Seminar: Freiheit im Kopf (FiK)
Inhaltsverzeichnis
- 1 Freiheit im Kopf
- 1.1 Wie ein mentaler Zustand subjektiv erlebt wird: Qualia – Definition und Messbarkeit
- 1.2 Hermeneutische Analyse von Libets Bericht
- 1.3 Philosophie in Defensive und Empörung
- 1.4 Handlungsabsicht, Bewusstsein, Intention
- 1.5 Spontane und überlegte Willenshandlung
- 1.6 Bewusstsein und Intention
- 1.7 Arten der Handlung
- 1.8 Individuum im sozialen Umfeld
- 1.9 Überlegung und Zeit
- 1.10 Versuchsanordnung und Zeit
- 1.11 Zwang, Nicht-Zwang und Freiheit
- 1.12 Haben wir einen freien Willen?
- 1.13 Das methodische Problem am Beispiel der Sprache
- 1.14 Freiheit und Zwang, immer wieder von vorn zu beginnen
Freiheit im Kopf
Seminarverläufe – Diskussionen zu Benjamin Libet
Die folgende Darstellung beschreibt die fünf Seminareinheiten „Freiheit im Kopf“, in denen verschiedene Aspekte des „Libet-Experiments“ diskutiert wurden, sowohl die vorausgehende Entdeckung, dass einer Willenshandlung eine messbare elektrische Veränderung der Gehirnaktivität vorangeht, und zwar offenbar bevor die Versuchsperson eine Willenshandlung vollzog, sowie auch die konkrete Versuchsanordnung selbst. Diese Darstellung der mündlichen Diskussionen im Seminar, die protokolliert wurden, berücksichtigt auch nachträgliche schriftliche Einträge. Die genauen Protokolle sowie die weiteren zugrundeliegenden und gleichzeitig sowie nachfolgend ausgearbeiteten Materialien und Sujets zum Seminar finden sich auf timaios.philo.at.
Eine Bemerkung zur Zusammensetzung der TeilnehmerInnen: Sie kamen aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, insbesondere der Philosophie, aber auch der Naturwissenschaften. Auch altersmäßig war die Gruppe heterogen und variierte in der Zahl und Zusammensetzung, war jedoch stets überschaubar um die zehn Personen. Die männlichen Teilnehmer überwogen bei weitem nicht nur zahlenmäßig, sondern – wie in solchen Strukturen oft beobachtet – auch in Bezug auf die Zahl der Wortmeldungen und die darstellerische Präsenz. Der Seminarleiter war aktiv an den Diskussionen beteiligt, überließ einerseits den Seminarverlauf bewusst den TeilnehmerInnen, dominierte andererseits immer wieder bei vermeintlichen Fehlverläufen. Die mangelnde weibliche Präsenz kann mehrere Ursachen gehabt haben, daher sei hier jede Hypothese vermieden.
Grundsätzlich wurde im Seminar wiederholt betont, dass sich die Methode Libets nicht zur Überprüfung der Willensfreiheit eignet und dafür auch nicht vorgesehen war. Insbesondere lebensweltliche Erfahrungen blieben völlig ausgeklammert. Die Messbarkeit, die naturwissenschaftlichen Experimenten zugrundeliegt, ist nicht geeignet, Welt erklärend zu sein – bewiesen wird letztlich die Experimentanordnung.
