bereich des linken Stirnlappen zu einer typischen Beeinträchtigung des Sprachvermögens führt“ – bekannt als „Broca-Aphasie“. Roth führt dann auch noch weitere Beispiele an für den Zusammenhang von Psyche und Neurophysiologie (visuelle Agnosie oder dass „Verletzungen im Bereich des Mandelkerns zu Gefühlsarmut bzw. Unfähigkeit, bedrohliche Geschehnisse zu erkennen“ führen). Roth stellt dabei klar, dass kompetente Neurobiologen niemals sagen würden, „die Sprache sitze im Broca-Areal“ oder „die Furcht sitze in der Amygdala“ , sondern, dass „sich im Broca-Areal Netzwerke befinden, die für das Beherrschen von Syntax und Grammatik der menschlichen Sprache unabdingbar sind".

Für Roth sind daher z. B. folgende Aussagen vollkommen unproblematisch: „Eine Verletzung im Bereich des Hippocampus führt dazu, dass ein Patient keine neuen Wissensinhalte mehr lernen kann“ oder „Eine Zerstörung des unteren Stirnhirns führt dazu, dass besonnene und friedliebende Menschen zu rücksichtslosen, unmoralischen Personen werden“. Auch ist es für moderne Hirnforschung möglich, mittels MEG, EEG und fMRI zu „untersuchen, was im Gehirn passiert, bevor eine Versuchsperson ein bestimmtes Wahrnehmungserlebnis hat“. Die Ergebnisse der Experimente zeigen für Roth, dass dem bewussten Erleben notwendig und offenbar auch hinreichend unbewusste neuronale Geschehnisse vorangehen. Interaktionistisch-dualistische Erklärungsmodelle verlieren daher zwangläufig ihren Anspruch, da die Abhängigkeit des Geistes vom Gehirn evident scheint. Von einer Autonomie des Geistes lässt sich nicht mehr sprechen.

Problematische Aussagen

Wann erreicht man nach Roth eine sprachlich problematische Ebene? Dann, wenn man nach der Funktion des Erlebniszustandes selbst fragt. Denn wenn neuronale Prozesse dem bewussten Willen vorangehen, stellt sich die Frage, welche Rolle der bewusste Entschluss bei dem gesamten Vorgang spielt. Nach einer alltagspsychologischen und klassisch-philosophischen Erklärung wird der physische Akt deshalb vollzogen, weil ich es will. Da dies aber nicht geht, da der bewusste Wille neuronal determiniert ist, kann er 1. nur ein Epiphänomen sein, ohne kausale Wirkung, oder 2. dient er nur einer Selbstzuschreibung der Handlung. In beiden Fällen ist es aber scheinbar legitim zu sagen „Nicht mein bewusster Willensakt, sondern mein Gehirn hat entschieden.“ Der Radikalität solch einer Aussage ist sich Roth bewusst, verändert sie doch unser Menschenbild. Zur Überprüfung der These, dass es ein Verhältnis von bestimmten Hirnzuständen und bestimmten Handlungsweisen gibt, bringt Roth mehrere experimentelle Zugänge bzw. Fragestellungen:

  • Folgen auf bestimmte Hirnzustände immer bestimmte Handlungsweisen oder zeigen sich unerklärliche Abweichungen?
  • Bringen transkranielle Magnetsimulationen, Hypnosen u. Ä. Personen dazu, etwas zu tun, das sie dann als von ihnen gewollt bezeichnen?

All die zahlreichen Experimente, die bisher durchgeführt worden sind, bestätigen für Roth die Annahme, „dass innerhalb [cortical] und außerhalb der Großhirnrinde [subcortical (…)] unbewusst ablaufende Prozesse in der Großhirnrinde zu handlungsvorbereitenden Prozessen führen, die ihrerseits das Gefühl ‚ich will das jetzt tun!’ hervorbringen, und dass auf bestimmte corticale Erregungsmuster [das lateralisierte Bereitschaftspotenzial] immer bestimmte Bewegungen folgen“. Zwischen dem Gefühl, etwas zu wollen, und der tatsächlich ausgeführten Handlung besteht demnach keine verursachende Beziehung. Auch zeigen Studien, dass oft Handlungsintentionen bzw. Handlungszuschreibungen erst nachträglich angepasst werden.

Mögliche Denk- und Sprachverbote sind daher unzulässig. Hirnforscher dürfen, sie müssen sogar aufgrund der empirischen Ergebnisse Kommentare zur Willensfreiheit abgeben. Die Frage ist nur, wie sie dies am besten tun sollen. Für Roth ist der Satz „Nicht das Ich, sondern das Gehirn hat entschieden!“ korrekt, denn das Treffen von Entscheidungen ist objektiv überprüfbar, wenngleich experimentell aufwändig.

Oben getätigte Thesen sind nur gültig, wenn sie experimentell bestätigt worden sind. Daher fallen intentionale Zustände wie glauben, lieben oder fühlen zunächst weg, da bisher klare Ergebnisse fehlen (auch wenn es starke Hinweise für eine neuronale Determiniertheit gibt).

Kann man nun den subjektiven Erlebniszustand durch eine neuronale Beschreibung komplett ersetzen, wie dies im eliminativen Materialismus getan wird? Lässt sich also sagen, dass Liebe „nichts anderes [ist] als die Ausschüttung der und der Stoffe in den und den Teilen des Gehirns?“ Ist es zulässig, den qualitativen Zustand vollständig zu streichen? Nach Roth ist solch eine Position problematisch. Für ihn ist ein reduktionistischer Ansatz dann gerechtfertigt, wenn „ich allein aus der Kenntnis der anatomisch-physiologischen Bedingungen ein bestimmtes Phänomen voraussagen oder zumindest in seinen wesentlichen Zügen erklären kann“. Es ist also für Roth durchaus möglich, aufgrund neurobiologischer Erkenntnisse zu folgern, dass es „innere Zustände“ geben muss, welche von „außen“ nicht erfassbar wären. Aber ich könnte nichts darüber aussagen, „wie sich diese ‚inneren Zustände’ anfühlen“. Roth spricht damit das Qualia-Problem an.

Zugleich betont er aber, dass es für Hirnforscher nicht notwendig ist, zu wissen, wie sich ein „innerer Zustand“ anfühlt, für sie gibt es keine Erklärungslücke. Es genügt nach Roth, folgende drei Punkte zu wissen:

  • „Es gibt im Gehirn ‚innere Zustände’, die extern nicht zugänglich sind“
  • „[D]iese ‚inneren Zustände’ sind unabdingbar an extern zugängliche Hirnzustände gebunden“
  • „[D]iese von ‚inneren Zuständen’ begleitenden Hirnzustände haben andere Wirkungen […] als diejenigen, die nicht von solchen ‚inneren Zuständen’ begleitet werden.“

Zulässig ist es also zu sagen, dass es bestimmte Gehirnprozesse gibt, die verlässlich dazu führen, dass die Person bestimmte Empfindungen hat. Unter folgenden Voraussetzungen ist es nach Roth daher legitim zu sagen, dass das Gehirn Entscheidungen trifft und das der freie Wille eine Illusion ist:

  • Es müssen messbare, d.h. beobachtbare und wiederholbare Prozesse aus der 3. Person-Perspektive vorliegen, sie müssen also objektivierbar sein.
  • Willensentscheidungen sind nicht nur ein Gefühl, sondern „ein bestimmtes beobachtbares Verhalten“.

