JAKOBSOHN, Sarah (Arbeit1): Unterschied zwischen den Versionen

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Sarah Jakobsohn 0747959 Übung Methoden der Philosophie WiSe2008/09 Richard Heinrich
 
Essay zum zweiten Vortrag von Herrn Böhler
 
Philosophieren mit- nicht gegen den Körper
 
In folgenden soll vor dem Hintergrund von Arno Böhlers Vortrag am 04.12.2008 in der Ringvorlesung „Methoden der Philosophie“ der Frage nachgegangen werden, inwiefern der Leib in der Philosophie bedacht werden muss oder ausgeblendet werden kann. Es sollen ausschließlich Gedankenansätze zu diesem Thema entwickelt, keine ausgereiften Ideen dargestellt werden. Der Vortrag von Herrn Böhler regte sehr zum eigenen Weiterdenken an- was hier im Rahmen dieses Essays getan werden soll. Der Fokus wird auf das Beispiel des Romans „Schuld und Sühne“ von Dostojewski gelegt, welches in Vortrag einen entscheidenden Teil der Betrachtungen ausmachte.
 
Böhler erklärte eine Bedeutung der Leiblichkeit, die einem Verständnis des Philosophierens im Einklang mit dem Körper nicht gegen den Körper entsprach. Der Leib sei der Ort, der sich nicht der Außenwelt entziehen kann. Der Leib sei immer exponiert und dieser Exponiertheit völlig ausgeliefert, mit seiner eigenen Sichtbarkeit in einem nicht- intentionalisierten Akt konfrontiert- bis zu dem Zeitpunkt, wenn er selbst zu existieren aufhört- sprich beim Todeszeitpunkt. Gedanken ließen sich verstecken, mit dem Leib hingegen sei es anders: ich kann nicht so tun, als ob ich nicht im Raum erscheine- dies steht nicht in meiner Gewalt. Der Körper besteht per se als eine Art Wegbewegen. Er erscheint in Zeit und Raum und stößt durch Ausbreitung seiner selbst auf andere Dinge. Böhler erklärt diese Vorstellung von Sein als „ekphantisches“ Sein. Ekphaino kommt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie      „ zum Vorschein bringen, erscheinen lassen, offenbaren, kundtun“. Die Trennung vom Leiblichen wurde in Philosophien, die einen Kampf zwischen Ordnung des Fleisches und  Intellektueller Ordnung darstellen, oft angestrebt. Der Leib wird hierbei als ein Störfaktor angesehen, dem man sich zu entledigen hat und - hier notwendigerweise postuliert- auch kann. In Böhlers Leiblichkeitsverständnis, wird hingegen davon ausgegangen, dass wir unserer Leiblichkeit nicht entkommen können, dass sie uns gegeben ist und wir sie nicht im lebenden Zustand überwinden können. Was danach möglich wird, ist sowieso ungewiss. Fest steht: wir sind dem ständigen Zusammentreffen mit anderen Organismen pausenlos aufgeliefert. Daher stellt sich ihm die Frage, wie sich dieses Verhältnis von Exposition in ethische Fragestellungen übersetzen ließe. Muss die Berührung mit andern, dieses Zusammentreffen in Zeit und Raum nur ein „mechanisches Geschehen“ sein, oder lässt es
 
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sich bewusst und kontrolliert vollziehen? Wenn wir nicht anders können, als uns zu berühren, wie kann dieses sich gegenseitig Ausgesetzt sein mit einem Moment geistiger Intentionalität vollzogen werden? Böhler stellt hier die Frage, nach einer Ethik, die in Ästhetik fundiert ist. Durch das ständige Wahrnehmen des „Ausgesetzt Seins“, resultiert die Konsequenz, dass mich die anderen etwas angehen. Ich bin permanent mit ihnen konfrontiert, ob ich das will oder nicht. Meine Aufgabe als Individuum ist es nun mich dieser Gegebenheit anzupassen und an einem Zusammenleben mitzuwirken, das diesen Seinszustand so gut wie möglich im Sinne aller gerecht wird.  Eine Ethik wird hier also allein mit der Leiblichkeit begründet. Ohne Leiblichkeit wäre eine Ethik nicht notwenig.
 
