Benutzer:H.A.L./Moralbegründung bei Tugendhat: Unterschied zwischen den Versionen
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Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
Ich denke, bevor wir die Moral von der Geschicht endgültig festlegen, sollte ich einmal darlegen, aus welchem Mindset heraus ich die Gyges-Geschichte interpretiert habe. Die Kernfrage, die ich hier sehe, ist: Wenn ich ungerechte Situationen zu meinen Gunsten herbeiführen bzw. ausnutzen kann bzw. meinen Vorteil auf Kosten anderer verfolgen kann, ohne nachteilige Konsequenzen zu fürchten, warum sollte ich dann mein eigenes Wohl zugunsten anderer hintanstellen?
Mein Hauptbezug in moralphilosophischen Fragen ist derzeit Ernst Tugendhat mit einigen jüngeren Texten über Moralbegründung, die ich vor längerer Zeit gelesen / gehört habe. Das ist nicht zuletzt wieder aktuell geworden, weil ich gerade wieder ein Seminar über Tugendhat mache. Wenn auch nicht über seine Moralphilosophie.
Jedenfalls habe ich mir zwei seiner Vorträge noch einmal vorgenommen und bin sie durchgegangen. Und habe festgestellt, daß das, was ich eigentlich suche, in einem ganz anderen Text steht. Schließlich habe ich meine Zusammenfassung dieses dritten Textes - der Aufsatz "Wie sollen wir Moral verstehen?" von 1999 - mit einigen Zitaten und ein paar Kommentare eingestellt. Die Zusammenfassungen sind grün unterlegt, die Zitate gelb. (Was für uns relevant ist, steht vermutlich am ehesten in meinen zusätzlichen Anmerkungen, den ganzen farbigen Teil kann man also mehr als Hintergrund ansehen.)
Dabei stellt sich die Frage, wie sich "Moral" zu "Gerechtigkeit" verhält, allerdings läuft es gerade bei Tugendhat darauf hinaus, daß beides bis zu einem gewissen Grad ineins fällt. Ansonsten könnte man vielleicht aus Platon heraus eine Beschreibung eines gerechten Staats lesen - d.h. eines Staats, in dem eben nicht der Ungerechte den meisten Ruhm erntet - oder eine Abhandlung über individuelles Handeln. Ich selber bin immer unwillkürlich von letzterem ausgegangen. Allerdings läuft unsere Story auch darauf hinaus, da es von vornherein beide Sphären gibt und die Frage ist, für welche sich Gyges persönlich entscheidet.
Eine Schwierigkeit hat sich aus dem nicht ganz eindeutigen Begriff von Moralbegründung ergeben. Stefan Gosepath hat anscheinend dieses Problem in seinem Aufsatz "Tugendhats Konzeption moralischer Begründung und Motivation" (aus dem Band Ernst Tugendhats Ethik) behandelt. Ich bin noch nicht dazugekommen, ihn zu lesen, aber zumindest aus der Einleitung kann ich zitieren:
[S. 153] In Ernst Tugendhats umfassender Moralkonzeption hat sich - trotz einiger Retraktationen - ein Element konstant durchgehalten, von dem man annehmen muß, daß es einer Grundüberzeugung Tugendhats entspricht. Gemäß dieser von mir unterstellten Überzeugung müssen moralische Handlungsgründe sowohl die Handlung als moralisch erlaubt bzw. geboten rechtfertigen als auch die handelnde Person zu der entsprechenden Handlung motivieren. Rechtfertigende Gründe sind solche für die Wahrheit von Aussagen; motivierende Gründe, genauer Ursachen, sind solche, die für das Ausführen einer bestimmten Handlung bzw. retrospektiv für eine bestimmte Erklärung der Handlung sprechen. Die von Tugendhat in immer neuen Anläufen gesuchte Moralkonzeption soll also eine Begründung im Doppelsinn von Rechtfertigung und Motivation liefern können.
