Wikis im Lehrbetrieb (BD14): Unterschied zwischen den Versionen

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Aktuelle Version vom 25. Oktober 2014, 07:53 Uhr

<root> <div class="toc"> Bildung und Datenbanken (Vorlesung Hrachovec, WS 2014)

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Exzerpte aus Zwei Stunden und der Rest der Woche. Bemerkungen zur Wiki-Pädagogik

Vergleiche auch


professionell

Naturgemäß werden die Unterschiede zu eingespielten Verhältnissen schneller und leichter wahrgenommen, als diese Vorgegebenheiten selber. Mobiles Lernen - zu Hause, unterwegs und in selbstgewählten Zeitsegmenten - steht in plastischem Kontrast zur Welt der Klassenzimmer und Hörsäle. Die Aussichten sind sensationell, ein Umbruch des Erziehungswesens könnte bevorstehen. Das virtuelle Seminar und die Vorlesung, an welcher Hörerinnen über das Internet live teilnehmen, scheinen ungeahnte Perspektiven zu eröffnen. Der Eindruck täuscht. Als Datenstrom im Kabel ist ein Vortrag ebenso interessant bzw. uninteressant, wie der Download des Treibers einer neuen Graphikkarte. Das technische Szenario ist nur unter einer Bedingung pädagogisch interessant: der Universitätsbetrieb, seine historische Entwicklung und seine sozio-ökonomische Einbettung in den Lebenszusammenhang westlich geprägter Gesellschaften muss als Bezugspunkt festgehalten werden. Mindestens ebenso wichtig wie „Innovationen“ sind darum Entdeckungen, die daraus entstehen, dass „vertraute Zusammenhänge“ in neuem Licht erscheinen. Die Attraktivität des Neuen und die vertiefte Wahrnehmung des Alten sind aufeinander angewiesen.

Jacques Derrida hat unlängst das Bekennen („professer“) als einen zentralen Bestandteil des Universitätsgedankens hervorgehoben:

"Man muß ausdrücklich hervorheben, daß konstative Äußerungen und rein wissensvermittelnde Diskurse, in der Universität oder wo immer, als solche nicht der Ordnung der profession in diesem strengen Sinne angehören. Sie sind vielleicht Sache des "Metiers", des "Handwerks" (Kompetenz, Wissen, Sich-auf-etwas Verstehen), aber nicht des Berufs im strengen Sinn dieser profession. Der Professionsdiskurs ist stets, auf die eine oder andere Weise, eine freie profession de foi; er überschreitet die Ordnung des reinen techno-wissenschaftlichen Wissens im bindenden Übernehmen einer Verantwortung. Professer heißt sich verpflichten, indem man sich erklärt, indem man sich für etwas ausgibt - und hingibt, indem man verspricht, dieses oder jenes zu sein." Die unbedingte Universität

Der pathetische Ton sollte nicht von einem prosaischen Umstand ablenken. Persönliche Anwesenheit und - damit verbunden - individuelle performative Handlungen der Lehrenden und Lernenden machen konventionell den Kern des Studiums aus. Lernbehelfe (Mitschriften, Folien, Tonbandaufnahmen etc.) konnten diese Vorgänge bestenfalls ergänzen. Die Funktion des digitalen Datenaustausches liegt nicht auf dieser Ebene. Er bietet Gelegenheit, die physische Gegenwart der beteiligten Personen nicht bloß durch „Gedächtnisstützen“ zu ergänzen, sondern in eine „Telepräsenz“ auszuweiten. In elektronischen „Lernplattformen“ bewegen sich die Akteure ungebunden vom traditionellen Wochenprogramm. Die Emphase Derridas ist vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen zu verstehen; als Rückbesinnung auf akademische Qualitäten, die zu verblassen drohen. Handarbeit gegen Maschinenfertigung.