Mögliche Kategorienfehler - Gründe und Ursachen

Zum Schluss behandelt Roth noch den Einwand des vermeintlichen Kategorienfehlers, d. h. die Vermischung von Gründen und Ursachen. Für einen Dualisten ist es nach Roth unproblematisch zu sagen, dass Menschen nach Gründen handeln und Gehirne auf Ursachen reagieren, aber sobald man „davon ausgeht, dass alles Mentale strikt an neuronale Prozesse gebunden ist“, ist diese Position nicht mehr haltbar. Die einzige Möglichkeit wäre, anzunehmen, dass mentale Gründe als nicht-neuronales Geschehen aus dem neuronalen Geschehen „emergieren“ – dieser „emergente Dualismus“ hätte nach Roth aber dieselben Schwierigkeiten wie der interaktive Dualismus.

Er bietet zwei Lösungsvorschläge an:

  1. Gründe sind die „bewusste Erlebnisform“, der „innere Aspekt“; Ursachen sind der „äußere neurophysiologische“ Aspekt, beobachtbar von einem Dritten.
  2. Gründe dienen als Erklärungsweise für eigene Handlungen, weil wir scheinbar stets in einem Erklärungs- und Legitimationszwang unseres Handelns stehen. „Wir handeln aus Ursachen, aber wir erklären dieses Handeln mit Gründen.“

Wolf Singer: Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbestimmung. Zwei konfliktträchtige Erkenntnisquellen

02/2004 Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 235-255

Ein epistemisches Caveat

Beschäftigen wir uns mit dem Geist, dem freien Willen und anderen mentalen „Gehalten“, dann verfügen wir über zwei verschiedene Zugangsweisen: Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbeschreibung. Für Singer scheint es zunächst problematisch, überhaupt Aussagen über kognitive Leistungen zu machen, da eine „Zirkularität des Unterfangens“ besteht. Das Gehirn versucht sich mit seinen eigenen Fähigkeiten selbst zu begreifen. Aber unser Gehirn ist höchst selektiv, „was für unsere kognitiven Systeme unfassbar ist, existiert nicht für uns.“ Wir sind auf unser neuronales System angewiesen und zugleich darauf beschränkt. Und weil unser kognitives System ein Produkt der Evolution ist, unterliegt es eben den evolutionären Prozessen: „Im Wettbewerb um Überleben und Reproduktion kam es vorwiegend darauf an, aus der Fülle im Prinzip verfügbarer Informationen nur jene aufzunehmen und zu verarbeiten, die für die Bedürfnisse des jeweiligen Organismus bedeutsam sind.“ Das Gehirn operiert also selektiv, und besteht keine Kohärenz, so konstruiert es eine: Fehlendes wird ergänzt und Widersprüche ignoriert. Objektivität ist kein Anspruch unseres Gehirns. In der Konstruktion greift es auf zwei Quellen des Wissens zurück: evolutionär erworbenes Wissen, gespeichert im Genom, und individuell erworbenes Wissen durch Erfahrung. Daher bleibt die Sorge aufrecht und berechtigt, dass Denken auch nicht verlässlicher sei als unsere Wahrnehmung. Diese kritischen Bemerkungen gilt es für Singer immer im Hinterkopf zu behalten, v. a. wenn wir es mit dem Phänomenbereich des Geistigen zu tun haben.

Konstituierung des Ichs

Im Alltag erleben wir uns als kohärentes Selbst in Form einer Ich-Zuschreibung. Die verschiedenen Gefühle besitze ich, gibt es mich nicht, so gibt es auch keine Gefühle, die erfahren werden können. Auch fühle ich mich frei, treffe freie und bewusste Entscheidungen, begreife geistige, seelische Phänomene als immateriell, überhaupt fühle ich mich selbst als ein beseeltes Wesen, zugleich jedoch auch mit der materiellen Welt verbunden und ihr zugehörig. Wir können die Welt untersuchen und feststellen, wie sie funktioniert, und erklären sie mit den deterministischen Prozessen der Natur. Auch Verhalten können wir naturwissenschaftlich erklären, „wir haben kein Problem mit der Einsicht, dass tierisches Verhalten vollkommen determiniert ist“.

Nur uns selbst nehmen wir davon aus, wir sehen uns von der dinglichen Welt verschieden – ontologisch verschieden. „Wir empfinden unser Ich den körperlichen Prozessen gewissermaßen gegenübergestellt.“ Zweifelsohne spielt das Gehirn eine Rolle, aber nur als Mittel zum Zweck. Das wahrnehmende, entscheidende und wertende Ich bedient sich der neuronalen Systeme, „um Informationen über die Welt zu gewinnen und Beschlüsse in Taten umzusetzen“. Wir haben das Gefühl, dass wir es selbst sind, die diese Prozesse kontrollieren.

Für Singer sind diese Annahmen – aufgrund der deterministischen Gesetze - problematisch. Die Differenz zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdbeschreibung ist im Laufe der Geschichte immer problematischer geworden, insbesondere in heutiger Zeit durch die Erkenntnisse der Neurowissenschaften. So gibt es immer stärkere Hinweise dafür, „dass menschliche und tierische Gehirne sich fast nicht unterscheiden, dass ihre Entwicklung, ihr Aufbau und ihre Funktionen den gleichen Prinzipien gehorchen“.

Den cartesianischen Dualismus verwirft Singer, da er mit den heutigen naturwissenschaftlichen Theorien nicht vereinbar ist und nur geglaubt, aber nicht abgeleitet werden kann. Auch den Panpsychismus, also die Annahme, dass alles beseelt ist, führt für ihn nur in zahlreiche Konflikte und ist daher nicht sonderlich dienlich. Die Schwierigkeiten der mentalen Verursachung zeigen für Singer, wie problematisch dualistische Erklärungsmodelle sind. Denn „Wechselwirkungen mit Materiellem erfordern den Austausch von Energie“. Ist das Geistige immateriell, stellt sich die Frage, wie es neuronale Prozesse beeinflussen kann. Dafür benötigt der Geist Energie, wäre aber somit nicht mehr immateriell.

Eine mögliche Genese des Mentalen

Was also sind mentale Phänomene? Und vor allem: Wie kommen mentale Phänomene überhaupt in die Welt? Singer untersucht die Möglichkeit einer evolutionären Erklärung. Er stellt zunächst fest, dass Evolutionsprozesse äußerst konservativ sind und dass die Gehirnentwicklung „von erstaunlicher Monotonie gekennzeichnet“ ist. So funktionieren die Nervenzellen von Schnecken nach denselben Prinzipien wie die Nervenzellen der Großhirnrinde des Menschen. Die Gehirne werden zwar größer, aber die Struktur blieb nahezu gleich. Einzig die quantitative Ausdifferenzierung der Großhirnrinde zeigt einen Unterschied. Es lässt sich daher zunächst plausibel argumentieren, dass das Mentale nur auf einer quantitativen Vermehrung einer bestimmten Hirnstruktur beruht. Und sieht man sich die komplexen neuronalen Verschaltungen genau an, so sieht man, dass die Hirnrinde sich vorwiegend mit sich selbst beschäftigt.

