Diskussion:30. April 2007

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Zunächst eine Anmerkung zur Interpretation des Kategorischen Imperativs und der Kant'schen deontologischen Moral als "Goldene Regel": zweitere lautet ja bekanntlich: was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem andern zu. Diese Regelung ist eine eindeutig passive Satzung, die verbieten will, dass man schlichtweg dem anderen Schaden zufügt - weil dieser ebenfalls ein Mensch ist und deshalb gleichen Rspekt verdient, oder aus welchem anderen Antrieb auch immer. Bei Kant geht es meines Erachtens nicht allein um solche passiven Nichtregungen, im Sinne des Unterlassens einer Tat. Auch wenn Ricoeur das gerne so sehen würde (v.a. 284ff), geht es hier nicht allein um Verbote. Vielmehr geht es immer schon um ein aktives Einschreiten und deren menschliche Verpflichtung dazu. Kant will durchaus einen sinnvollen Begriff des menschlichen Zusammenlebens entwickeln. Dem zu Grunde liegt auch das Verständnis des Menschen als endlichem verletzbaren Wesen, das in jedem Fall respektiert werden muss. Die Nächstenliebe führt für Kant zur Liebespflicht. Hier geht es sowohl um passives Wohlwollen als auch um aktives Wohltun. Man muss sich immer auch dem Leiden anderer annehmen und hier handelnd mitfühlen. Hier scheint mir Ricoeurs Interpretation der Kant'schen Moralvorstellungen wirklich zu kurz zu schießen, indem hier alles allein an den Begriffen der Autonomie und des Verbots aufgehängt wird. Weiters würde ich nicht damit übereinstimmen wollen, dass die Universalitätsprüfung (287) bzw. jener Anspruch im Reich des Transzendentalen verpuffen müsse, weil sie gewissermaßen zu gebrechlich im hitzigen Weltengefecht verpuffen müsse. Bei Kant geht es eben in der Diskussion der oben genannten Liebespflichten (die wie der Kategorische Imperativ m.E. nicht als völlig voneinander isolierte Systeme voneinander vorgeschoben werden dürfen, sondern immer schon ein, wie Ricoeur das bei Rawl lobt, "komplexes" System darstellen) um ein ganz konkretes Einlassen auf eine besondere Situation, die die faktische Einzigartigkeit und das persönliche (nicht faktisch eh schon immer gleich vernünftige), das individuelle Ermessen der jeweiligen Person braucht, die einer anderen zu Hilfe kommt. Die Achtung, die Ricoeur bespricht, muss auch von diesem Punkt aus verstanden werden und würde hier diese "Pluralität" der Einzelnen in jedem Fall einer alles gleich machen wollenden gleich-vernünftigen Allgemeinheit vorziehen. --Iris 12:40, 1. Mai 2007 (CEST)


Hallo Zuerst mal, den obigen Beitrag betreffend, möchte ich nur auf die positiven, "aktiven" Formulierungen ("Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst") der Goldenen Regel verweisen, die ja auch Ricoeur auflistet. Gleichzeitig erscheint mir die Notwendigkeit des Umwegs über diese (die Goldene Regel), um Defizite in Kants deontologischer Ethik aufzuzeigen als nicht zwingend. Der Punkt (oder besser einer der Punkte), den Ricoeur machen möchte, nämlich darzulegen, dass in Kants Ethik "...die Andersheit durch eine sie kraft der Idee der Menschheit einschnürende Universalität an der Entfaltung gehindert wird." (274), erscheint mir sehr wichtig und berechtigt. Ob in der (aus guten Grunde natürlich) völlig formalen und universalen Ethik Kants Platz ist für radikale Andersheit / Alterität des Anderen, ist, denke ich, zumnindest fraglich. Auf der anderen Seite ist für mich nicht ganz verständlich, inwiefern die Goldene Regel diese Andersheit wirklich besser mitdenkt. In einer Formulierung wie: "Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst", kommt meines Erachtens die Konzeption des Anderen sehr in der Nähe eines Alter Ego, was Ricoeur ja vermeiden möchte. So scheint mir die Goldene Regel nicht das beste Beispiel, um auf das Spannungsfeld von Menschheit und konkreter Person bei Kant hinzuweisen. (Nur als Anmerkung: In Fridolin Wiplingers "Der personal verstandene Tod", Alber 1970, findet sich eine Neu- Umformulierung des kategorischen Imperativs: "Handle und lebe ihm gegenüber [dem Anderen] so, wie nur du und niemand anderer an deiner Stelle es könnte." Hier wird der Kantsche Formalismus auf eine Art aufgeweicht, reziprok schließt die Betonung der eigenen besonderen Person natürlich die Individualität des Anderen ein. Person, Personalität wird bei Wiplinger übrigens als Mit-sein und Für-einander-sein bestimmt - die Bindewortbildungen lassen den Einfluss Heideggers erkennen :)] Der zweite Teil von Ricoeurs Text wirkt für mich schlüssig, aber nicht detailliert genug, um über die angebliche Zirkularität von Rawls Theorie und das postulierte Primat der teleologischen Ethik gegeüber Vertrags / deontologischen Konzepten zu entscheiden.

Lg Victor


Ich verstehe Ricoeur nicht so, dass er Defizite in Kants Pflichtenethik aufzeigen möchte, sondern dass er auf einen "Untergrund" der Kantischen Argumentation aufmerksam machen möchte, der eine implizite Verbindung zwischen einer teleologischen und einer deontologischen Perspektive nahelegt. Während nach Kant eine Handlung nur dann als moralisch gut anzusehen ist, wenn sie pflichtgemäß ist (und nicht in selbstsüchtiger Absicht oder aus unmittelbarer Neigung erfolgt), möchte Ricoeur durch den Aufweis einer Analogie zwischen der Goldenen Regel und der zweiten Formulierung des Kategorischen Imperativs ("Handle so, daß Du die Menschheit, sowohl in Deiner Person, als in der Person jedes andern, jederzeit zugleich als Zweck niemals bloß als Mittel brauchest" Grundlegung der Metaphysik der Sitten, 61) zeigen, dass auch bei Kant die Neigung eine Rolle spielt. Es stellt sich daher die Frage, ob die von Ricoeur beschriebene Analogie korrekt ist. --Uk 17:07, 4. Mai 2007 (CEST)