Einmal die Woche

Das Erziehungssystem war bisher eindeutig durch ein Angebot von Lehrstunden definiert. Zu vereinbarten Zeitpunkten treten Instruktorinnen (m/w) auf und geben ihr Wissen bzw. ihre Fähigkeiten weiter. Für Hausaufgaben und Selbststudium ist zusätzlich Zeit aufzuwenden, aber sie unterliegt dem Takt der Präsenzveranstaltungen. Hochschuldidaktik nach diesem Muster passt in eine Welt, in der einmal am Tag die Zeitung erscheint und Obst nur in jener Jahreszeit zu kaufen ist, in der es in einer gegebenen Klimazone reift. Das Verhältnis einer gängigen Lehrveranstaltung zum Rest der Woche ist - in Stunden ausgedrückt - 2:166. Durch digital vernetzte Hilfsmittel ändert sich die Praxis, der entsprechend der Lehrauftritt bestenfalls um einige Zusatzstunden in die Woche hinein verlängert wird. Der Wechsel betrifft nicht in erster Linie das Stundenausmaß, sondern die prinzipielle Abstimmung der Zeitsegmente. Eine internetbasierte pädagogische Veranstaltung greift prinzipiell auf alle 168 Stunden zu. (E-Mail kommt nicht einmal pro Tag.) Dieser bemerkenswerte Umschwung ist noch wenig durchdacht.

Ein Aspekt ist einfach und unkontrovers. Lehrmittel, die bisher in Einzelstücken zur Verfügung standen und großteils an den Wochenplan gebunden waren (Tafelskizzen, Handouts, Folien ...), sind ohne Zeitbeschränkung zugänglich. Skripten können durch digitalisierte Tonaufzeichnungen umstandslos und kostengünstig ersetzt werden. Das sind Beispiele des klassischen Fortschritts, die sich gut zur Anpreisung einer neuen Entwicklungsphase eignen. Sie lassen sich allerdings nicht ohne Schwierigkeiten auf andere Erfordernisse der pädagogischen Situation übertragen. Die Möglichkeit zeitlich uneingeschränkten Datenzugriffs kann natürlich nicht bedeuten, dass auch die Beteiligten in dieser Zeitspanne ständig adressierbar sind. Doch hier verschwimmen Grenzen. Es handelt sich nicht bloß um Dateien, die praktischerweise am WWW zugänglich gemacht werden. Kommunikation über E-Mail oder die Diskussion in Web-Foren und Chat-Sitzungen verbinden die Teilnehmerinnen (m/w) auch während des extra-universitären Wochenverlaufes. In der „Gründerzeit“ ist diese Ausweitung der Reichweite von Lehrveranstaltungen oft als selbstverständlich hingenommen worden. Mit der Konsolidierung solcher Interventionen im Normalbetrieb wird ein zusätzliches Problem sichtbar. Wem „gehört“ die Zeit für diese ausserplanmäßigen elektronischen Kontakte? Nach welchem Reglement verlaufen die Übergänge zwischen den zweistündigen Segmenten und dem realen Engagement, das virtuelle Gemeinschaften verlangen?

Nach der bisherigen Praxis stünden auch die komplementären pädagogischen Episoden unter dem Einfluss der Lehrpersonen. Die hierarchische Rollenverteilung des persönlichen Unterrichts setzt sich in diesem Fall unter veränderten technischen Bedingungen fort. Die Entwicklung von tendentiell flächendeckend angebotenen „Lernplattformen“ folgt diesem Muster. Solche Einrichtungen bieten einen zentral steuerbaren "Cocktail" digitaler Lehrmittel. Dokumente, Diskussionen, Mail-Kontakte, Chats, (Selbst-)Tests, Glossare u.a. können zur Bereicherung der Kernprozesse angeboten werden. Die Diversität des Angebotes erfordert eine übersichtliche Benutzerführung, in der die Optionen auf einen durchgängigen Zweck - das Lehrziel - fokussiert bleiben. Für hunderte Lehrveranstaltungen mit (bisweilen) hunderten Teilnehmerinnen wird die elektronisch unterstütze Didaktik daher zu einer weiteren Begegnung mit „content managment“, vergleichbar der Urlaubsbuchung oder der on-line Buchbestellung, die ja auch eine Reihe interaktiver (und belehrender) Submodule anbietet. Lernplattformen garantieren eine pädagogisch gezähmte Web-Unterstützung. Sie sind freilich nicht das einzige Modell für diesen Aufgabenbereich.