Dies führt direkt in den Bereich der Metapräsentation. „Reflektieren wir unsere primären kognitiven Leistungen, dann sind unsere eigenen Wahrnehmungsprozesse der Gegenstand dieser Reflexion." Wie aber werden Phänomene überhaupt bewusst? Nach Singer gilt, „dass Inhalte dann bewusst werden, wenn sie mit selektiver Aufmerksamkeit bedacht werden. Nur dann können sie im episodischen Gedächtnis gespeichert und später wieder einer bewussten Reflexion unterzogen werden. Dadurch scheint es zumindest erklärbar zu sein, wie Kognition zum Gegenstand von Kognition werden kann. Aber es beantwortet nicht die Frage, „’wer’ sich letztendlich diese Metaprozesse ‚anschaut’“. Das Ich fehlt sozusagen – eine voreilige Antwort wäre es, einfach anzunehmen, es müsse ein Zentrum im Gehirn geben, welches alles entscheidet und wo das Ich gebildet wird. Nach den bisherigen Studien zeigt sich aber, dass diese Annahme falsch ist. Das Hirn ist vielmehr „ein hochvernetzte[s] distributiv organisiertes System“, in dem eine „riesige Zahl von Operationen gleichzeitig“ abläuft. Wenn also das Gehirn so dezentral organisiert ist, stellt sich die Frage, wie überhaupt ein kohärentes Bewusstsein entstehen kann, dieses Problem wird auch Bindungsproblem genannt.

Singers eigener Ansatz zu Erklärung dieses Problems baut auf der Annahme auf, „dass die zur Bindung verteilter Aktivitäten erforderliche Koordination über die Definition präziser zeitlicher Relationen zwischen neuronalen Antworten verwirklicht wird." Dies heißt also nichts anderes, als dass „das Gehirn die zeitliche Dimension als Kodierungsraum nutzt und präzise zeitliche Synchronisation als Code für die Zusammengehörigkeit neuronaler Antworten verwendet“. Ein neuronales Korrelat einer Wahrnehmung oder einer Entscheidung wäre dann nichts anderes als ein “komplexes raum-zeitliches Muster synchron aktiver Nervenzellen, das sich über hinreichend lange Zeit stabilisiert, um verhaltensrelevant zu werden oder sogar bewusst zu werden“. Im Entscheidungswettkampf setzt sich das Erregungsmuster durch, „das den verschiedenen Attraktoren am besten entspricht“ – dies passiert alles ohne „übergeordneten Schiedsrichter“. Damit lässt sich nach Singer zumindest das grundlegende Prinzip verstehen, wie dynamische neuronale Zustände in Verhaltensreaktionen umgesetzt werden. Offen bleibt aber, wie sich aus diesem System ein Ich bilden kann, welches sich als freies und autonomes Wesen begreift. Singer präsentiert im Folgenden seinen hypothetischen Vorschlag: Das Selbstmodell als soziales Konstrukt.

Bewusstes und Unbewusstes

Zunächst lässt sich feststellen, dass nicht alle Vorgänge im Gehirn bewusst werden. Im Gegenteil, „nur ein kleiner Ausschnitt“ aus dem „kontinuierlichen Strom der Sinnessignale“ wird uns bewusst. Aus dieser Parallelität von "bewussten und unbewussten Handlungsdeterminationen“ ist es daher verständlich, dass wir nur den bewussten Gründen Relevanz zuschreiben und uns so als freies autonomes Wesen begreifen. Weil unbewusste Motive eben per definitionem unbewusst sind, ergibt sich kein Widerspruch zwischen unseren Entscheidungen und dem Gefühl, wir wären frei.

Ein weiterer Punkt behandelt die frühkindliche Prägung. Wir erfahren schon als Kleinkinder eine „Zuschreibung von Autonomie und Freiheit“. Durch elterliches Bestrafen und Mahnen entsteht der Eindruck des Anders-Könnens, diese Zuschreibung internalisieren wir mit der Zeit und begreifen es als selbstverständlich. Die sozialen Beziehungen, die zur Ich-Konstituierung führen, beginnen sehr früh. Da Kleinkinder „noch kaum über deklaratives Gedächtnis verfügen […]“, können sie sich nicht an diesen Lernprozess erinnern. Und weil uns diese Zuschreibungen nie als erlernt erscheinen, gelten sie für uns als absolut. Nach Singer sind frühe Prägungen im Gehirn fast so nachhaltig wie genetische Faktoren.

Freie Entscheidungen sind für uns scheinbar Entscheidungen, die durch “rationale Verhandlung von bewusstseinsfähigen Inhalten“ konstituiert worden sind. Bewusste Motive müssen aber nicht die tatsächlich Entscheidungen sein, oft erleben Menschen Konflikte im Abwägungsprozess von Argumenten: Manche Entscheidungen werden mit einem unwohlen Gefühl getroffen, so als ob es noch andere Kräfte gäbe. Auch gibt es Handlungen, die wir nicht selbst gewollt haben, aber nachträglich einen Akt des Wollens zuschreiben. Für Singer folgt daher, dass das Gehirn offensichtlich „Kongruenz zwischen dem im Bewusstsein vorhanden Argumenten und den aktuellen Handlungen bzw. Entscheidungen [herstellt].“ Und sollten nicht die passenden Argumente vorhanden sein, so „werden sie um der Kohärenz willen ad hoc erfunden.“

Jürgen Habermas: Freiheit und Determinismus

06/2004 Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 871-890

Einstieg

Ein Reduktionismus, in dem mentale Verursachung als Schein und unser Freiheitsbewusstsein als Illusion erklärt wird, ist unvereinbar „mit dem alltäglichen Selbstverständnis handelnder Subjekte“. Wir kommen nicht umhin, uns gegenseitig eine verantwortliche Urheberschaft zuzuschreiben. Neuronale Determination kann dieses Selbstverständnis nicht in Frage stellen, eine naturalisierte Sprache des Mentalen besitzt keinen Anschluss an die Sprache der Alltagspsychologie. Das ist die Ausgangsproblematik bei Habermas, eine kritische Haltung zu gewissen naturalistischen Denkweisen und Interpretationen. Sein Anliegen ist es aber nicht, den Naturalismus komplett zu widerlegen, sondern er versucht vielmehr, einer „richtige[n] Weise der Naturalisierung des Geistes“ gerecht zu werden. Er vertritt einen nicht-szientistischen bzw. weichen Naturalismus. „Nach dieser Auffassung ist alles und das ‚real’, was in wahren Aussagen dargestellt werden kann. Aber die Realität erschöpft sich nicht in der Gesamtheit der regional beschränkten Aussagen, die nach heutigen Standards als wahre erfahrungswissenschaftliche Aussagen zählen.“