Wie ein mentaler Zustand subjektiv erlebt wird: Qualia – Definition und Messbarkeit
Erste Diskussionen rankten sich um die problematische Messbarkeit, um die Frage, was denn gemessen wurde, und auch, was überhaupt gemessen werden kann, wobei Muskelkontraktionen oder Gehirnreize den „Qualia“ vorangestellt wurden, die – als nicht vermittelbare Empfindungen und Wahrnehmungen von Personen definiert – anderen nicht vermittelt werden können. Ein hiefür in der Diskussion verwendetes Beispiel für Messbarkeit bezog sich auf den durch Verbrennungsfaktoren wie Pigmentveränderung messbaren Sonnenbrand, der ebenso von außen feststellbar ist wie ein Muskelkater, dessen persönliches Schmerzempfinden, das er verursacht, wiederum nicht feststellbar, somit ein Quale ist. Bilder, und noch mehr Inhalte von Bildern, sind nicht von außen zu beschreiben. In diesem Bezug wurde ein zentrales Problem von Messbarkeit protokolliert: Die klassische naturwissenschaftliche Messmethode kommt an diejenigen Unterscheidungen nicht heran, die für das Denken notwendig sind: An die Inhalte. Noch nicht, prophezeite ein Seminarteilnehmer, was als visionäre Voraussage nicht Gegenstand der Diskussion wurde und als Menetekel für die Freiheit des Denkens betroffen-ablehnend unkommentiert blieb. Sie sei hier erwähnt, weil in einer noch immer streng naturwissenschafts- und technikgläubigen Zeit diese Aussage immer wieder, wenn schon nicht gemacht wird, so doch mitschwingt.
Qualia und Kausalität
Grundsätzlich wurde festgestellt, dass Kausalität bislang noch von keinem Experiment gezeigt werden konnte. Aktivität im Gehirn kann sichtbar gemacht werden als Aktivität im Gehirn – was sie verursacht, kann hypothetisch angenommen resp. im Experiment bereits vorausgesetzt werden.
Qualia und Wahrnehmung
Die Wahrnehmung wurde in drei verschiedene Typen differenziert: Plätze, Gesichter, Dinge. Die besonderen Kompetenzen für bestimmte Reizmuster wurden evolutionär ausgebildet. Auch in diesem Zusammenhang wurde die Kausalität diskutiert und verneint, dass sich vom Effekt direkt auf die Ursache rückschließen ließe. Ob eine braune Hautfarbe auf eine Bräunungscreme oder ein Sonnenstudio rückführbar ist, kann nicht von der Farbe her geschlossen werden. Auch hier spielt das von der Neurophysiologie nicht messbare Bild eine Rolle, wenn es ihr nicht möglich ist, den Unterschied einer realen und einer vorgestellten Bedrohung zu fassen, wenn uns beispielsweise ein Gesicht beängstigt. Wie bei der Diskussion um die Kausalität wurde auch in diesem Themenbereich streng zwischen Reiz / Reaktion und Denken, das argumentativen und logischen Regeln folgt, unterschieden. Die Wahrnehmung resp. das Erkennen bestimmter Gesichter wurde als hohe Hirnleistung festgelegt, um die vielen Arten eines Gesichtes, wie es sich präsentiert, zu erkennen. Dies bedeutet nicht nur ein mehr an Rechenleistung, sowie eine Ergänzungsleistung und einen Energieaufwand, sondern auch die Einschätzung eines Musters in einem Umweltsystem, die durch das Gehirn geleistet werden muss. So sind die Ergänzungsleistungen kontextabhängig, wenn bespielsweise ein bedrohendes Gesicht als solches erkannt werden soll. Die dafür benötigte Gehirnleistung ist nicht einfach diejenige, die Muster dekodiert. Wichtig hiebei ist eine Objektkonstanz, als Bedingung dafür, dass einzelne Objekte verarbeitet werden können.
Hermeneutische Analyse von Libets Bericht
Schließlich wurde das philosophische Verfahren der Textauslegung angewandt, d. h. Libets Experimente werden nicht überprüft, sondern sein Bericht hermeneutisch untersucht.