Weder die Fortschreibung der Pädagogenfunktion, noch die Regulierung des elektronischen Kommunikationsfeldes durch fix strukturierte HTML-Seiten sind selbstverständlich. Sie haben sich aus dem Interesse der großen Ausbildungsinstitutionen an leicht administrierbaren und standardisierbaren digitalen Werkzeugen entwickelt. Das Internet stellt noch ganz andere Mittel zur Verfügung, die sich allerdings weniger gut in das lehrerzentrierte Paradigma einpassen. Gewöhnlich wird übersehen, dass die Protokollfamilie, die auf TCP/IP aufsetzt, alles andere als eng definierte Ausbildungsgruppen unterstützen soll. Der Fernzugriff auf Rechner (Telnet, ssh), die globale Distribution von Nachrichten und Dateien (NNTP, FTP) und der schriftliche Meinungsaustausch in Echtzeit (IRC) sind Beispiele für die Vielfalt des möglichen elektronischen Transfers. In dieser Umgebung wirken die eLearning-Plattformen mit ihren Kontrollvorkehrungen und auf spezielle Inhalte zugeschnittenen Prozeduren wie „gated communities“ in einem gefährlichen, zumindest unerwünschten, Umfeld. Sie sind gleichsam die Aussenposten der Hochschulen im Tagesgeschäft der Wissensvermittlung. (Fragen von Autorenrechten, Copyright und „fair use“ spielen dabei eine zunehmend wichtige Rolle.) Quer zu dieser Entwicklung steht das Interesse an Protokollformen und sozialen Konfigurationen, die mehr Gestaltungsfreiheit für die Benutzerinnen zulassen.


Content Managment und Wiki-Webs (strukturell)

Hilfreich sind in diesem Zusammenhang programmtechnisch vergleichende Anmerkungen zum Verhältnis der Software-Lösungen. Lernplattformen setzen eine Trennung von Inhalt und Kommunikation um. Dazu werden verschiendene Module integriert:

  • zum Verwalten von Inhalten: Content Management Software (CMS)
  • zur Kommunikation: Forum Software etc.
  • Module zur Projektorganisation: Terminverwaltungen etc.

Entspricht das der Situation in der Lehre, bzw. deren Aspekten die durch internetbasierte Software untersützt werden können? Die Trennung basiert auf einem Modell, nach dem einem vorgegebenen „Stoff“, der sich z. B. in Schulbüchern findet, die Vermittlungstätigkeit („Diskussion“) des Lehrenden mit Fragen der Lernenden („das habe ich nicht verstanden“) und Fragen des Lehrenden (zur Kontrolle ob die Inhalte „richtig“ gelernt worden sind) gegenübersteht. Diese Auffassung von Diskussion läßt kaum Spielraum zur Modifikation der Inhalte offen.

Man kann sich die Frage stellen, ob ein solches „Wissens-Abfüll“-Modell von Lehre und Lernen dem Konzept „Bildung“ gerecht wird. Wie auch immer man das sieht, es liegt auf der Hand, dass es nicht für jede Art von Lehrveranstaltung passt. Im universitären Bereich, im Spektrum zwischen überlaufenen (Massen-) Einführungsveranstaltungen und spezialisierten Seminaren für Höhersemestrige, muss möglicherweise Fall für Fall geprüft werden, ob die Struktur der Software dem angestrebten Vorhaben entspricht. Die zur Unterstützung der Lehre eingesetzten Programme, die auf einem bestimmtem Modell basieren, sind nur dann für von diesem Modell abweichende Lehrveranstaltungen geeignet, wenn sie entsprechend flexibel sind. Das ist bei Lernplattformen nicht der Fall.

Es handelt sich um Software, in welche konkrete Strukturen und Abläufe einprogrammiert sind. (Vor allem die Trennung von Content und Kommunikation sowie die Hierachie von Studenten, Tutoren und Dozenten.) Innerhalb gewisser Grenzen lassen sich in der Konfiguration Anpassungen vornehmen oder Workarounds finden. Darüberhinaus - und das kann sehr schnell gehen - braucht man einen Programmierer, der die gewünschte Struktur- oder Prozessänderung in der Software implementiert, soweit das die Architektur (bzw. ihre Lizenz) überhaupt zulassen.