Libet

Zunächst setzt sich Habermas mit den bekannten Libet-Experimenten auseinander. Er führt u. a. folgende Kritikpunkte an: Die Versuchsanordnung ist auf willkürliche Körperbewegungen zugeschnitten, wobei der Zeitraum zwischen Absicht und Ausführung sehr kurz ist und sich daher die Frage stellt, ob daraus generalisierte Aussagen getroffen werden dürfen. Auch ist die Möglichkeit offen, dass die Probanden in der Auseinandersetzung mit diesem Experiment sich „bereits auf den Handlungsplan konzentriert haben, bevor sie sich zur Ausführung der aktuellen Handlung entschließen“. Dies würde aber dann nur die Planungsphase widerspiegeln. Ganz allgemein ist für Habermas die künstliche Situation der Experimente problematisch, denn im alltäglichen Leben ist eine Handlung das „Ergebnis einer komplexen Verkettung von Intentionen und Überlegungen“, im Labor hingegen werden diese Prozesse zeitlich zusammengestaut, wo dann nur „Artefakte“ erfasst werden können, „denen genau das fehlt, das Handlungen implizit erst zu freien Handlungen macht: der interne Zusammenhang mit Gründen“. Erst mit diesem Spielraum der Alternativen können wir überhaupt erst sinnvoll von freien Entscheidungen sprechen. Ein Wille beruht auf Überlegungen (die Willensbildung selbst ist bewusst und unbewusst), erst mit bewussten Überlegungen begreifen wir uns als frei. „Der Handelnde ist dann frei, wenn er will, was er als Ergebnis seiner Überlegung für richtig hält.“ Gerade dadurch fühlt er sich frei, hätte er nicht die Fähigkeit der bewussten, rationalen Entscheidungen, er würde sich seiner „Initiative beraubt fühlen“. Es ist meine Ansicht, die ich habe und aus der ich Entscheidungen treffe (in diesem Sinne ist Freiheit notwendig bedingt), „die Determination meiner Entscheidung durch ein neuronales Geschehen“ wirkt verstörend, da nicht mehr das Ich bei den Entscheidungen dabei war, es ist nicht mehr meine Entscheidung. Nach Habermas kann nur „dieser unbemerkte Perspektivenwechsel von der Teilnehmer- zur Beobachterperspektive […] den Eindruck hervorrufen, dass die Handlungsmotivation durch verständliche Gründe eine Brücke zur Handlungsdetermination durch beobachtbare Ursachen baut“. Solch ein Konzept widerspricht einem ontologischen Monismus, wo Gründe und Handlungen nur zwei Aspekte derselben Sache sind.

Handlungsgründe und Kausalerklärungen

Aber rationale Handlungsgründe dienen nicht als bedingende Kausalerklärungen, da sie die Bindung an den Willen des Aktors voraussetzen – dieser muss sich sozusagen bestimmen lassen. Und daher ist die Aussage, dass „S aus einem Grund G die Handlung H ausführt“, nicht gleichbedeutend mit der Aussage, „dass G die Handlung H verursacht hat“. Nur die Angabe von Handlungsmotiven erklärt noch nicht ihre Prognose, es bedarf einer aktiven Initiative des Handelnden, er wird „zum Urheber“. Er muss nicht nur überzeugt sein, sondern die Handlung auch selbst ausführen. Das kann er deswegen, weil er einen Körper hat, mit dem er sich identifiziert, bestimmen kann er sich daher (ohne Freiheitsverlust), weil „er seine subjektive Natur als Quelle des Könnens erfährt“. Handlungsfreiheit ist dadurch nicht nur (durch Gründe) bedingte, sondern auch „naturbedingte Freiheit“.

In reduktionistischen Programmen stehen nach Habermas die Gründe nur auf einer schwachen Position, ohne Bedeutung, da sie nicht in das strenge Bild von Kausalerklärungen passen. Ihre Rolle ist darauf beschränkt, im Nachhinein die unbewusst ablaufenden Prozesse rational zu erklären, sie dienen also nur einer Rechtfertigung unserer Handlungen gegenüber Anderen (bzw. uns selbst). Warum aber hat sich im Laufe der Evolution überhaupt so ein Luxus entwickelt, wenn Gründe nicht verhaltensrelevant sind? Als Epiphänomen bliebe von den hohen Ansprüchen unseres Selbstverständnisses nicht mehr viel übrig, Gründe sind demnach überflüssig, aber Habermas argumentiert mit Searle, dass „[d]ie Prozesse der bewussten Rationalität […] ein so wichtiger Teil unseres Lebens [sind], daß es sich damit so anders verhielte als alles, was wir von der Evolution wissen, wenn ein Phänotyp dieser Größenordnung überhaupt keine funktionale Rolle im Leben und für das Überleben des Organismus spielen würde“. Ein Reduktionismus, der die Kraft der (mentalen) Intervention bestreitet, ist nach Habermas nicht weniger dogmatisch als ein Idealismus, der in allem das Geistige sieht.

Perspektivendualismus

Anhand dieser Überlegungen gewinnt ein Perspektivendualismus an Attraktivität, aber ein epistemischer Dualismus darf nicht „vom transzendentalen Himmel“ gefallen sein, er muss „aus einem evolutionären Lernprozess hervorgegangen sein und sich in der kognitiven Auseinandersetzung von homo sapiens mit den Herausforderungen einer riskanten Umwelt schon bewährt haben“. In einem derartigen Dualismus ist es nicht möglich, die verschiedenen Sprachspiele und Erklärungsmuster aufeinander zu reduzieren. Eine jede Reduzierung mentalistischer Sprache hinterlässt einen „semantischen Rest“. Ob Materialismus oder Funktionalismus, sie scheitern, weil sie entweder in ihren Erklärungen selbst wieder mentalistisches Vokabular verwenden oder ihre Übersetzungen unzulänglich sind und wichtige Inhalte „verfehlen“. Für Habermas ist dieses Resultat nicht verwunderlich, wissen wir doch schon seit Frege und Husserl, dass „sich propositionale Gehalte oder intentionale Gegenstände nicht im Bezugsrahmen kausal wirksamer, raumzeitlich datierbarer Ereignisse und Zustände individuieren lassen“.

Vielleicht, so Habermas, ist es notwendig, dass wir aus beiden Perspektiven die Welt gleichzeitig beobachten müssen, um sie zu verstehen. Es bedarf einer Verschränkung empirischer Beobachtungssprache und subjektiver, vergesellschaftlichter Erlebnissprache. „Wir sind Beobachter und Kommunikationsteilnehmer in einer Person.“ Die dritte Person entsteht erst in der Kommunikation, und mithilfe der Intersubjektivität entwickelt sich überhaupt erst die Überprüfbarkeit einer Objektivität der Natur. „In der komplementären Verschränkung von Teilnehmer- und Beobachterperspektive wurzeln nicht nur die soziale Kognition und die Entwicklung des moralischen Bewusstseins, sondern auch die kognitive Verarbeitung von Erfahrungen […].“ Der Mensch ist von Geburt an von sozialer Interaktion abhängig, die „soziale Existenz“ wirkt sich im hohen Ausmaß auf Kognition aus – Kognition und Lernen sind vergesellschaftlicht. Die Fähigkeit, auch im Anderen ein intentional handelndes Wesen zu sehen, ermöglicht die kulturelle Entwicklung. Die Auseinandersetzung mit der physischen Umgebung ist „abhängig vom kognitiven Umgang miteinander“. „Sozialisierte Gehirne“ sind so sozusagen abgekoppelt vom genetischen Mechanismus des Natürlichen. Das Ich lässt sich zwar als soziale Konstruktion verstehen, aber „deshalb ist noch keine Illusion“, wie Habermas meint, denn erst im Ich-Bewusstsein „reflektiert sich gleichsam der Anschluss des individuellen Gehirns an kulturelle Programme, die sich nur über gesellschaftliche Kommunikation […] reproduzieren“. Im öffentlichen Raum der Gründe erhält das Individuum Geltungsansprüche, muss zu diesen Stellungen beziehen und wird so ein verantwortlicher, d. h. freier Aktor.