Bereits der erste Halbsatz von „Wie das Gehirn mit Willensakten umgeht, ist eine Frage von grundlegender Bedeutung für die Rolle des bewussten Willens und darüber hinaus für die Frage nach der Willensfreiheit“ wurde für problematisch erachtet. Als Beispiel für diese Schwierigkeit wurde Wien und seine Geschichte herangezogen: Fährt man mit dem Auto von Westen nach Osten durch Österreich und stößt auf Wien, stößt man nicht auf dessen Geschichte. So stößt man auf eine Kathode im Gehirn, nicht auf die Freiheit. Natürlich ist für die Geschichte Wiens Wien und für die Freiheit ein Gehirn unabdingbar, beides ist nicht abstrahierbar, jedoch sind diese Begriffe inkommensurabel, Physis und Intentionalität nicht vergleichbar. So könne man Gehirnaktivität und Willensakt nicht auf einer Ebene betrachten. Dem Experiment liege die Vorstellung einer Erscheinung zugrunde, als ob der bewusste Wille auf einer Messlatte erscheine, wo er gemeinsam mit der Gehirnaktivität gemessen werden könne. Tatsächlich bedarf eine Geste einer Muskelkontraktion, in dieser wiederum ist beispielsweise eine mit der Geste übermittelte Beleidigung nicht zu finden.
Philosophie in Defensive und Empörung
Die Philosophie wurde den Naturwissenschaften gegenüber in der Defensive verortet. Ihr zugrunde liegt eine intuitive, lebensweltliche Vorstellung von Freiheit, von der aus sie ihre Untersuchungen beginnt. Der naturwissenschaftlichen Versuchsanordnung liegt eine Theorie zugrunde resp. zuvor, sie ist nicht nur objektive Beobachtung. Die Philosophie reagiert aufgebracht, weil die Naturwissenschaft sich auf ihr ureigenes Terrain begibt und sich dabei Methoden bedient, mit denen Freiheit nicht untersucht werden kann.
Grund und Ursache müssen scharf getrennt werden. Reizung und Beweggründe sind ebenso zu differenzieren wie mechanische Handlungen und Willensakte. Vor einem Willensakt sind Denkprozesse notwendig.
Handlungsabsicht, Bewusstsein, Intention
Libet und Deecke gehen von einer Zeitachse aus, auf der es die Erscheinung des bewussten Willens gibt. Das intuitive Modell unserer Freiheit basiert auf einem Entschluss nach reiflicher Überlegung "aus Freiheit" dem Körper Handlungen zu befehlen. Libet unterscheidet Termini wie Wille, Bewusstsein des Willens und Bewusstsein der Handlungsabsicht nicht weiter, obwohl es sich um drei sehr unterschiedliche Begriffe handelt. Es gibt einen Sinn von Willen, der psychologisch nicht erfasst wird; es geht darum, dass ein Wille bewusst ist, und das wiederum ist zu unterscheiden vom Bewusstsein, dass man einen Willen hat, was wiederum differiert zum Bewusstsein einer Handlungsabsicht. Wenn ich etwas will, muss ich kein Bewusstsein meines Willens haben. Das vorliegende Problem entsteht aus einer bestimmten Konzeption des freien Willens: Handlungsabsicht – Durchführung. Eine Zeitachse bedeutet nicht automatisch Kausalität, dass Gehirnvorgänge bewussten Akten vorangehen.
Libet sieht in seinem Experiment die Vetofunktion vor. Die Personen des Experimentes sollten sich nichts überlegen, was manche dennoch taten. Dieses Planen gab noch einmal 500 ms im Experiment dazu. Der Vetomöglichkeit, der Möglichkeit nach Bewusstwerdung zu widerrufen und abzubrechen, dem Abbrechen selbst müsste auch Gehirnaktivität vorangehen, was Libet jedoch nicht thematisiert.
Spontane und überlegte Willenshandlung
Im Normalfall unterscheiden sich zwei Handlungsformen:
- spontane, freie Willenshandlung (vergleichbar nichtüberlegten, impulshaften Handlungen).
- Handlung mit Überlegung (dauert länger).
Der Ablauf ist am Ende der beiden Handlungsformen gleich, in beiden Fällen gibt es das und den Jetzt-tu-ich-Moment.