Ich habe mir die Unterscheidung anhand zweier Fragen veranschaulicht, die beide das jeweilige Individuum stellt. Die erste lautet: Warum sollte ich moralisch handeln bzw. ist das gut für mich oder nicht? Die zweite: Ich möchte mich nach moralischen Grundsätzen ausrichten - welche sollen das am besten sein? Die zweite Frage wird erst relevant, wenn ich mir selbst die erste bereits beantwortet habe (nämlich nachdem ich bereits den Vorsatz gefaßt habe, moralisch zu handeln). Tugendhats Denken scheint mir eher nach der zweiten Frage ausgerichtet zu sein. Die erste steckt zwar auch mit drin (denn nach Tugendhats Meinung beantwortet die "ideale" Moralbegründung beide Fragen auf einmal), ist aber nicht ganz einfach zu finden.
Zitate aus "Wie sollen wir Moral verstehen?"
Zunächst zu den Grundlagen
Insgesamt stellt hier Tugendhat seine Auffassung von Moral ständig in Bezug zu drei klassischen Moralbegründungen - Kant, Utilitarismus, Kontraktualismus - die er ständig miteinander vergleicht. Er scheint zu zeigen, wie die drei Konzepte aufeinander reagieren. Auf diese Vergleiche bin ich jetzt weniger eingegangen, mir kam es mehr darauf an, wie sein Konzept nun aussieht als wovon es sich absetzt. Deshalb habe ich einige Stellen eher flüchtig abgehandelt. Dabei steht Tugendhat anscheinend dem Kontraktualismus am nächsten, den er aber verfeinert.
Zu Beginn drei Grundfragen. Erstens, was bedeutet überhaupt der Begriff? Zweitens, wenn es verschiedene Moralen gibt, wieso können wir dennoch von "der" Moral sprechen? Die dritte wird wohl die Frage nach der Moralbegründung werden, aber so recht verstehe ich momentan nicht, was er sagt.
Zunächst zur Begriffsbestimmung: Eine Moral ist ein System wechselseitiger Forderungen, gestützt durch affektive Wertung, das das Individuum einschränkt und deshalb vom Individuum für begründet gehalten werden muß (163f.). Dagegen könnte man einwenden, daß dieser Begriff Moral auf soziale Anpassung reduziert und damit eine moralische Eigenständigkeit ausschließt. Allerdings setzt sich eine moralisch eigenständige Person nicht einfach von der herrschenden Moral ab, sondern glaubt, daß ihre eigene Moral besser begründet ist. Es ist fraglich, ob eine nicht intersubjektiv prüfbare Moral nach dem gängigen Verständnis des Wortes überhaupt eine Moral ist. Ferner verstehen viele unter Moral altruistisches Verhalten, aber Tugendhat hält auch diese Bestimmung nicht für optimal (164-166).
164: "Der Moralbegriff, von dem ich ausgehe, enthält also eine Reihe zusammenhängender Aspekte: eine Moral in diesem Sinn ist ein System wechselseitiger Forderungen, sich ausdrückend in Sollsätzen; dieses Sollen, die 'Verpflichtung' ist abgestützt durch die Gefühle Empörung und Schuld, und zu jedem solchen System gehört ein Begriff des moralisch guten Menschen, und ein solches normatives System muß, da es den Individuen ihren Freiheitsspielraum einschränkt, von ihnen als für sie begründet angesehen werden, die Individuen fügen sich ihm nur, weil sie es für begründet halten."
Damit kommt er zur zweiten Frage: Wie kann es sein, daß es so viele Moralen gibt und daß man dennoch von "der" Moral spricht? Da eine Moral begründet werden muß, vermutet Tugendhat, daß alle Begründungen auf eine konvergieren (166). Eine Moralbegründung kann autonom oder autoritär sein. Eine autoritäre Begründung ist aber entweder keine Begründung oder sie verweist auf eine autonome Begründung (ist es gut, weil es Gott will, oder will Gott es, weil es gut ist?). Autoritäre Moralen können einander widersprechen, bei einer autonomen ist das nicht zu erwarten (166-168).