Ilan Samson: Freier (?) Wille

05/2005 Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 735-742

Ein scheinbarer Widerspruch

Samson beginnt seinen Artikel gleich zu Beginn mit der Diskrepanz zwischen dem Gefühl der allgegenwärtigen, determinierenden Kausalität und dem Gefühl der Willensfreiheit. Beides scheint einfach nicht zusammenzupassen (was er auch als „contrarational“, also widersprüchlich bezeichnet). Als Wille definiert Samson dasjenige, „was dazu führt, dass wir uns bewusst für eine Handlung entscheiden“ - was ein mentaler Prozess ist. Dieser ist nicht bedingungslos und daher stellt sich in der Debatte nicht die Frage seiner Existenz, sondern seiner möglichen Freiheit. Zunächst scheint es so, als ob der Wille sich nicht von anderem mentalen „Erleben“ unterscheidet (wie z. B. dem Rot sehen), in der praktischen Konsequenz jedoch unterscheiden sie sich sehr wohl: die Illusion der Willensfreiheit ist wesentlich schwerer zu ertragen als eine Illusion des Rotsehens. Samsons Anliegen ist es aufzuzeigen, dass dies gar nicht der Fall ist.

Er versucht also nicht, eine weitere Vermittlung von Kausalität und Willensfreiheit zu entwickeln, sondern bietet einen Lösungsvorschlag an, mit dem er zeigen will, dass der vermeintliche Widerspruch „wirkungslos“ ist.

„Es gibt drei Bereiche, in denen der Widerspruch zwischen Willensfreiheit und Determinismus von Bedeutung sein könnte:

  1. Der Konflikt zwischen den Begriffen selbst
  2. Die Konsequenzen für unsere Einstellung zu zukünftigen Handlungen
  3. die Betrachtung im Nachhinein, besonders wenn es um Verantwortlichkeit geht

Ich möchte nun für diese Bereiche zeigen, dass der Widerspruch zwischen Willensfreiheit und Determinismus nicht von Bedeutung ist.“

Der Konflikt selbst

"Eine Weise, wie der Konflikt zwischen Determinismus und Willensfreiheit eine äußerst große und beunruhigende Bedeutung erlangen könnte, wäre, wenn es uns gelänge, den Determinismus dafür einzusetzen, Entscheidungen vorauszusagen oder vorauszuberechnen, und dann zu entdecken, dass noch so viel ‚freies Wollen’ in der Zwischenzeit nie ein anderes Ergebnis bewirkt hat. Wir werden zeigen, dass dies nicht geschehen kann. [...] Aus Unschärfe bzw. Unvorhersagbarkeit folgt jedoch keine Nicht-Kausalität. Unschärfe bedeutet nicht, dass es keinen Grund gibt, warum das Ereignis eintritt oder nicht. Alles hat eine Ursache, es ist bloß so, dass wir sie nicht kennen, bzw. nicht dazu in der Lage sind, aus ihr den Endzustand zu berechnen, bevor er eintritt. [...]“

Ist uns der Endzustand nicht bekannt, bezeichnen wir ihn als Zufälligkeit, „aber diese Zufälligkeit ist nur eine scheinbare“ denn alles geschieht „durch eine Abfolge von ganz bestimmten physikalischen Ursachen“. Wir sind allerdings nicht in der Lage, das Ergebnis vorherzusagen bzw. zu berechnen, weil zu viele Faktoren eine Rolle spielen und „die Vorhersage des Ergebnisses dieser Faktoren in bestimmten Situationen davon abhängt, dass ihre 'Anfangszustände' mit einem Grad an Genauigkeit bekannt sind, der in der Praxis unmöglich zu erreichen ist“.

Hier spricht Samson das an, was wir mit „Chaos“ bezeichnen: Ein Vorgang, der möglichst exakt wiederholt werden soll, bei dem ein möglichst ähnlicher Anfangszustand wiederhergestellt werden soll, um ein möglichst ähnliches Ergebnis zu erhalten, führt zu einem vollkommen anderen Ergebnis. „Es gibt keine Wunder: Hätten wir den Durchlauf mit genau dem gleichen Anfangszustand wiederholt, erhielten wir in der Tat wieder das gleiche Ergebnis. [...] Da es natürlich in der Praxis unmöglich ist, den Anfangspunkt mit unendlicher Genauigkeit zu messen und festzuhalten, gibt es also keinen Weg, den Endzustand solcher ‚chaotischen’ Prozesse zuverlässig vorherzusagen.“

„Wir [brauchen] auch dann, wenn die Dinge für immer ungewiss und unvorhersagbar sein mögen, keinen Mystizismus, um zu erklären, warum sie sich uns entziehen. Situationen ergeben sich auf eine vollkommen kausale Art und Weise. Es sind bloß wir, die nicht mithalten können und an der Aufgabe scheitern, Situationen vorherzusagen, nicht nur weil die erforderliche Menge an Daten und Berechnungen unsere praktischen Fähigkeiten übersteigt, sondern weil sich die erforderliche Genauigkeit sogar allem entzieht, wozu wir theoretisch im Stande wären. Das Auseinanderklaffen von vorausberechneter und tatsächlicher Entscheidung kann also nicht die Grundlage für eine Unterscheidung zwischen Freiheit des Willens und Ungenauigkeit der Vorausberechnung bilden. Willensfreiheit und Unausweichlichkeit der Kausalität sind mithin nicht widersprechende Vorstellungen, aber der Widerspruch kann sich niemals zeigen.“

Wäre der Determinismus eine Rechtfertigung für Fatalismus, dann hätte der erwähnte Widerspruch zwischen Willensfreiheit und Determinismus größere Bedeutung. Aber die hat er nicht, weil wir diesen „Plan“ unserer Willensentscheidungen und Handlungen nicht kennen. Die Vorbestimmtheit hat keine Auswirkungen, weil sie für uns bedeutungslos ist. „Wir tun also das Gleiche, was wir mit dem Gefühl des freien Wollens tun, auch im Bewusstsein der Tatsache, dass alles im Voraus feststeht.“ Das Wissen um die Determiniertheit unseres Willens gibt uns keine Informationen und Anleitungen, wie wir zu entscheiden haben.

Die Betrachtung im Nachhinein, Verantwortlichkeit

Hier geht es wieder um den Konflikt im Rechtssystem, dass Menschen, die sozusagen aus dem Affekt heraus gehandelt haben, anders bestraft werden, als Menschen, die ihre „Taten“ lange geplant haben und sozusagen vorsätzlich vorgegangen sind. Immer wieder wird hier das Argument gebracht, dass in beiden Fällen eine Entscheidung des Gehirns vorliegt, dass der Unterschied lediglich darin läge, dass der eine seine Entscheidung unbewusst getroffen und die andere bewusste Argumente gegeneinander abgewogen hat. Bei der unbewussten Entscheidung bezieht das Gehirn ausschließlich Genetik, Erfahrungen und Gelerntes aus frühester Kindheit – Wissen, welches nicht mehr erinnert werden kann und deswegen im Allgemeinen als unbewusst gilt – mit ein, also Erfahrungen, die uns nicht bewusst geworden sind (siehe Wolf Singer). Doch auch bei der bewussten Entscheidung werden diese unbewusten Daten mit verarbeitet. Auch hier geht es wieder um die Vorherbestimmung, um Kausalität: Alles, was getan wird, ob aus Berechnung oder aus dem Affekt heraus entspricht einer Kette von kausalitätsbedingten Unausweichlichkeiten. Samson schlägt nun eine neue Art und Weise vor, mit dem Thema umzugehen: „Strafen gibt es nicht für die Taten, sondern als gerechten Ausgleich für das, was man sowieso ertragen hätte – auch wenn man sich zurückgehalten hätte. Belohnungen werden nicht für die Leistungen verteilt, sondern als gerechter Ausgleich für das, was man sowieso genossen hätte – auch wenn man sich der Mühe entzogen hätte.“ Als Beispiel für die Strafe nennt Samson einen Jugendlichen, der mit einer 50 Pfund Geldstrafe dafür bestraft wird, dass er eine Zeitung ‚aus einem Kasten für Zeitungen mit einer Dose für Münzen’ mitnimmt, ohne dafür zu bezahlen. Das Argument des Jugendlichen, das Geld nicht bezahlen zu müssen: „Wir beide [...] wissen doch, dass ich keine wirkliche Wahlfreiheit hatte.“ Das Argument des Polizisten, warum das Geld doch zu bezahlen sei: „All die anderen, die – unbeaufsichtigt – vor dem Kasten standen, wussten auch, dass sie die Zeitung einfach mitgehen lassen könnten. Um das nicht zu tun, mussten sie der Verlockung widerstehen. Das tut weh, das ‚kostet'. Daher hätten Sie in irgendeiner Form sowieso bezahlt – selbst wenn Sie das Geld eingeworfen hätten.“ Die Belohnung als gerechter Ausgleich beschreibt Samson mit einem Angestellten, der nicht um 17 Uhr seinen Arbeitsplatz verlässt, um nach Hause zu gehen, sondern sich die ganze Nacht mit einem Problem beschäftigt, einen Durchbruch erlangt und dafür mit einer Auszeichnung belohnt wird. „Die Belohnung gibt es nicht für die Leistung. Sie wird als ein gerechter Akt des Ausgleichs für den großen Preis ausgeteilt, den alle anderen sich dadurch verschaffen konnten, dass sie um fünf Uhr gegangen sind.“