Bewusstsein und Intention
Auch der Begriff des Bewusstseins muss diskutiert werden. Ein Bewusstsein von etwas ist nicht gleich ein Bewusstsein vom Anstoßen an etwas und auch nicht gleich ein Bewusstsein einer Handlungsabsicht. Verschiedene Aktivitäten sind im Gehirn unterschiedlich lokalisiert, die „Reisezeiten“ von den entsprechenden Bereichen bis zum wahrnehmenden Punkt sind verschieden lang. Es ist daher auch denkmöglich, dass der wahrnehmende Punkt später von der Intention erfährt als von der begleitenden Aktivität.
Libet geht von einer psychologischen Versuchsanordnung aus, seine ProbandInnen bestimmen die Stellen, an der sie etwas gewollt haben. Diese psychologischen Selbstzuschreibungen werden überblendet mit den Gehirnaufzeichnungen bestimmter Kurven auf der Zeitachse.
Während Libet nicht viel von Intention spricht, haben Gerhard Roth und neuere Debatten deren Bedeutung erkannt. Roth hält auch die Intentionen für messbar, auch sie sind bestimmte Verteilungen von Gehirnaktivitäten; Erinnerungen können als Erinnerungen gemessen werden, allerdings nicht was erinnert wird. Wir sind wieder beim Bild, beim Inhalt angelangt, der nicht gemessen werden kann.
Auszugehen war und ist bei dieser Diskussion von einer Normalkompetenz von Personen um Intention, um die Aussage „ich will etwas“.
Arten der Handlung
Auch bei der spontanen Handlung denkt man nach, wenn auch kürzer als bei der überlegten. Für Roth ist es irrelevant, ob eine kurze oder lange Überlegung vorangeht, entschieden sei es doch schon im Gehirn.
Bei Reflexen wird überhaupt nicht nachgedacht. Auch Libet erwähnt Reflexe. Diese werden von Personen nicht als frei wahrgenommen. Bei Spontanentscheidungen jedoch ist ein Bewusstsein eines freien Willens durchaus möglich. Libet leugnet nicht, dass Spontanentscheidungen nicht die einzige Form von Handlungen sind. Nicht alle Handlungen müssen wie Spontanentscheidungen ablaufen.
Die Frage stellt sich nach der Überlegung: Bei spontanen Entscheidungen überlege ich kurz, aber doch auch. Wo liegt der Unterschied zwischen kurzer und keiner Überlegung? Es ist ein fließender Übergang: Beispielhaft wird in der Diskussion angeführt, dass jemand im Verkehr mitfährt und nicht überlegt, sondern trainiert reagiert, und die Geste, die von anderen als spontane, nicht notwendige Geste wahrgenommen wird, worauf eingewendet wird, dass die Deutung bereits den nächsten Schritt darstellt, die Wahl vor der Deutung stattfindet.
Individuum im sozialen Umfeld
Die Seminarteilnehmer verwehren sich, die Interpretation weiterer Personen in die Diskussion einzubeziehen, es sei schwierig genug, der Intention und Willen eines Individuums nachzuspüren, zumal auch Libet und Nachfolger auf das Individuum abzielen.
Hier verweist der Seminarleiter auf eben diese Notwendigkeit, da es nicht möglich sei, sich selbst eine Willenshandlung zuzuschreiben ohne Kenntnis dessen, was für andere eine solche ist. Für die Beschreibung von eigenem freien Willen, Zwang, Experiment, Widerwille, Gewissen bedarf das Individuum sprachlicher Kategorien, die eine Allgemeinheit in sich haben. Diese wiederum kann nicht aus dem Individuum kommen, sondern muss schon auf andere Personen zurückgreifen.
Es wird zugestanden, dass auch im Versuch der Proband nicht alleine ist, es gäbe zumindest andere ProbandInnen und den Versuchsleiter. Wieder wird das Grundproblem thematisiert, dass die Naturwissenschaften nicht philosophisch untersuchen, sondern messen, und sich wiederholt die Frage stellt, ob diese Methode überhaupt zulässig und wie vieles dabei an Prämissen gesetzt ist. Libet selbst fragt, ob es zulässig sei, dass der Proband Aussagen macht, was er für sein Experiment bejahen muss.