Böhler führte als Beispiel für die Unmöglichkeit der Trennung von Geist und Körper Dostojewskis Roman „Schuld und Sühne“ an. Dieser handelt von der Umsetzung einer Theorie zu Verbrechen und Freiheit in die Praxis. Der Protagonist Raskolnikov entwickelt in seinem Kopf eine Theorie davon, dass der Mensch als Freiheitswesen die Pflicht hat, seine Freiheit auszuleben, aber nur ein kleiner Teil der Menschheit dies auch tut. Der Großteil der Menschheit wagt es nicht und beraubt sich durch diese Unfähigkeit frei zu leben seiner Menschenwürde- macht sich zum Untermenschen. Nach dieser Theorie gäbe es also zwei Kategorien von Menschen, eine Hierarchie, zwischen Freien und Unfreien. Die Freien seien mehr wert als die Unfreien, seien allein die wahren Menschen. Als Beispiel hierfür sieht Raskolnikov Napoleon, der sich nicht scherte, um Konventionen und Sitten, sondern seinen eigenen Willen kompromisslos durchsetzte, auch unter der Bedingung dafür töten zu müssen. Raskolnikov denkt seine Theorie so weit, dass er sie zu dem Grade verinnerlicht, nicht mehr umhin zu können, sie auch in die Tat umsetzen und dadurch auf ihre praktische Tauglichkeit hin testen zu müssen. Er will wissen, ob er zu diesen freien Menschen gehört, dieser kleinen Gruppe Mächtiger, zu denen er sich im Geiste zugehörig fühlt. Durch einen Zufall ergibt sich ihm dazu eine ideale Gelegenheit: er erfährt bei einem Spaziergang, dass eine alte Pfandleiherin, zu einer bestimmten Zeit allein zu Hause sein wird und beschließt daraufhin sein Experiment an ihr zu verüben. Als dienlicher Umstand kommt hinzu, dass ihm jene Pfandleiherin von der ersten Minute an unsympatisch war, als er sie kennen lernte- somit sind seine Skrupel sie zu ermorden gering. Er hält sie für ein unwertes, bösartiges Weib und sieht in ihrem Ableben keinen Verlust. Als er sein Vorhaben tatsächlich in die Tat umsetzt und die Alte erschlägt, sieht er sich seinem Versagen gegenüber. Er kommt mit der Situation nicht zurecht- das, was zuvor sein Geist durchdacht und geplant hatte, wird von seinem Körper
 
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nicht hingenommen. Der begangene Mord löst bei ihm Zittern und Schweißausbrüche aus, er wird immer wieder ohnmächtig, wird krank und kann nicht aufhören die Tat zu durchdenken, fühlt sich gejagt von jedem- ist schlicht nicht dazu in der Lage die Tat zu verarbeiten. Was er in der Theorie trocken und mit kühlem Kopf ausführen zu können geglaubt hatte, wird ihm in der Realität zum Verhängnis. Er besteht sein Experiment nicht- ist an seiner eigene Theorie gescheitert. Er gehört nicht zu den Freien, er unterliegt seinem Körper, ist unfähig frei zu handeln- was für ihn ja bedeutet, rein rational und kalkuliert handeln zu können. Raskolnikov muss feststellen, dass er sein physisches Versagen nicht mit einkalkulieren konnte. Es muss also eine Instanz neben der Vernunft geben, die uns wider die Vernunft so stark zu beeinflussen vermag, dass wir unser Handeln nach ihr richten müssen. Wir sind nicht fähig rein rational zu handeln. Raskolnikov hatte damit gerechnet, den Mord als ein Experiment ausüben zu können- wie ein Wissenschaftler, mit einer Distanz zum Versuch, die ihn von seiner Tat separiert. Stattdessen ist er körperlich wie geistig durch die Tat so involviert, dass er sich nicht von ihr zu distanzieren vermag. Die Tat vereinnahmt ihn. Schon bei ihrer Durchführung verliert er die Kontrolle, unter der er zu handeln gedachte, er verfällt in eine Art Rausch, handelt wie im Trance, wie es Verbrecher oft nach einer Tat berichten. Er schafft er nicht sein selbst zu kontrollieren. Etwas anderes ergreift Macht über ihn- etwas, womit er nicht gerechnet hatte. Seine Theorie hält er zwar selbst nach der Tat noch für gültig, muss aber einsehen, dass er sie nicht in die Praxis umsetzen konnte.
 