167: "Man kann bei jeder Art moralischer Begründung als Beispiel daran denken, wie Eltern einem Kind auf die Frage antworten würden, warum es so handeln 'soll', und d.h. warum sie und andere empört sind, wenn es anders handelt."
Utilitarismus, Kontraktualismus, Kant
Tugendhat kommt nun zur Frage nach einer autonomen Moralbegründung. Dabei unterscheidet man klassisch zwischen kantischer und utilitaristischer Begründung, Tugendhat möchte als dritte die kontraktualistische Begründung behandeln (168f.).
Zunächst zum Utilitarismus. Ausgangsfrage ist: Wann halten wir eine Person für gut? Antwort: Wenn sie das Wohl in der Welt maximiert. Schwächen sind nach Tugendhat, daß er Maximierung ohne gerechte Verteilung predigt, daß er Gutes-Tun und schlechtes-Unterlassen gleichsetzt (hier verstehe ich gar nicht, was Tugendhat daran stört) und daß er nur das Verhältnis zur Gesellschaft berücksichtigt, nicht das zu Individuen (169-171).
Der letzte Aspekt scheint irgendwie wichtig zu sein in Zusammenhang damit, daß die utilitaristische Frage, wie sich eine Person verhalten soll, sich aus der Frage ergeben muß, was wir voneinander fordern. "Wann halte ich eine Person für gut?" ist die selbe Frage wie "was fordern wir voneinander?" Man muß aber gleichzeitig fragen: "Was /wollen/ wir voneinander fordern?" Das betrifft die dritte Frage.
Zu Kant: Die Bedingung, daß man will, daß eine Maxime von allen befolgt wird, ist für ihre Moralität notwendig, aber nicht zureichend. Kants Fehler liegt in der Forderung, Moral ausschließlich aus der Vernunft abzuleiten, tatsächlich müssen wir empirisch fragen, was die Menschen voneinander fordern. Das bringt Tugendhat zum Ausgangspunkt des Kontraktualismus: Ich kann an andere nur Forderungen stellen, wenn ich mich meinerseits auf die ihren einlasse, daneben müssen alle Forderungen begründbar sein (171-173). Kann es sein, daß da irgendwo ein Druckfehler ist? 171: "[E]s gibt Maximen, von denen man nicht wollen kann, daß sie allgemein befolgt würden und die doch keineswegs moralisch sind." Meint er jetzt, daß nicht jede Maxime, die ich als allgemeines Gesetz will, deswegen moralisch ist, oder daß nicht jede Maxime, von der ich das nicht will, deswegen unmoralisch ist?
Glaukon als Kontraktualist
Interessant wird es ab 171, wo er auf den Kontraktualismus zu sprechen kommt. Ich finde gerade keine eigentliche ERklärung des Begriffs, aber Kontrakt heißt einfach Vertrag (und http://de.wikipedia.org/wiki/Kontraktualismus ist eine Weiterleitung auf Vertragstheorie), und der Kontraktualismus erklärt eine moralische Norm als einen Vertrag, dem man zustimmt, weil der Vorteil durch die Forderungen, die die Gegenseite mir gegenüber hat, den Nachteil durch die Forderungen, die ich der Gegenseite gegenüber habe, aufwiegt.
[172] Man kann sich diesen kontraktualistischen Ansatz wieder an Hand der Frage verdeutlichen, die ein Kind an seine Eltern stellen könnte. Nachdem sich im Gespräch des Kindes mit den Eltern die autoritären Normen als unbegründet herausgestellt haben, können die Eltern nur noch auf den Willen des Kindes rekurrieren. Sie können ihm sagen: Soll es nun also, wenn es nach dir ginge, gar keine [173] wechselseitigen Forderungen mehr geben, oder möchtest du auch von dir aus, daß bestimmte Normen gelten? Dasselbe möchten aber auch alle anderen, un du kannst nicht von den anderen erwarten, daß sie sich deinen Forderungen unterwerfen, wenn du dich ihnen nicht auch selbst unterwirfst. Wir müssen daher, wenn wir wollen, daß die selbstgewollten Normen gelten, eine moralische Gemeinschaft bilden, die darin besteht, daß wir dieses Set von Normen mittels unserer Disposition zu Empörung und Schuld und einem durch sie bestimmten Begriff der guten Person aufrechterhalten. "Es ist", könnten die Eltern hinzufügen, "schwer vorstellbar, daß es je eine menschliche Gemeinschaft ohne diese Normen gegeben hat, und du kannst es dir also so denken, daß diese autonome Moral immer auch schon einen Kernbestand innerhalb der historischen autoritären Moralen bildete."