Wikis sind (was das betrifft) anders. Sie setzen nicht bestimmte organisatorische Strukturen oder Abläufe um, sondern stellen Werkzeuge für das einfache Erstellen und Verwalten von (untereinander verlinkten) HTML-Seiten zur Verfügung. Änderungen der Strukturen und Abläufe benötigen in Wikis (in denen mehrere Autoren beteiligt sind) die Koordination der Benutzer, nicht die Dienste eines Programmierers. Der Einsatz von Wikis bringt (im Vergleich mit Lernplattformen) also Flexibilität, verlangt im Gegenzug dazu allerdings den Verzicht auf bestimmte automatisierte Features wie etwa das automatische Aufrechterhalten von Hierarchien

Wiki Features

Technisch kombinieren Wikis das „on the fly“ Anzeigen von Webseiten (also dynamische HTML-Seiten) mit folgenden grundlegenden Features:

  • eine sehr einfache Möglichkeit Webseiten zu erstellen, zu verlinken und zu verändern (Wikimarkup, in neueren Wikis auch wysiwyg Editoren).
  • eine Versionsverwaltung inklusive der Möglichkeit aktuelle Änderungen zu verfolgen (in manchen Wikis auch RSS, Verständigung per EMail).
  • eine Suchfunktion (Titel, Volltext).

Wikis sind also nicht ein bestimmtes Programm, sondern eine Programm-Art wie Lernplattformen. (Es gibt unzählige Wiki-Implementierungen, zum Teil leider mit verschiedenen Wiki-Markups.)


Vergleich mit kommunikationsorientierter Software

Mit kommunikationsorientierter Software (bzw -modulen) wie EMail (inklusive Mailinglisten samt Archiven), Usenet, Forum und Blog teilen Wikis die Einfachheit, mit der anderen Personen Inhalte zur Verfügung gestellt werden können und die damit verbundende niedrige Einstiegsschwelle.

Kommunikatiosorientierte Software ist gekennzeichnet durch jeweils abgeschlossenen Beiträge die nach Datum, Zeit, Autor und eventuell Thread strukturiert sind. In Wikis ist diese Struktur nicht vorgegeben. Zur kommunkationsorientierten Verwendung empfiehlt es sich, Beiträge (manuell) mit Datum und Autor zu kennzeichnen.

In kommunikationsorientierter Software werden oft bei Bezugnahme auf bestimmte Textstellen in vorhergehenden Beiträgen ab einer gewissen Grösse Abschnitte kopiert und mit '>' Zeichen ausgewiesen, um den neuen Kommentar zu verorten. In einem Wiki können Kommentare (oder neue Argumente) punktgenau im Beitrag, auf den man sich bezieht, platziert werden. Sollte dadurch der Textfluss des Originalbeitrages gestört werden, besteht auch die Möglichkeit, statt dessen einen Link auf eine neue Seite einzufügen. So wird problematisches Kopieren überflüssig, und Kommentare bzw. Argumente finden sich genau an den Stellen, auf die sich beziehen, und nicht verstreut in nachfolgenden Beiträgen oder Subthreads.

Diskussionen in kommunikationsorientierter Software tendieren zur Unübersichtlichkeit. Interssante Entwicklungen oder sich abzeichnende Lösungen irgendwo in einem Subthread sind für Neueinsteiger schwer auszumachen. In Wikis ist es durch Restrukturierung möglich, Diskussionen übersichtlich zu halten, um auch Neueinsteigern einen Zugang zu einer Diskussion zu ermöglichen, oder um zu verhinden dass sich eine Diskussion verläuft. Wenn allerdings ein ensprechender Restrukturierungsaufwand nicht aufgewendet wird, Regeln der Zusammenarbeit nicht klar (dokumentiert) sind, oder nicht eingehalten werden, übersteigt das Ausmaß an Unübersichlichkeit und Chaos, das in einem Wiki erreicht werden kann, jenes von (z.B.) Foren beträchtlich.

Eine Einschränkung kommunikationsorienterter Software betrifft die kontinuierliche Entwicklung von Inhalten derart, dass die Zwischenresultate anderen zur Verfügung stehen und später wieder überarbeitet werden können, sowie das Ändern von Inhalten (nach dem sie anderen zur Verfügung gestellt wurden). Auch wenn manche Foren Administratorinnen, Moderatoren oder Beitragsautorinnen Änderungsrechte einräumen, ist das auf Grund fehlender Versionierungfeatures ausser in Sonderfällen (für die das Feature gedacht ist) kaum praktikabel, weil die Leserinnen (m/w) nicht nachvollziehen können, wo welche Änderungen oder Entwicklungen stattgefunden haben.