Hieraus ergibt sich nun eine Reihe von Fragen: was ist diese Instanz, die unseren Verstand zu unterminieren vermag? Wie kam es dazu, dass Raskolnikov die Kontrolle über sich verlor? Gibt es tatsächlich diese gedachte Einteilung der Menschheit in frei und unfrei? Wodurch nun aber unterscheidet sich ein Freier vom Unfreien? Was macht ihn dazu? Beruht dieser Unterschied allein auf naturgegebener Anlage? Wird man als der eine oder andere geboren, --- wie Raskolnikov es meint? - unfähig sich dessen zu erwehren? Oder besteht die Möglichkeit sich von sich selbst zu befreien- ein freier Mensch zu werden? Könnte Raskolnikov das kaltblütige Morden erlernen? Oder ist ein Mensch entweder zum Mörder geboren oder eben nicht? Was macht diese Autonomie des Handelns aus? Wie ist der Mensch in der Lage völlig frei zu leben? Sich allein von seinem Verstand zum Handeln anleiten zu lassen, bzw. sich selber zu leiten? Kann der Mensch jemals völlig aktivisch und bewusst handeln, sich selbst vollkommen kontrollieren und Körper und Geist beherrschen, oder sind wir als vernunftbegabte Sinnenwesen nie völlig dazu in der Lage? Sind wir immer nur eine Mischung
 
Sarah Jakobsohn 0747959 Übung Methoden der Philosophie WiSe2008/09 Richard Heinrich
 
aus unseren Sinnen und unserem Verstand? Gibt es Gefühle und Empfindungen, die sich nicht beherrschen lassen? Dostojevstik Roman fordert unser Menschenbild heraus- wir sind dazu aufgefordert, darüber nachzudenken, wer wie sind. Raskolnikovs Versuch steht für die Philosophie der Moderne, in der die Überwindung des Fleischlichen durch den Intellekt angestrebt wird. Der Staatsanwalt Porfiri sagt an einer Stelle im Roman „Natur fügt sich unserer Form spekulativem Denkens nicht“ - und drückt damit genau das aus, was Raskolnikov am eigenen Leibe- im wahrsten Sinne des Wortes- erlebt. Wissen, das sich nicht in Einklang mit der Natur befindet, lässt sich nicht anwenden. Das Werden der Natur ist ein Werden, das sich nicht unter Prinzipien der reinen Vernunft unterwerfen lässt. Was auch immer das Wesen dieses „Werdens der Natur“ genau sein mag, ebenso wie unsere Leibliche Exposition, ist seine Einflussnahme auf unser Leben nicht zu leugnen. Raskolnikov versucht sich durch seine Theorie von seiner Physis zu trennen und in dem Augenblick als er wieder mit ihr in Verbindung (in der Gestalt der Sonja verkörpert) tritt, wendet er sich dem Denken der Moderne wieder ab.
 
Der Wunsch sich unabhängig vom Körper zu machen, ganz der Ratio, dem Verstand, zu gehören und sich selbst vollkommen kontrollierbar und berechenbar zu machen auf diese Weise, ist ein Gedanke, der verführerisch wirkt, wenn man sich ansonsten mit einer chaotischen Welt konfrontiert sieht. Der Mensch ist wie Böhler sagt, immer exponiert- wir sind uns selbst und dem Rest der Menschheit zu jeder Zeit ausgeliefert. Wir berühren einander. Wir kollidieren mit und driften durch eine Welt, die wir verstehen wollen, gleichzeitig aber niemals ganz verstehen, geschweige denn kontrollieren können. Die Welt kontrollieren zu wollen und gleichzeitig zu wissen, schon daran scheitern zu müssen, sich selbst zu kontrollieren, ist ein Dilemma. Das Streben nach eigener Berechenbarkeit, dadurch das Selbst vom Verstand dominieren zu lassen und den Leib zu entmachten, kann wohl als eine Strategie gesehen werden, die der Mensch anwendet, um sich wahre Erkenntnis zu verschaffen und eine allgemeingültige Wahrheit zu finden. Ob es wahre Erkenntnis jedoch tatsächlich geben kann, und wenn ja, ob es dann auch der richtige Weg ist, sich ihr allein auf Verstandesebene zu nähern, ist fraglich. Es wird nach allgemeinen Prinzipien des Seins gesucht. Das Leibliche wird als ein Störfaktor behandelt, den es auszuschalten gilt. Leib ist störend und der Erkenntnis hinderlich. Diese Ansicht ist problematisch in Anbetracht unserer leiblichen Exponiertheit. Da wir unserem Körper doch nicht entfliehen können, da er uns immer dominiert solange wir ihn haben, sollte man vielmehr versuchen sich in Einklang mit
 
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dem Leiblichen zu bringen, nicht dagegen ankämpfen. Es muss eingesehen werden, dass der Körper zu uns gehört, nicht nur ein lästiges Anhängsel sondern elementarer Bestandteil des Selbst ist. Wir SIND auch Körper. Und haben ihn nicht nur. Möglicherweise liegt der Fehler darin, dass der Mensch sich in seine Teile aufzugliedern versucht- anstatt sich als ein Ganzes zu verstehen. Die Frage was das Ich ist- wie viel Körper, wie viel Geist, wie viel untrennbare Symbiose von beidem, ist hochinteressant und unumgänglich für die Philosophie. Von was für einem Menschenbild man ausgeht, bedingt schließlich letztlich alle weiteren Überlegungen zu philosophischen Fragen. Böhler erklärt die Ethik als Notwendigkeit, durch unsere Körperlichkeit. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir anderen bewegnen sollen, da wir nicht vermeiden können ihnen zu begegnen.
 