Überlegung und Zeit
Zurückkommend zur Überlegung wird die Frage gestellt, ob man das Modell Überlegung, dann Entscheidung auf immer kleinere Zeitstufen übernehmen dürfe – wie kurz die Zeit der Überlegung sein darf, damit es sich noch um Überlegung handelt. Wenn der Zeitbereich immer mehr geschrumpft würde, stellt sich das Problem, wie die freie Spontaneität noch vom unfreien Reflex unterschieden werden könne.
Was sich an dieser Stelle aufdrängte, wird eingewandt: In Erinnerung an die Paradoxa von Zenon kann Zeit nicht als Kontinuum, hier Bewusstseinskontinuum, genommen werden, in das Schnitte gemacht werden könnten. Es bleibt dennoch die Frage, inwieweit Überlegung notwendig mit der Freiheit spontaner Entscheidungen zusammenhängt.
Versuchsanordnung und Zeit
Bezug genommen wurde wiederum auf Libets Versuchsanordnung: Die W-Zeitpunkte sind die Zeitpunkte, die die ProbandInnen als Zeitpunkte bewusster Willensakte angeben, Wie genau sind diese Zeitangaben der ProbandInnen? Man kann die Präzision der Angaben überprüfen – abhängig von allgemeinen Reaktionsweisen der Person (die man zum Beispiel mit Hautreizen in zufallsgenerierten Abständen untersucht, bei denen die Person sagen muss, wann sie sie gespürt hat). Libet setzt Marken, es ergibt sich eine Konstellation, wann der Reiz getriggert – ausgelöst – wurde und wann die Person den Reiz gespürt hat. Der Wahrnehmungszeitpunkt wird S-Zeitpunkt genannt. Diese S-Zeiten waren nahe, aber 50 ms früher als die W-Zeitpunkte.
Die zeitlichen Prioritäten zwischen Reizwahrnehmung und gemessenem Reiz stellen das Normalverständnis in Frage, denn so werden die Reize vor dem Austeilen wahrgenommen. Hiezu wird ein Experiment angeführt, in dem den Versuchspersonen Schlangen- und Blumenfotos gezeigt wurden und die Personen erregt waren, bevor sie die Schlangenfotos sahen, obwohl sie gar nicht wussten, welche Fotos als nächste kommen.
Weiters wird als Beispiel die Visualisierung von Frequenzabläufen bei artikulierten Sätzen herangezogen: Die Abhängigkeit von verschiedenen Lauten ist derart, dass z. B. ein Vokal von den vorangegangenen Konsonanten geprägt wird, bevor der Vokal artikuliert worden ist. Das Bild des Konsonanten wird umgekehrt in der Zeit bestimmt von etwas, was zeitlich nachher kommt. Dann aber ist die Frage der Priorität im Mikrosekundenbereich irrelevant und es stellt sich die wichtige Frage, wie scharf das Kriterium des Vor und Nach an der Zeitachse im Vergleich zu den Interpretationen dazu ist.
In dieser Diskussion wird das Beispiel der Hautreizung von dem erwähnten Fotoexperiment unterschieden und auch beiden dieselben „hellseherischen“ Fähigkeiten zugrunde gelegt. Als Lösung bietet sich ein Gestalteffekt des Ganzen an: Die Units der Wahrnehmung sind nicht atomistisch zusammengesetzt aus einzelnen Units, die beliebig klein gemacht werden können. Es gibt den Gestalteffekt, der als Ganzes funktioniert, wo alles zusammenhängt. Ein Wort funktioniert als Ganzes, man es kann es zwar in kleinere Einheiten aufteilen, aber man verliert den Bedeutungseffekt, den nur das Wort als Ganzes besitzt.