Eine weitere Einschränkung kommunikationsorienterter Software ergibt sich aus der Beschränkung auf jeweils abgeschlossene Beiträge ohne innere (verlinkte) Seitenstruktur bzw. ohne mit anderen Beiträgen eine Struktur aufbauen zu können, die über die vorgegebene Datum, Zeit, Autor, Thread Struktur hinausgeht. Nicht alle Inhalte lassen sich in diesem Rahmen sinnvoll entwickeln und diskutieren.

Vergleich mit contentorientierter Software

Mit contentorientierte Software (CMS, entsprechende Komponente von Lernplattformen) teilen Wikis die Möglichkeit, Strukturen aufbauen zu können, genauer: mehrere untereinander verlinkte Seiten zu erzeugen. (Manche Wikis unterstützen auch den Aufbau hierachischer Strukturen).

Contentorientierte Software zwingt meist dazu, sich vor dem Bereitstellen von Inhalten eine Struktur zu überlegen. Der Hintergedanke ist, Desorientierung durch unstrukturierte oder schwach stukturierte Beiträgen gar nicht erst zuzulassen. Entwicklungen in der Praxis laufen allerdings oft so ab, dass Inhalte zuerst anfallen und zur Verfügung gestellt werden müssen, und nur nachträglich eine passende Struktur entwickelt werden kann. Häufig werden auch bestehende Strukturen durch spätere Entwicklungen obsolet, sodass die Inhalte ensprechend neu zu fassen sind. Wikis zwingen nicht zu einer überschaubaren Ordnung, aber sie ermöglichen sie. Und im Gegensatz zu contentorientierter Software ermöglichen Wikis die Restrukturierung von bestehenden Inhalten mit vertretbarem Aufwand.

Allgemein lassen Wikis Inhalte kontinuierlich entwickeln (optional gemeinschaftlich mit Mitautoren) und erlauben, auf aktuelle Anforderungen einzugehen (jeweils auch in bereits bestehenden Inhalten). Durch die Versionierungsfeatures ist es den Leserinnen (m/w) (oder Mitautoren) möglich, diese Änderungen nachzuvollziehen. In Lernplattformen gibt es die Möglichkeit, Teilnehmerinnen (m/w) von Änderungen zu verständigen. Das ist einfach, wenn größere, zusammenhängende Teile dazugekomnmen sind. Bei einzelnen, verstreuten Änderungen ist das jedoch wenig praktikabel.

Existenzialismus

Die Möglichkeit, überall hin zu gehen, provoziert die Frage, wohin speziell zu gehen in einer gegebenen Situation vertretbar ist. Der anarchistisch-defätistische Aspekt eines solchen Zustandes ist in der Song-Zeile Kris Kristoffersons erfaßt: „Freedom is just another word for nothing left to loose.“ Wiki-Webs bieten Bewegungsfreiheit weitgehend ohne strukturelle Sinnvogaben, man könnte das die existenzialistische Implikation dieser Kommunikationsform nennen.

Aber wenn wirklich die Existenz der Essenz vorausgeht, so ist der Mensch verantwortlich für das, was er ist. Somit ist der erste Schritt des Existenzialismus, jeden Menschen in Besitz dessen, was er ist, zu bringen und auf ihm die gänzliche Verantwortung für seine Existenz ruhen zu lassen. Und wenn wir sagen, dass der Mensch für sich selber verantwortlich ist, so wollen wir nicht sagen, dass der Mensch gerade eben nur füer seine Individualität verantwortlich ist, sondern dass er verantwortlich ist für alle Menschen.