„Zusammengefasst heißt dies: Dadurch, dass Belohnung und Bestrafung mit Fragen der Gleichheit verbunden werden – das heißt: „’Verlockung widerstehen’ vorher = Strafe nachher“ und „’Sich Belastungen entziehen’ vorher = Belohnung nachher“ – anstatt mit den Handlungen, hat die Frage ob sie „frei“ sind oder nicht, keine Auswirkung auf die Haltbarkeit des Belohnens oder Bestrafens.“

Konklusion

Anstatt danach zu suchen, wie die offensichtlich unverträglichen Vorstellungen Determinismus und Willensfreiheit doch zu vereinbaren sind, wird stattdessen das Beunruhigende an dem Widerspruch in seine Schranken verwiesen – dadurch, dass gezeigt wird, dass er nicht notwendigerweise Auswirkungen für die Praxis hat. Anders gesagt: "Die Frage ist nicht, ob Determinismus und Willensfreiheit unverträglich sind – natürlich sind sie das [...] –, sondern ob es von Bedeutung ist, dass sie unverträglich sind. Es wurde gezeigt, dass dem nicht so ist: die Anerkennung einer völligen kausalitätsbedingten Unausweichlichkeit (Determinismus) muss nichts an der Art und Weise ändern, wie wir unter dem Eindruck von Willensfreiheit handeln (ausgenommen ein paar Anpassungen im Vokabular von Anwälten).“

Uwe Kasper: Kann die Quantentheorie den Hirnforschern helfen, Probleme zu verstehen?

06/2004 Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 921-927

Kasper bezieht sich auf zwei Aussagen Singers, in welchen dieser meint, dass es „zwei von einander getrennte Erfahrungsbereiche gibt“, nämlich die naturwissenschaftliche aus der Dritten-Person-Perspektive und die soziokulturelle aus der Ersten-Person-Perspektive, und dass der freie Wille eine Illusion ist, weil er aufgrund deterministischer Gesetze nicht vorhanden sein kann.

Für Kasper sind das Aussagen, wie sie „vor und in der ersten Zeit nach der Entstehung der Quantenphysik“ formuliert wurden. Aber diese führte bekanntlich zur Erkenntnis, dass nicht gleichzeitig zwei Größen gemessen werden können, ohne, dass eine Größe unkenntlich wird. Kann man also einen soziokulturellen Bereich (wie Sprechen) und den dazugehörigen neurobiologischen Bereich gleichzeitig ohne Unschärfen des einen Bereiches messen?

Er bringt zunächst ein Beispiel aus der Astronomie. Geht man von der klassischen Mechanik aus, können wir Lage und Geschwindigkeit jedes einzelnen Massenpunktes zu jedem Zeitpunkt kennen, „wenn uns die Kräfte zwischen den Massenpunkten bekannt sind und die Lage sowie die Geschwindigkeit jedes Massenpunktes zu einem bestimmten Zeitpunkt bekannt sind.“ Mithilfe dieser Rechenmodelle gelang es, z. B. die Planetenbahnen in unserem Sonnensystem zu berechnen. Der Erfolg dieser Methode ließ uns glauben, dass „sich die Massenpunkte […] auch dann auf Bahnen bewegen, wenn wir sie nicht beobachten“. Sie sind sozusagen objektiv gegeben. Tatsächlich aber beeinflussen wir mit unserer Beobachtung das beobachtete Objekt, nur ist in dem Fall mit unserem Sonnensystem die Wirkung zu gering, um die Bahnen zu verändern, in Systemen mit kleineren Teilchen „muss man sich dann doch schon über mögliche Störungen des physikalischen Systems bei der Beobachtung Gedanken machen“. Mit der Heisenbergschen Unschärferelation lässt sich sagen, dass nicht zugleich Ort und Geschwindigkeit gemessen werden können. „Je genauer der Ort gemessen wird, umso ungenauer kann die Geschwindigkeit bekannt sein und umgekehrt.“ Sie repräsentieren zwei einander ausschließende Seiten eines Systems. Daher ist eine raum-zeitliche Beschreibung eines quantenphysikalischen Systems nicht möglich.

Vielleicht kann man die Erkenntnisse der Quantenphysik auch auf andere Bereiche ausweiten, beispielsweise auf die Hirnforschung. Die eine Größe wäre die soziokulturelle (Erste Person) und die andere Größe wäre die naturwissenschaftliche Seite (Dritte Person), als Beschreibungspaar stehen sie komplementär zueinander. Beeinflussen sie sich? Ein Einwand gegen eine quantenphysikalische Interpretation könnte freilich sein, dass die Störungen, die notgedrungen bei einer Beobachtung auftreten, keine Relevanz besitzen, d. h. sie führen zu keiner maßgeblichen soziokulturellen Verhaltensänderung. „Es ist die Frage, ob dieses Bild richtig ist.“ Die Vorstellung einer deterministischen Kausalität im Hirn ist möglicherweise ein Irrtum, so Kasper. „Es könnte sein, dass eine immer intensivere Beobachtung des Gehirns eine raumzeitliche, kausale Beschreibung der Vorgänge unmöglich macht.“

Wolfgang Detel: Forschungen über Hirn und Geist

06/2004 Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 891-920

Geist und Neurobiologie

Wie steht der Geist zur neurobiologischen Realität? Das ist bei Detel die zu behandelnde Frage, er versucht einen ersten „Einstieg zu offerieren“ – denn mehr kann er aufgrund der Komplexität des Themas gar nicht geben. Zunächst stellt er dar, dass sich innerhalb der (analytischen) Philosophie ein Externalismus durchgesetzt hat, d. h. es „bricht der scharfe Unterschied zwischen begrifflichen Analysen und empirischen Beobachtungen zusammen […]“. Daher es auch möglich, dass NeurowissenschaftlerInnen und PhilosophInnen überhaupt erst miteinander reden können. Wie unproblematisch sind die Sätze der Hirnforscher, wie unabhängig (von alltagspsychologischer Sprache) können sie ihre Forschung betreiben? Denn sehen Neurobiologen ins Gehirn, dann erblicken sie zunächst nichts, was irgendwie mit geistigen Eigenschaften zu tun haben könnte. Sie benötigen in ihren Experimenten Berichte von Versuchspersonen der Ersten-Person-Perspektive, so ist verständlich, warum man zu zwei parallelen Beschreibungssystemen kommt. Für Detel ist es eine Trivialität, dass Hirnforscher nicht freistehend und angewiesen auf andere wissenschaftliche Zugänge zum Geist sind.