Zwang, Nicht-Zwang und Freiheit
Libet untersucht nicht Reflexe, sondern Spontaneität. Philosophisch-logisch muss der Begriff „nicht“ oder die Präposition „un“ betrachtet werden. „Nicht gezwungen“ präzisiert keinen konkreten Inhalt, das Gegenteil von Zwang ist nicht ausgemacht. So ist eine Farbe rot, nicht-rot kann aber allerlei bedeuten, alles, was auf der Welt nicht rot ist, z. B. eine Primzahl. Wenn wir mit nicht-rot auf eine andere Qualität verweisen, beispielsweise auf blau, verweisen wir auf eine andere Farbqualität. Auf den Begriff Zwang angewendet heißt das: Was nicht Zwang ist, ist Freiheit, oder man untersucht, was alles jenseits des Zwanges möglich ist.
Ein Disput ergibt sich aus der behaupteten und bestrittenen Notwendigkeit, Zwang zu definieren, wenn man zu seinem Gegenteil gelangen will. Der Seminarleiter möchte Libet folgen und der Kompetenz der Personen vertrauen, wenn sie sich gezwungen fühlen. Zudem könne man auch bei der Definition von Ungezwungen beginnen. Für Libet ist nicht-gezwungen frei, es ist irrelevant, wann wir ein Bewusstsein davon haben. Hier wird die Freiheit durch Abhebung vom Zwang festgelegt, alles was nicht Zwang ist, ist frei. Nimmt man die andere Bedeutung von „frei“, muss man überlegen, was frei ist, wenn nicht-gezwungen nicht einfach frei ist. Nicht-rot heißt nicht automatisch blau, auch wenn blau nicht rot ist. Freiheit kann natürlich nicht gezwungen sein, aber Überlegungen inhaltlicher Natur sind nötig, die sich nicht einfach aus der Beobachtung ergeben.
Die Frage nach einer einem Begriff und seinem Gegenteil unterliegenden dialektischen Einheit wird verneint. Begriffe überlappen, laufen durcheinander. Wenn man so präzise wie Libet von freier Spontaneität im ms-Bereich sprechen muss, dann geht das nur im dialektischen Verhältnis gegen die Zwangserfahrung, ohne die er kaum Argumente hätte, an der Stelle von Freiheit zu reden. Im selben ms-Bereich gibt es die Erfahrung der Unfreiheit. Erinnert wird an das logische Prinzip des ausgeschlossenen Dritten – tertium non datur, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt: Wenn das eine nicht zutrifft, muss das andere zutreffen, auch wenn es keine unabhängigen Gründe dafür gibt. Nicht alle mathematischen Strömungen anerkennen die reductio ad absurdum, den indirekten Beweis, mit dem eine Aussage nicht direkt hergeleitet, sondern ihr Gegenteil widerlegt wird. So muss auch die Freiheit eigene Qualitäten haben, eine eigene Beschreibung. So müssen ungezwungene Handbewegungen eingebettet werden in Handlungen, die Effekte produzieren, die Freiheit in einem reichhaltigeren Sinne sind. Als Grenzfälle kann man obige Verkehrsbeispiele betrachten, die ohne vorangegangene Erfahrung keine Entscheidungen sein können.
An dieser Stelle wird auf die Werbeindustrie verwiesen, die auf das Unbewusste zielt und die Entscheidung zu beeinflussen sucht. Gerade diese Branche lebt davon, die Entscheidungskapazität nicht zu durchkreuzen, aber auch nicht wirklich gelten zu lassen. Sowohl Zwang als auch Diskussion wären in diesem Bereich kontraproduktiv.
Haben wir einen freien Willen?
