19. März 2007
Freud, Sigmund (1908): Über infantile Sexualtheorien, in: ders.: Studienausgabe Bd. 5 Sexualleben, Frankfurt/M.: Fischer 2000, 169-184.
Nasio, Juan David (1999): Der Begriff der Kastration, in: ders.: 7 Hauptbegriffe der Psychoanalyse. Wien: Turia+Kant 1999, 7-19.
Inhaltsverzeichnis
Keuschheitsgelübde
In der letzten Sitzung wurde vorgeschlagen, die Grundsätze, welche von der Dogma95 Gruppe formuliert worden sind, als eine Art Kastration im Filmischen zu verstehen. Das bedeutet, die Restriktionen, welchen sich die Filmemacher der Gruppe unterworfen haben, als eine Art Gesetz zu begreifen. Als solches würde es erinnern an Gesetze, denen wir im Feld der Ethik begegnen. Das erste, was an einer solchen Übertragung auffällt, ist die Engführung, die damit zwischen dem Ethischen und dem Ästhetischen nahegelegt wird. Wenn wir, was wohl Fragen und Diskussionen nach sich ziehen wird, das Ethische mit dem Symbolischen und das Ästhetische mit dem Imaginären bei Lacan in Verbindung bringen, so geht es bei dieser Übertragung um das Verhältnis zwischen Symbolischem und Imaginärem. Hans-Dieter Gondek (1994) hält eine solche Übertragung deswegen für gerechtfertigt, weil beide, der ethische und der ästhetische Bereich und der imaginäre und der symbolische Modus jeweils miteinander verflochten sind.
Kant für Lacan
Gondek (1994) weist auf eine Funktion hin, die Kant für Lacan gehabt haben könnte. Kant könnten wir als einen unnachgiebigeren Denker ansehen, der im Unterschied zu Hegel auf bleibenden Dysjunktionen besteht. Bei Kant gibt es kein geordnetes Verfahren zur Aufhebung von Gegensätzen, wie etwa im Selbstbegriff des Geistes bei Hegel. Lacan hat sich in den Dreißiger, teilweise auch in den Vierziger Jahren mehr an Hegel orientiert. Ein Beispiel dafür wäre seine Konzeption des Imaginären, die in dieser Zeit im Zentrum seiner Forschungsbemühungen gestanden ist. Mehr als das Symbolische, das Lacan erst in den Fünfziger und frühen Sechziger Jahren systematisch beschäftigt hat. Das Imaginäre ist durch ein Anerkennungsgeschehen gekennzeichnet, das sich an Hegels Herr-Knecht-Dialektik orientiert. Es geht um einen Kampf um Anerkennung. Kant ist ein Denker der Spaltung (Gondek 1994) und als solcher für Lacan attraktiv (vgl. die in der vorangegangenen LV beschriebene Spaltung des Subjekts bei Kant und Lacan). Das lässt sich zum Beispiel mit der Tatsache illustrieren, dass die Erkenntnis nach Kant zweier Vermögen bedarf – der Sinnlichkeit und des Verstandes. Ein Vermögen bleibt vom anderen getrennt und ist auf das andere angewiesen. Ohne Sinnlichkeit ist kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand kann kein Gegenstand gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.
Das Schöne und das Erhabene
Ein Film ist mehr als eine Aneinanderreihung von Bildern. Zum Film gehört dazu, dass er angeschaut, mit Urteilen versehen wird.
Das ästhetische Urteil bedarf des Zusammenspiels von Einbildungskraft und Verstand. Wo Einbildungskraft und Verstand im freien Spiel aufeinander treffen, gelangen wir zum Schönen. Schön ist das, was interesselos gefällt. Von diesem ist das Erhabene zu unterscheiden. Es verdankt sich einem Widerstreite zwischen Einbildungskraft und Vernunft. Die Erfahrung einer Unterlegenheit des Menschen als Sinnenwesen schlägt hierbei um in das Bewusstsein einer moralischen Superiorität. Die Differenz zwischen Schönem und Erhabenem markiert den Übergang vom Sinnengeschmack zu einem Reflexionsurteil.
Im Unterschied zu klassischen Hollywood-Filmen überfordert Vinterberg die sinnlichen Möglichkeiten der BetrachterInnen. Er tut dies im Namen einer allgemeinen Regel. Wir könnten sagen: Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Sinnlichkeit und Vernunft entspricht der Frage nach dem Verhältnis zwischen Imaginärem und Symbolischem, von dem wir bis jetzt nur festgehalten haben, dass es ein verflochtenes ist. Hier stellt sich nun heraus, dass die Dogma95 Regeln als Beispiel für nur eine Richtung dieses Verhältnisses angesehen werden können. Denn mit den Dogma95 Regeln wird gleichsam ein symbolischer Schnitt eingeführt in einen bildhaften Raum. Die Gegenrichtung, eine Imaginisierung des Symbolischen, lässt sich damit nicht illustrieren.
Achtung
Um eine solche geht es dafür im Begriff der Achtung bei Kant. Die Achtung, die dem Gesetz in seiner Erhabenheit zu zollen ist, können wir als einen imaginären Rest im Verhältnis zum Symbolischen bezeichnen. Es stellt sich die Frage, wozu ein solcher Rest gut ist, ob er bestehen soll und wenn nicht, wie er zu eliminieren ist. Ebenso ist zu fragen, wie wir den Übergang von einer ästhetischen Achtung vor dem Gesetz zu einer Annahme des Gesetzes im Sinne einer symbolischen Akzeptanz denken können. Gondek (1994) ortet hier ein Defizit bei Kant. Für Gondek ginge es bei einer solchen Annahme des Gesetzes darum., das Gesetz nicht nur als eine allgemeine, mit dem Vater und seinem Namen verbundene Vorschrift anzusehen, sondern in einer Bewegung, die die Transzendenz des anderen ernst nimmt, in jedem Aufeinandertreffen mit irgendeinem anderen den Ernstfall des Gesetzes bzw. seiner Anwendung zu sehen (Gondek 1994). „Bei Kant mangelt es an einem solcherart ausgeführten Übergang , jedenfalls in der Ethik, im Selbstverhältnis des ethischen Subjekts als des Verhältnisses von Gesetz und Achtung für das Gesetz: Es gibt keine ethische Arbeit des Subjekts an sich selbst, sondern allein die Unterwerfung“ (Gondek 1994, 151).
Die Kastration beschreibt diese Unterwerfung als einen Prozess. Das Skandalöse an dieser Beschreibung liegt nicht nur in der geschlechterdifferenten Behandlung der Thematik, der wir uns erst in der kommenden Woche zuwenden werden, sondern zunächst darin, dass der Körper, im Speziellen der sexuelle Körper, zum Ort der Annahme des und der Achtung für das Gesetz erklärt werden.
Gondek, Hans-Dieter (1994): Vom Schönen, Guten, Wahren. Das Gesetz und das Erhabene bei Kant und Lacan, in: ders. / Peter Widmer (Hg.): Ethik und Psychoanalyse. Vom kategorischen Imperativ zum Gesetz des Begehrens: Kant und Lacan, Frankfurt/M.: Fischer 1994, 133-168.
--Uk 18:11, 20. Mär 2007 (CET)