Geist definiert er als spezielle Eigenschaft, und das heißt „im Wesentlichen, dass einige der neuronalen Aktivitätsmuster beteiligter Gehirne und vielleicht auch andere physische Zustände die Eigenschaft haben, bewusst oder repräsentational oder beides zugleich zu sein“.

Historisierte externalistische Semantik

Mentale Phänomene (wie z. B. Wahrnehmung oder Denken) besitzen einen semantischen Gehalt. Ab welcher Ebene einer Beschreibung des Mentalen ist es sinnvoll von Repräsentationalität zu sprechen? Auf einer untersten Ebene von Repräsentationalität als „regelmäßige kausale Verknüpfung zwischen externen Fakten und neuronalen Aktivitätsmustern im Gehirn“ zu sprechen ist nach Detel vielleicht möglich, aber nicht sinnvoll, da diese Redeweise inhaltsleer ist – sie vermittelt uns nichts über spezifische geistige Aspekte. Einen Gedanken zu haben, heißt nicht, dass er schon etwas repräsentiert, er kann ja falsch sein und daher ist es für Detel nicht förderlich dies schon als Repräsentationalität zu bezeichnen. Will man nicht loslassen vom Begriff der Repräsentationalität, dann ist es sinnvoll, zwischen Repräsentationalität A (elementare Ebene) und Repräsentationalität B (geistige Ebene) zu unterscheiden. Zweiteres wird für die Erforschung des Geistes relevant sein. Damit muss man aber über die Hirnforschung hinausgehen, es bedarf einer umfassenden Analyse, berücksichtigt werden muss die Evolution, historische Phänomene und eine individuelle Lerngeschichte - Bedeutungen liegen nicht nur im Hirn, es bedarf einer externalistischen Analyse. Aufgrund einer evolutionsgeschichtlichen Überlegung, kommt Detel zum Schluss, dass „ein Ding eine echte Funktion auf Grund seiner Reproduktionsgeschichte und nicht auf Grund seiner aktuellen Disposition oder seiner aktuellen Performanz“. Es ist die historische Dimension eines Begriffs der echten Funktion, der entscheidend ist. „Wann immer Gehirne von Organismen diese echten Funktionen haben, können wir sagen, dass die produzierten mentalen Episoden oder Zeichen diejenigen externen Zustände, auf die sie der echten Funktion ihrer Produzentengehirne nach isomorph abbildbar sein sollen, repräsentieren […].“

Natürlich kann eine historisierte externalistische Semantik nicht ohne Biologie und Psychologie auskommen, um geistige Phänomene zu erforschen, aber sie trägt dazu bei, ein besseres Verständnis von Repräsentationalität zu erlangen. Konsequent fortgedacht lässt sich mithilfe dieser Semantik sagen, dass die Supervenienzbasis von repräsentationalen Eigenschaften größer ist als das jeweilige Hirn.

Im Weiteren beschäftigt sich Detel mit den von Singer und Roth vorgeschlagenen Lösungen bzw. deren zugrunde liegenden Probleme. Die Einwände beider sind berechtigt, ein reduktionistischer Materialismus besitzt zweifelsohne große Probleme, genauso wie eine dualistische Lösung. Aber beide verschärfen die Situation, indem sie einige Zusatzannahmen machen. Für Detel sind insbesondere die Lösungsvorschläge theoretisch karg: Es gibt mehr als nur ontologischen Dualismus, Panpsychismus und reduktiven Physikalismus (das ist das Variantenspektrum bei Singer). Das, was Roth entwirft, ist (vermutlich) ein Typen-Dualismus, was für Detel ein guter Beginn ist, aber nicht zufrieden stellt - da z. B. Roths Annahme der vollständigen kausalen Bedingtheit des Geistes durch Gehirnzustände nicht haltbar ist, u. a. deswegen, weil sie in Bezug zur Repräsentationalität falsch ist. Generell sollten wir uns nicht „mit der These zufrieden geben, dass wir uns und unseren Geist auf zwei ganz verschiedenen Ebenen erfolgreich und irreduzibel beschreiben können, dass wir es jedoch offen lassen können, wie diese beiden Beschreibungssysteme miteinander zusammenhängen […]“.

Matthias Vogel: Gehirne im Kontext

06/2004 Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 985-1005

Gibt es in der Debatte um Geist und Gehirn wirklich zwei verschiedene Kulturen? Sieht man sich die Diskussionskultur an, so könnte man nach Vogel manchmal diesen Eindruck bekommen. Sie ist geprägt von „Empfindlichkeiten und Unverständnis“ und erschwert durch „schlampige Redweisen in beiden Gruppen“. So sprechen manche Hirnforscher unbenommen von DER Determination, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass seit der Antike unterschiedliche Arten von Determination diskutiert worden sind. Auch gibt es wesentlich mehr Lösungsansätze als die von Singer erwähnten – z. B. diverse Spielarten des Funktionalismus, den anomalen Monismus von Davidson oder Supervenienztheorien.

Bemerkungen zur Hirnrhetorik

Es scheint also notwendig zu sein, sich genau anzusehen, ob die vorgeschlagenen neurobiologischen Erklärungsansätze ihren Plausibilitätsanspruch gewährleisten können. Vogel beschäftigt sich daher zunächst mit der Rhetorik der Hirnforschung. Er kommentiert als erstes folgenden Abschnitt aus Singers Aufsatz „aus Singers "Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbeschreibung"“:

„Die Aufklärung der neuronalen Grundlagen höherer kognitiver Leistungen ist mit epistemischen Problemen behaftet. Eines folgt aus der Zirkularität des Unterfangens, da Explanandum und Explanans eins sind. Das Erklärende, unser Gehirn, setzt seine eigenen kognitiven Werkzeuge ein, um sich selbst zu begreifen, und wir wissen nicht, ob dieser Versuch gelingen kann.“

Vogel meint dazu Folgendes im Zusammenhang mit Unklarheiten und Verständnisschwierigkeiten zwischen HirnforscherInnen und PhilosophInnen:

„Inwiefern liegt hier eine – womöglich vitiöse – Zirkularität vor? Inwiefern gibt es eine Identität zwischen Explanandum und Explanans? Eine problematische explanative Zirkularität läge vor, wenn eine Erklärung das zu Erklärende als gültig Erklärtes voraussetzt, aber diese Beziehung besteht zwischen dem Explanandum höherer kognitiver Leistungen und dem Explanans einer Theorie neuronaler Prozesse nicht, denn die Erklärung höherer kognitiver Leistungen durch neuronale Prozesse setzt nicht voraus, dass wir diese Erklärung bereits akzeptieren müssen, um uns der explanativen Aufgabe stellen zu können. Das Explanandum kognitiver Leistungen ist aber auch nicht identisch mit dem Explanans, weil das zu erklärende Phänomen nicht identisch ist mit einer Theorie – oder einer Menge wahrer Sätze – über neuronale Prozesse. Und schließlich, inwiefern sollte es mit Blick auf die Erklärung höherer kognitiver Leistungen ein spezifisches Erkenntnisproblem geben? Weil wir, wenn wir unsere kognitiven Fähigkeiten erklären wollen, uns unserer kognitiven Fähigkeiten bedienen müssen? Haben denn Lebewesen, weil sie leben, ein spezifisches Problem, das Phänomen des Lebens zu verstehen? Oder weniger polemisch und etwas genauer: Stellt es ein spezifisches epistemisches Problem dar, dass das Geben von Erklärungen, die die Realisierung höherer kognitiver Leistungen durch das Vorliegen neuronaler Prozesse erläutern, gemäß ebendiesen Erklärungen selbst durch neuronale Prozesse realisiert werden muss? Ich glaube, kaum. Natürlich ist unsicher, ob unsere Erklärungsversuche erfolgreich sein werden, aber das gilt für nahezu jede Erklärung in nahezu jedem Kontext.“