Immer wieder wurden den Seminareinheiten kurze Wiederholungen der Diskussionen zu den verschiedenen Problembereichen vorangestellt. Wiederholt wurde die traditionelle Frage der Philosophie nach ihrem Stellenwert aufgeworfen, nach ihrem aktuellen „Marktwert“ und ihrer derzeitigen Strategie gegen die Übermacht naturwissenschaftlicher Erklärungsansätze. Hiezu gehört auch die Frage der Philosophie nach ihrer Aufgabe im Alltag, heißt nicht für PhilosophInnen, sondern für die Allgemeinheit und die Einzelnen.
Gerade am alltäglichen Philosophie-Stammtisch stehen sich Determinismus und Freiheit dualistisch gegenüber. Auch Libet verwendet – u. a. in der an dieser Stelle diskutierten Textpassage „Haben wir einen freien Willen?“ philosophische Standardredensarten, die ebenswenig wie naturwissenschaftliche Einzelexperimente das Wesen des Menschen erklären können. Die Seminarteilnehmer stellen fest, dass gerade eine naturwissenschaftliche Diskussion sich nicht auf Fragen nach Gott oder nicht Gott einlassen dürfe. Wenn man eine Opposition zwischen lückenlosem Determinismus und Freiheit festschreibt, stellt sich die Frage nach möglichen „Lücken“ in den Naturgesetzen.
Nicht bezweifelt wird eine lückenlose Kette physikalischer Ereignisse, die in bestimmten Raum-Zeit-Segmenten ablaufen. Wie können aber diese Ereignisse beschrieben werden und wie verhalten sich die Beschreibungen zueinander? Als Beispiel wird die Beobachtung auf ein Zimmer in einem gegenüberliegenden Haus angeführt, in dem Personen um einen Tisch sitzen, reden, sich bewegen. Es gibt vielerlei Beschreibungsarten dieses Vorgangs, so z. B. als Sitzung einer Berufungskommission, das an einem Gutachten arbeitet. Dieser Sinn ergäbe sich jedoch erst durch einen erweiterten Kontext. Die anschließende Diskussion geht bereits in Themenrichtung der letzten protokollierten Seminarsitzung
Das methodische Problem am Beispiel der Sprache
Als Abschluss der protokollierten Seminarsitzungen wurde ein Symposiumsvortrag von Hrachovec über Lautphysiologie vorgestellt und diskutiert, der aus einer anders gelagerten Fragestellung Licht auf Libet werfen sollte. Hier sollte das Freiheitsproblem ohne Befrachtung mit philosophischen Intuitionen und der Frage von Bewusstseinsabhängigkeit gesehen werden. Bei der Visualisierung von physiologischen Zusammenhängen und psychologischer Interpretation kann deutlich gemacht werden, welche Fragen Libets nicht wirklich mit Freiheit, sondern mit der gewählten Forschungsmethode zusammenhängen.
Zusammengefasst ergab sich in diesem Zusammenhang, dass empirisch Erhobenes als solches noch keine Aussagekraft hat, sondern interpretiert werden muss, und zwar wie jeder andere empirische Befund auch mit Zuschreibungen von außen durch eine sprachkundige Interpretin. So verwendet Libet mit seiner Zeitachse und Kurvenaufzeichnung zwei unterschiedliche Zuordnungskategorien der Marken „Einsetzen des Bereitschaftspotentials“ und „Einsetzen des bewussten Willens“. Der Seminarleiter fasst zusammen: „Die Gegenüberstellung der physikalischen Beschreibung einer sprachlichen Äußerung zur Äußerung selbst gibt ein philosophisch unbelastetes Analogbeispiel zum Libet-Versuch ab. Die graphische Darstellung der Frequenzen des gesprochenen Lautstroms wird mit Sprachelementen und zuletzt sinntragenden Sprachteilen und sprachlichen Aussagen in Verbindung gebracht.“ D. h. das gemeinsame Strukturmerkmal bei Libet und sonagraphischer Sprachaufzeichnung ist die diagrammatische bzw. mechanische Darstellung einer Körperfunktionalität, der auf anderer Ebene – Bewusstsein oder Phonologie – eine Deutung zugeordnet wird. Dabei findet jeweils ein Kategoriensprung statt: Bilddetail zum Buchstaben, Kurvenmarke zum freien Willen.