Das entspricht dem Ansatz von Glaukon, wenn er sagt, daß es besser ist, kein Unrecht zu tun, als Unrecht zu leiden. Das Problem daran ist, daß diese Art, Normen zu begründen, propmpt gewogen und für zu leicht gefunden wird, und zwar deswegen, weil es noch besser ist, ungestraft Unrecht zu tun, wenn man das gefahrlos tun kann - und ich habe das immer so gelesen, daß es zu viele Leute gibt, die zu oft diese Möglichkeit haben. Die Alternative wäre die perfekte Gerechtigkeit, d.h. daß nie eine böse Tat ungesühnt bleibt, und ein Zyniker könnte sagen, daß er da schon eher an das perfekte Verbrechen glaubt. Deswegen habe ich mich auch immer gegen Storyvarianten gesträubt, in denen Gyges irgendwann erwischt wird. Das entspricht der Parabel nicht. Und es würde auch Platon nicht genügen. Nach Glaukons Herausforderung ist Gerechtigkeit ein notwendiges Übel, das ich eingehe, wenn ich nichts besseres kriege, nicht das höchste Gut (359a f.). Zwar berührt es uns vielleicht weniger, daß der moralisch gute Zustand in Bezug auf das, was für mich gut ist, nicht das Optimum ist, sondern nur ein Kompromiß, aber trotzdem bleibt Glaukons Frage: Angenommen, ich werde wirklich nicht erwischt, angenommen, ich kann jemand anders übervorteilen, ohne dafür sanktioniert zu werden - warum soll ich dann zugunsten des anderen auf meinen Vorteil verzichten?
Einwände gegen den kontraktualistischen Ansatz: Erstens ist die Vertragsmetapher falsch, da wir immer schon vergesellschaftet sind. Aber die Fiktion des Naturzustands ist nur eine Folie, um zu klären, ob die gegenwärtigen Verhältnisse gerechfertigt sind. Zweitens würde Kontraktualismus das Moralische auf Egoismus reduzieren und spontanen Altruismus außer acht lassen. Aber spontaner Altruismus ist eben keiner, den andere von mir fordern, und damit zunächst nicht Gegenstand der Moral (173f.).
Trittbrettfahrer und Internalisierung
Drittens: Wie kann bei einem Konzept, das Moral auf vormoralische Motive aufbaut, die Entstehung eines Gewissens begründet werden? Tugendhat antwortet, daß wir einander nicht nur auf das Regelsystem verpflichten, sondern auch auf Empörung; diese Empörung wird mit der Zeit internalisiert, zumal wenn das Individuum sich nicht an die Normen hält, die es für begründet hält (174f.). Man könnte den Wunsch, sich nicht verachten zu müssen, als eine Art höheren Egoismus ansehen (statt des Willens, etwas zu tun, einfach weil es moralisch ist), aber hier sieht Tugendhat eine übertriebene Vorstellung von Selbstlosigkeit (175f.).