Problematisch sind die Aussagen Roths, wenn er mentales Vokabular auf das Gehirn anwendet. Es ist jedoch so, dass er dies nicht metaphorisch meint oder aus ökonomischen Gründen anführt, sondern ganz bewusst davon spricht, dass das Gehirn entscheidet. Nach Vogel kann man Roths mentale Ausdrücke anhand ihrer Anwendbarkeit in zwei Gruppen teilen:

  1. mentale Ausdrücke, die auf der Grundlage von Verhaltenskriterien zugeschrieben werden und somit den gleichen Zuschreibungsbedingungen unterliegen, wie Ausdrücke, mit deren Hilfe das Verhalten des Gehirns beschrieben werden kann. Zu diesen Ausdrücken gehört das Verb „entscheiden“, das man auf Personen, aber auch auf das Organ anwenden kann.
  2. mentale Ausdrücke, die der Autorität der ersten Person unterworfen sind, insbesondere solche des phänomenalen Erlebens, die nur auf Personen angewendet werden dürfen.

Aber was heißt das eigentlich, wenn wir sagen das Gehirn entscheidet?

„Wenn ein System S beobachtbare Verhaltensalternativen Vn angesichts des Eintretens gewisser Umweltbedingungen Un hat und beim Eintritt von U1 vom Verhalten V1 zu V2 übergeht, dann hat sich S für V2 entschieden. Doch diese Formulierung wird offenbar auch von folgendem Satz erfüllt: wenn ein Stück Eisen die Verhaltensalternative hat, stabil zu sein (V1) oder zu rosten (V2), und Eisen angesichts von U1 (Gegenwart von Sauerstoff und Feuchtigkeit) zu V2 übergeht, dann hat sich das Stück Eisen entschieden zu rosten.“

So zu sprechen scheint nicht sinnvoll zu sein, da hier physikalisches Vokabular vollkommen ausreicht. Aber auch wenn wir interne Ursachen als Variablen einführen, lassen sich die Vorgänge z. B. durch Reflexe erklären. Es ist daher unzulässig mentales Vokabular auf das Gehirn anzuwenden, es fehlt eine „belastbare Begründung“.

Globale Supervenienz

Nach Vogel sind die meisten PhilosophInnen heute minimale PhysikalistInnen. Das bedeutet, dass sie davon überzeugt sind, dass alles was eine mentale Eigenschaft hat, auch eine physikalische Eigenschaft besitzt und sind auch der Überzeugung, dass zwei Dinge die sich hinsichtlich keiner physikalischen Eigenschaft unterscheiden, sich auch hinsichtlich keiner mentalen Eigenschaft unterscheiden“ (Supervenienzprinzip).

Ähnlich wie Detel geht auch Vogel einem historisierten Externalismus nach. Wenn mentale Zustände auf neuronalen Zuständen supervenieren, dann müssen wir diese Relation nicht auf die intrinsischen Zustände des neuronalen Zustandes untersuchen, sondern die kausalen Relationen, die zur Formierung des mentalen Zustandes geführt haben. Die Eigenschaften eines neuronalen Zustandes (für den Realisationsgehalt einer Äußerung) sind an seine Interaktionsgeschichte gebunden, „die kausale Relationen zu den physikalischen Eigenschaften der Äußerungssituationen einschließt“.

Wie aber, fragt Vogel, lässt sich dieses Verständnis von Externalismus mit den Prinzipien eines minimalen Physikalismus vereinbaren? Denn Ersterer schafft Platz für die Vorstellung, dass „sich zwei Zustände in keiner intrinsischen physikalischen Eigenschaft unterscheiden, dennoch aber unterschiedliche mentale Eigenschaften realisieren“. Um dieses Problem zu lösen, müssen wir das Supervenienzprinzip auf größere physikalische Strukturen anwenden, d. h. auf ganze Biosphären oder auf eine Welt ausdehnen – das Prinzip globaler Supervenienz. Ergänzen müssen wir diese noch um eine zeitliche, evolutionäre Komponente. Es lässt sich daher Folgendes formulieren:

„Jede Welt W’, die zu jedem beliebigen Zeitpunkt ti ein physikalisches Duplikat unserer Welt zu ti darstellt, ist ein mentales Duplikat unserer Welt W.“

Ein kleiner Ausflug in die Musik

Wie sieht ein (fruchtbarer) Dialog zwischen PhilosophInnen und HirnforscherInnen aus? Hilfreich ist sicher ein Thema, welches nicht gleich von Beginn an polarisiert und weite gehende Konsequenzen für das Selbstverständnis der Menschen hat. Ein möglicher Ansatz wäre das Thema Musik bzw. Musik verstehen. Für Vogel stellen sich diesbezüglich folgende Fragen:

  • „Löst das Hören von sprachlichen und musikalischen Äußerungen in den gleichen oder in unterschiedlichen Hirnregionen Aktivität aus?
  • Wird das Musikverstehen gestört, wenn Hirnregionen, die etwas mit der Sprachverarbeitung zu tun haben, gestört werden?
  • Gibt es neurophsyiolgosiche Hinweise darauf, dass das verstehende Hören von Musik etwas mit dem Nachvollzug musikalischer Strukturen zu tun hat?“

Die Antwort des Hirnforschers Stefan Kolsch ist klar und deutlich: „Musik wird wie Sprache verarbeitet und Sprache wie Musik. Das Gehirn macht gar keinen großen Unterschied zwischen Sprache und Musik.“ Bei Untersuchungen erfahrener Musiker wurde festgestellt, dass bei ihnen im Unterschied zu Laien, schon bei leicht unreinen Akkorden Aktivitätsmuster zu bemerken sind, sie reagieren also sensibler. Für Vogel bestätigt dies, „dass Langzeiterfahrungen das autonome neuronale Prozessieren akustischer Reize […] modifizieren“. Weitere empirische Ergebnisse zeigen, dass die Musik etwas ist, was zwar von uns sprachähnlich verstanden wird, aber einen anderen Gehalt besitzt als Sprache. Vogel zitiert hierfür den Komponisten Anton Webern, der meinte, dass „[d]ie Musik Sprache [ist]. Ein Mensch will in dieser Sprache Gedanken ausdrücken; aber nicht Gedanken, die sich in Begriffe umsetzen lassen, sondern musikalische Gedanken.“

Vogel stelle jedoch klar, dass (auch wenn für Musik und Sprache weitgehend das gleiche neuronale Netzwerk zuständig ist) Musik keine Sprache ist.

<root><br /> <h level="2" i="1">== Kontext ==</h>

Freiheit im Kopf (Seminar Hrachovec, 2006/07)

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