Ein Zusammenhang von Feinanalyse von Sprache und Freiheit wird bestritten, dieser Konnex von Linguistik und Freiheitsproblem wurde aber als auch gar nicht behauptet festgestellt. Die methodische Problemstellung aber kann analog betrachtet werden: In beiden Fällen entsteht das Problem des Wann: Wann fängt ein Laut an? Wann fängt der freie Wille an? Nach Libet erscheint der freie Wille an der Zeitachse, wodurch er vorbereitet gewesen sein muss. Auch in der Phonetik besteht, wie schon diskutiert, das Problem des scharfen Anfangs, weil ein Laut von den vorangegangenen und nachfolgenden Lauten mitbestimmt wird. So kann auch der freie Wille in seinen unterschiedlichen Schichten nicht auf eine einzige Marke reduziert werden. Ein Proband bei Libet muss bei seiner Markensetzung die Bedeutungen von „frei“, „bemerkt haben“, „gezwungen“, „bewusst sein“ etc. schon gekannt haben.
Zurück zum Anfang: Das Problem der Naturwissenschaften – die Prämissen – und der Angriff auf die Philosophie
Es wird dezidiert und wiederum festgehalten, dass das Inbeziehungsetzen einer phsyikalischen Marke mit einem kategorial ganz anderem Ereignis oder Prozess Probleme schafft, da sich dahinter viele unausgesprochene Voraussetzungen, Vorkenntnisse und notwendige Kompetenzen der InterpretInnen verbergen. Damit sind sowohl dem Experiment als auch seinen Ergebnissen enorme Vorgaben unterlegt.
Das Problem des „Anfangs“ ist bei Libet zentral, der Beginn des bewussten Willens soll festgestellt werden, wobei für Anfänge generell ein vorausgesetztes Kontinuum ebenso wie eine externe Betrachtung desselben charakteristisch ist. Es wird eingewandt, dass Kognitionswissenschafter zugeben, Weltausschnitte zu betrachten, niemand habe noch den Anspruch erhoben die ganze Welt in kontinuierlicher Form zu erklären, einen Anfang gibt es nicht. Die Philosophie wird in ihrer ganzheitsbetrachtenden Auffassung angegriffen und willkürliche Startlinien verlangt.
In der naturwissenschaftlichen Messung wiederum wird ein von der Messung beeinflusster Subraum herausgegriffen. Dennoch kann die erstaunliche Voraussagbarkeit von Entscheidungen in den diskutierten Experimenten als starkes Indiz für den Determinismus nicht bestritten werden. Dies lässt den Schluss zu, jede Situation sei aus der vorhergehenden determiniert, eindeutig und kausal der vorangegangenen nachgeschaltet. Die Frage aber ist, ob es nicht auch dort einen Freiraum gibt, ob die Freiheit nicht innen, sondern vielleicht in den nicht begrenzbaren Möglichkeiten des Außen liegt, da das Außen soviel Variabilität bereitstellt, dass die Reaktion nicht determinierbar ist. Grundsätzlich wird der Begriff des Determinismus und der Allvorhersagbarkeit bei Vorliegen hinreichender Information überbeansprucht und gilt auch in der Physik nur mehr begrenzt.
Freiheit und Zwang, immer wieder von vorn zu beginnen
Abschließend wurde gegen eine dualistische Auffassung argumentiert. Das Freiheitsproblem muss in seiner Mehrschichtigkeit betrachtet werden. Etwas, das sich zeigt, kann auf je verschiedenen Ebenen mit dem Wissen um die Voraussetzungen dieser Ebenen betrachtet werden, ohne dualistisch von zwei unverträglichen, weit voneinander entfernten Welten sprechen zu müssen. In der Philosophie müssen – jenseits der Hoffnung auf den einen großen Wurf – immer wieder sinnvolle Anfänge gefunden werden.