Diese Betrachtung formuliert eine Herausforderung, die sich auch in die Praxis der digitalen Kommunikation über das Web übersetzen läßt. „Zunächst und zumeist“ (eine Phrase Martin Heideggers) sind Surfer mit vorgeprägten Angeboten konfrontiert. Ein Wiki kann dazu dienen, den Blickpunkt zu verschieben. All die bekannten Webauftritte sind sekundär angesichts der Entdeckung, dass es die Möglichkeit gibt, ohne Voraussetzungen eigene Seiten zu schreiben. Dass dieser Individualismus normalerweise formal und inhaltlich dünn ausfällt und schnell auf externe Vorgaben (Autorensysteme, Zitate, Gruppenbildung) zurückgreift, ist sicher richtig und wird von Sarte mit der großen Geste der Verantwortung für alle Menschen eingestanden. Das WWW bildet die polit-ökonomische und kulturelle Verfassung des Globus in einer multimedialen Informationsumgebung ab. Es realisiert in dieser Dimension gewissermaßen (der „digital divide“ soll nicht geleugnet werden) die Idee der „ganzen Menschheit“. Die Ohnmacht der Einzelnen gegenüber dem Ensemble scheint eklatant zu sein. Die Freiheit des (kooperativen) Schreibens versetzt den Akzent.

Die radikale Kontingenz der menschlichen Entscheidungen bedeutet nicht, dass alle grundlos wären, sondern - im Gegenteil – dass ihre Gründe einen unvergleichlichen Nachdruck erhalten. „Anything goes“ ist insofern ein polemisch halbierter Slogan. Ohne die kritische Orientierung an einem Kanon versinkt die Abweichung leicht in der Bedeutungslosigkeit. Dem Existenzialismus ist entgegengehalten worden, dass es keine unmittelbare, kontextlose Handlung geben kann; wir stehen „immer schon“ in sozio-historischen Zusammenhängen. Die Eigentümlichkeit, die wir an Wiki-Webs gefunden haben, legt eine Antwort nahe: beides ist festzuhalten, die Zwanglosigkeit und die Kontextualisierung.

An zahlreichen Orten produziert das Internet (wie alle Massenmedien) unqualifizierten, uninteressanten Datenüberschuss. Als digitales Kommunikationsinstrument ist es in der Lage, solche Akkumulationen in iterativen Arbeitsdurchgängen zu sortieren und zu bewerten. Dabei treffen die beiden Einflussfaktoren aufeinander, nämlich die großangelegten Apparate zur Meinungsbildung und die zahllosen Einzelpositionen mit Stimmrecht. Die Zukunft des WWW wird in diesem Abgleich entschieden. Thesenhaft formuliert: „Qualität“ entsteht dann nicht durch das Gütesiegel einer externen Prüfinstanz, sondern durch Selbstorganisation im vernetzten System. Wikis demonstrieren die Gesetzmäßigkeiten, die dabei im Spiel sind.

Der Unterricht an Hochschulen ist ein instruktives Beispiel dieses allgemeineren Gesichtspunktes. Zweckorientiertes Vorgehen ist eine Organisationsform gesellschaftlicher Ordnungen. Es verlangt Zielvorgaben, Ressourcenabschätzung, Strategie, Planerfüllung und Evaluation. Moderne Sozietäten wären ohne solche Regelmechanismen unmöglich. Gleichzeitig ist bekannt, dass eine akzeptable Existenz in diesem Rahmen nicht aufgeht. Gedanken und Gefühle entwickeln sich spontan, Gemeinschaften sind keine Zweckbündnisse, die Integration von Planvorgaben in Lebensverläufe ist selbst schwer planbar. Unter dem Stichwort „Bildung“ wird diese Diskrepanz zwischen selbstgestecktem Sinnhorizont und technoider Steuerung seit langem diskutiert. Auch wenn der Existenzialismus die leere Fassade des Bildungsbetriebs diskreditierte, ist sein Impuls aus dem klassischen Bildungsideal nicht wegzudenken: es bezieht sich auf ein lernfähiges Individuum. Die Einführung digitaler Kommunikationshilfen im Hörsaal steht in Verdacht, eine Bastion der hergebrachten Bildung einnehmen zu wollen. Sieht man genauer hin, so bietet sich ein differenzierteres Bild. Tatsächlich können Lernplattformen den pädagogischen Prozess in bisher unbekannter Weise modulieren. Standardisierter „Lernstoff“ und die detaillierte Kontrolle über seine Rezeption versprechen kosteneffiziete Qualitätsverbesserung. (Ganz neu sind diese Tendenzen nicht.) Die Nachhaltigkeit eines wöchentlich 2-stündigen Seminars ist bisher in eher vagen Kategorien gefasst worden; das digitale Instrumentarium erlaubt präzisere Abschätzungen. Bestehende Praktiken werden bedenklich verstärkt. Die Kehrseite ist der existenzialistische Anstrich der Schreibweise im Wiki. Ein nicht-konventionelles Werkzeug zur Texterstellung im WWW unterläuft den (auch im überlieferten Lehrbetrieb angelegten) Dirigismus.