Dostojewskis Roman stellt eindrucksvoll die Abhängigkeit des Menschen vom Leiblichen dar, vielmehr die Untrennbarkeit von Geist und Leib. Es wird das Scheitern des modernen Gedankens der Loslösung vom Körper gezeigt- ohne jedoch Antworten zu geben auf diese scheinbar unüberwindbare Abhängigkeit oder Wechselseitigkeit. Vielleicht gibt es keine Antwort, da jede Antwort sich nur vom Verstand her geben ließe, wenn jedoch der Körper nicht durch den Verstand allein zu verstehen und zu lenken wäre, so fehlte uns ein geeigneter Modus des Verstehens. In „Schuld und Sühne“ kommt Raskolnikov zu dem Fazit, dass es etwas in uns gibt, was wir nicht vom Verstand her kontrollieren können- Der Leib gewinnt über den Verstand.
 
Bedeutet das nun, dass wir vielleicht gar nicht darüber nachdenken können? Gibt es einen Teil in uns, den wir uns selbst nicht erschließen können? Kontrollieren wir unser Denken oder kontrolliert es uns?
 
Mit dem Körper zu philosophieren und nicht gegen ihn ist unumgänglich, es sei denn man ignoriert unsere menschliche Abhängigkeit vom Leiblichen. Wie aber kann man in der Philosophie etwas ausblenden, was offenkundig in jedem Moment unseres Daseins zu Tage tritt? Wie lässt sich der Körper ignorieren? Es erscheint als ein kurioser Gedanke dies überhaupt zu wollen, da wir alle, die wir leben und bewusst am Leben bleiben, unserem Körper doch Pflege angedeihen lassen müssen, unseren leiblichen Neigungen zumindest bis zu einem gewissen Grade nachkommen. Wir sehen ganz von selbst ein, dass wir unseren Körper brauchen- wäre dies nicht so, könnten wir nicht so selbstverständlich unserem Alltag nachgehen wie wir es tun. Wie ist es nun mit den Anlagen in uns, die sich nicht rational
 
Sarah Jakobsohn 0747959 Übung Methoden der Philosophie WiSe2008/09 Richard Heinrich
 
erklären lassen? Warum haben wir bestimmte individuelle Neigungen, die zu haben wir doch nicht verpflichtet wären von Verstandes wegen? Ängste, Sym- und Antipathien, Interessen, Geschmack. Es erscheint in Anbetracht der Vielzahl an Unerklärlichem stark vereinfachend alles auf den Verstand reduzieren zu wollen. Bei diesem Versuch wird viel dem Menschen Zugehöriges ausgeblendet. Auch Raskolnikov begeht mit seiner Theorie den Fehler die menschliche Natur zu unterschätzen. Er teilt die Menschheit in Freie und Unfreie ein und begründet allein in dieser vermeintlichen Freiheit, die die einen zu gebrauchen fähig, die anderen hingegen unfähig sind, diese Kategorien. Er blendet die Ethik aus, da er davon ausgeht, ein Freier bedürfe keiner Ethik, er müsse keine Regeln verfolgen, sondern kreiere seine eigenen Regeln. Ein Freier sei unabhängig vom Rest der Menschheit, was ihn überhaupt erst zu einem Menschen erhebt, die anderen als Untermenschen klassifiziert.
 
Die auf Ästhetik beruhende Ethik, die Böhler beschreibt, erscheint als ein interessanter Ansatzpunkt zum Thema Ethik. Hier wird Ethik nicht als von Natur aus vorherbestimmte Notwenigkeit, sondern als eine Konsequenz aus unserer menschlichen Existenz gesehen, die der Mensch erst entwickelt, um mit seiner Exponiertheit fertig zu werden. Ohne Exponiertheit keine Ethik- aber da dieser Fall undenkbar ist, ist eine menschliche Existenz ohne die Frage nach Ethik stellen zu müssen ebenso undenkbar.
 
  
 
 
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Aktuelle Version vom 10. Juli 2019, 07:45 Uhr