Tugendhat: Zurechnungsfähigkeit (FiK)

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Nun ist freilich auch die Rede von der Willensfreiheit noch mehrdeutig. Ich werde mich im folgenden nur mit einer Bedeutung dieses Wortes beschäftigen. Allerdings ist es die, die den anderen Bedeutungen zugrunde liegt. Sie,läßt sich am unzweideutigsten durch das Wort >>Zurechnungsfähigkeit<< zum Ausdruck bringen. Man verwendet in diesem Sinn auch das Wort »Verantwortlichkeit«, aber dieses Wort ist seinerseits mehrdeutig. Mit Zurechnungsfähigkeit ist diejenige Verantwortlichkeit einer Person gemeint, derzufolge wir von ihr sagen: sie ist verantwortlich für ein bestimmtes Geschehen bzw. Nichtgeschehen, es ist ihr zuzurechnen, es lag an ihr, daß es passiert bzw. nicht passiert ist, und darin ist immer mitgemeint: sie hätte auch anders können. Das »Problem« der Willensfreiheit in diesem Sinn von >>Zurechnungsfähigkeit<< ist seit eh und je die Frage nach dem richtigen Verständnis des eben genannten Satzes: »sie hätte auch anders können.« Es ist diese Frage, mit der ich mich im folgenden beschäftigen möchte.

Vorher erscheint es jedoch sinnvoll, die anderen Bedeutungen von Willensfreiheit zu nennen, die mir ebenfalls wichtig scheinen, aber hier nicht Thema sein sollen. Manchmal wirft man einer Erörterung einer Bedeutung von »Freiheit« vor, sie setze einen zu engen Freiheitsbegriff voraus. Ein solcher Vorwurf ist nicht besonders sinnvoll, weil es nicht einen – »den« – Begriff der Willensfreiheit gibt, sondern verschiedene Bedeutungen, die allerdings in bestimmter Weise zusammenhängen. Wichtig sind neben dem Begriff der Zurechnungsfähigkeit die verschiedenen Begriffe der Autonomie, der der äußeren und der der inneren Autonomie.

Mit äußerer Autonomie meine ich das, was man auch als Freiheit im politischen Sinn bezeichnen kann. (Die alten Griechen verwendeten bekanntlich für Freiheit in diesem Sinn und für Freiheit im Sinn von Zurechnungsfähigkeit verschiedene Wörter.) Freiheit im Sinn der äußeren Autonomie erfüllt die ganz allgemeine Kennzeichnung von Handlungsfreiheit, die ich im ersten Absatz gegeben habe, derzufolge eine Person dann frei ist, wenn sie tun kann, was sie will, in dem ganz besonderen Sinn, daß sie nicht durch Machtausübung anderer, insbesondere des Staates, daran gehindert wird. Natürlich ist alle politische Freiheit eine spezifische, nicht eine Freiheit zu Handlungen überhaupt, sondern zu bestimmten Handlungen, und politische Freiheit wird jeweils anders verstanden, je nachdem, welches die Handlungsarten sind, die nach dieser Freiheitskonzeption nicht behindert werden dürfen. Aber rein begrifflich bietet dieser Begriff der äußeren Autonomie keine Schwierigkeiten, einfach weil der Gedanke einer äußeren Behinderung ganz unproblematisch ist.

Anders der Begriff der inneren Autonomie. Er läßt seinerseits verschiedene Deutungen zu. Überall aber, wo von innerer Autonomie oder auch innerer Freiheit einer Person gesprochen wird, werden verschiedene Ebenen des Wollens unterstellt, und wenn auch jetzt wieder gesagt wird, die Person sei frei, wenn sie tut, was sie will, wird das »sie« besonders betont, so daß man auch sagen kann: sie tut, was sie selbst will. Das heißt dann immer: Es ist eine ausgezeichnete Form des Wollens – und es ist wohl immer eine, die wir, mit Freud zu sprechen, als besonders »Ich«-nah ansehen–, die im Unterschied zu anderen Möglichkeiten des Wollens in dieser Person realisiert ist. Zum Beispiel kann man die Autonomie in diesem inneren Sinn so bestimmen, daß sie einer Person nur dann zuzusprechen ist, wenn diese will und handelt auf Grund einer Überlegung, was sie letztlich will. Eine andere Möglichkeit, die innere Autonomie zu verstehen, ist, daß sie einer Person nur dann zuzusprechen ist, wenn ihr Wollen nicht kontaminiert ist von den Erwartungen, die von anderen an sie gestellt werden. Auch wenn der Begriff so verstanden wird, erscheint es besonders sinnvoll zu sagen: die Person will, was sie selbst will; hier ist dann das »Selbst« durch das vorhin genannte Kriterium definiert. Eine dritte Möglichkeit ist, daß man von einer Person dann sagt, daß sie innerlich frei ist, wenn sie das, was sie will, ganz will, wenn sie in diesem Sinn mit ihrem Wollen »identifiziert« ist; in dieser Richtung ist ein enger Zusammenhang zwischen innerer Freiheit und dem, was neuerdings psychologische Identität genannt wird, gesehen worden. Wie diese verschiedenen Möglichkeiten, wie man innere Autonomie verstehen kann, zusammenhängen, lasse ich offen. Das Problem der inneren Autonomie ist ein wichtiges philosophisches Problem, auf das ich hier überhaupt nicht eingehen werde. Es ist gegenüber dem der Zurechnungsfähigkeit höherstufig: die Frage, ob oder wieweit jemand innerlich autonom ist, setzt voraus, daß er zurechnungsfähig ist.

Das Problem der Zurechnungsfähigkeit besteht, wie gesagt, darin, wie bzw. ob man das in der Rede von Freiheit in diesem Sinn implizierte »er hätte auch anders können« verstehen kann. Das ist nicht ein rein theoretisches Problem, sondern ein Problem, das Konsequenzen in der Praxis hat, so sehr, daß man immer wieder mit Recht gesagt hat: Sollte dies, daß man sagen kann, die Person hätte auch anders handeln können, auf einer Täuschung beruhen, oder sollte man dieser Rede keinen begrifflich klaren Sinn geben können, dann müßten auch die und die Formen der Praxis aufgegeben werden. Aber meist hat man die Bereiche der Praxis, die ohne diesen Freiheitsbegriff nicht denkbar sind, zu eng bestimmt. Ich glaube, daß es für eine angemessene Klärung des Begriffs wichtig ist, sich darüber im klaren zu sein, wie weit sein Anwendungsgebiet reicht. Ich meine, es handelt sich insbesondere um drei Bereiche.


Ernst Tugendhat zum Begriff der Willensfreiheit, Artikel (FiK)


<root><br /> <h level="2" i="1">== Kontext ==</h>

Freiheit im Kopf (Seminar Hrachovec, 2006/07)

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