Bildung

Nach dem Bildungsideal, das durch techno-instrumentelle Interventionen gefährdet scheint, kommt es darauf an, in eigener Verantwortung Erfahrungen mit überliefertem Wissen zu machen, statt Informationen zu speichern. Genau diese Möglichkeit unterstützt die Wiki-Konzeption. Mehr noch: sie problematisiert den organisatorischen Überbau, der das Ideal des integrativen Lernens in Beschlag genommen hat. Mitschriften, Skripten oder Bücher sind ja vergleichsweise schlecht dazu geeignet, längerfristige soziale Lernprozesse zu unterstützen. Sie können – pro Exemplar – einer kleinen Zahl von Leserinnen helfen, Wissen in standardisierter Form aufzunehmen. Höhere Auflagen ändern nichts an diesem Individualismus, wohl allerdings führen sie dazu, dass sich gewisse Publikationen durchsetzen und einen Kanon etablieren, der auf die pädagogische Situation zurückwirkt. Weite Bereiche der Geisteswissenschaften sind von „großen Büchern“ geprägt und zeigen eine eigentümliche Spannung. Die „Hauptwerke“ der jeweiligen Disziplin repräsentieren vorbildhafte Arbeiten von Fachvertreterinnen (m/w) – in einem Fertigformat. Die Nützlichkeit solcher Zusammenfassungen ist unbestreitbar, das damit festgeschriebene Erziehungsmodell dennoch ergänzungsbedürftig. „Aus Büchern lernen“ kann nicht mehr der zentrale Vorgang sein. Die Möglichkeiten, on-line Beiträge zu rezipieren, kommentieren und umzuschreiben bewirken ein neues Verständnis vorgegebener Texte und ihrer Rezeption.

Wikis sind eine Technik, die das Lernen näher an das klassische Bildungsideal heranbringen kann, als der Einsatz von Büchern, die traditionell mit ihm verknüpft waren. Das entscheidende Motiv ist sozial eingebettete, reflexive Selbstentfaltung im Zeitverlauf. Sie schlägt sich eventuell in Büchern nieder, aber in on-line Schreibumgebungen kann sie sich ihre Eigenart besser entwickeln. „Reflexiv“ heißt: die Entwicklung wird dadurch vorangetrieben, dass die Beteiligten sich auf Vorstufen beziehen und sie angesichts erweiterter Erfahrungen modifizieren können. (Sonst wird ein Ergebnis bloß durch ein anderes ersetzt.) Diese alte Einsicht des deutschen Idealismus (um eine weitere philosophische Richtung ins Spiel zu bringen) liest sich wie eine Bedienungsanleitung für Wikis. In ihren Versionssystemen ist die Genese einer Textstelle in einem überraschend aktuellen Sinn „aufgehoben“. Der mögliche Rückgriff und die nachvollziehbare Geschichte ihrer Veränderungen machen den Gesamtprozess transparent (wenn auch ohne Gewähr für den eventuell erwünschten Fortschritt). Was die soziale Einbettung angeht, die in der Buchwelt nur symbolisch repräsentiert war (Dialoge, Erläuterungen, Übungsaufgaben), bringt die digital vernetzte Schreibumgebung einen handgreiflichen Entwicklungssprung, der keineswegs ein virtuelles Supplement zu einer realen Konstellation ist. Die Gelegenheit, faktisch jederzeit, gegenseitig und grenzenlos in die Arbeitsprozesse von Kolleginnen einzugreifen, hat es bis vor 20 Jahren nicht gegeben. Die künftige Bedeutung des Bildungsbegriffes wird sich daran entscheiden, wie er diese Neuigkeit integriert.