[174] Auch wer zugibt, daß man den moralischen Altruismus vom sympathetischen unterscheiden muß, kann zweifeln, ob nicht die egoistische Basis es dem Kontraktualismus unmöglich macht, die Ausbildung eines Gewissens verständlich zu machen. Als Gewissen bezeichnet man diejenige innere Instanz, die einen davon abhält, so zu handeln, wie man es für moralisch verboten ansieht. wie kann, so läßt sich fragen, bei einem Konzept, das die Moral auf vormoralische Motive aufbaut, diese Instanz verständlich werden? Das war gewiß einer der Gründe, warum Kant, obwohl er dem Kontraktualismus so nahestand, meinte, daß er nur unter Rückgriff auf eine absolute Instanz, die er die reine Vernunft nannte, moralisches Verhalten verständlich machen könne, und so leer in Wirklichkeit diese Idee reiner Vernunft war, so kann die Erinnerung an Kant uns davor bewahren, uns mit einem zu oberflächlichen Verständnis des moralischen Kontraktes zufriedenzugeben. Man muß nun aber sehen, daß das, worauf sich die Individuen in der Bildung einer autonomen moralischen Gemeinschaft einigen, nicht nur das Einhalten von Handlungsregeln ist, und die Forderungen lassen sich nur als affektiv abgestützt denken und im Zusammenhang mit einem Konzept der guten Person. Man wird das Vermögen zur Ausbildung der moralischen Gefühle - Empörung und Schuld - als biologisch vorgegeben ansehen müssen, sonst könnten sich Systeme sozialer Normen überhaupt nicht ergeben. Was dann durch das jeweilige Konzept des guten Menschen, sei es in autoritären Moralen, sei es in der autonomen, hinzukommt, ist, daß die Disposition zur gemeinsamen Empörung, wenn anders gehandelt wird, auf dieses bestimmte normative Set bezogen wird. Wir verlangen voneinander [175] nicht nur, so zu handeln, sondern sich an der gemeinsamen Empörung zu beteiligen, wenn nicht so gehandelt wird. Und reagiert jemand affektiv, wenn andere schlecht handeln, wird er kaum umhinkönnen, die entsprechende affektive Reaktion zu haben, wenn er selbst schlecht handelt. Wer zu der moralischen Gemeinschaft gehören will, muß wenigstens vorgeben, diese Gefühle zu haben. Natürlich können wir letztlich nicht wissen, ob jemand die Gefühle nur vorgibt, aber diese Möglichkeit, Trittbrettfahrer zu sein, muß ja in der Tat offengelassen werden, sie ist nichts Eigentümliches der autonomen Moral, sondern gehört auch zu jeder autoritären Moral.
Aber es kommt noch etwas hinzu, was ebenfalls nicht nur für die autonome, sondern für jede moralische Gemeinschaft zutrifft. Wer sich dem normativen System gemäß verhält, wird von den anderen für gut gehalten, er wird gelobt, und daran liegt es, daß das normative System - und so auch das autonome - selbst eine Motivation generiert, die vorher nicht da war, eine spezifisch moralische Motivation, die Motivation, moralisch geschätzt werden zu wollen und nicht verachtet zu werden. Geschätzt und verachtet zu werden sind Verhältnisse, die sich ebenso internalisieren lassen wie Empörung. Wer sich als mitglied einer moralischen Gemeinschaft versteht, möchte nicht nur nicht verachtet werden, er möchte auch nicht so handeln, daß er sich selbst verächtlich (verachtenswert) findet. Gewiß ist das so weit nur erst das zwar internalisierte, aber an den vorgegebnene Normen orientierte Gewissen. Aber es ist von hier nur ein weiterer Schritt zum autonomen Gewissen, dem zufolge das Individuum sich nur dann als verächtlich ansieht, wenn es diejenigen Normen verletzt, die es selbst für begründet hält. Aber so etwas wie Gewissen außerhalb dieser intersubjektiven Bezüge von Empörung, Tadel und Geringschätzung ansetzen zu wollen erscheint mir ganz unverständlich.
das Gute und das Gerechte
Zu den Unterschieden zwischen einem gewöhnlichen Vertrag und der moralischen Vereinbarung: Erstens, ein gewöhnlicher Vertrag ist ein einmaliger Akt, die moralische Vereinbarung ist dem sozialen Leben dauerhaft implizit; zweitens, bei einem gewöhnlichen Vertrag bleibt offen, wieso sich die Parteien daran halten. Drittens: einen Vertrag gehe ich ein, wenn er für mich gut ist. Eine moralische Vereinbarung betrifft das, was allen als gut gelten können soll. Damit ist Tugendhat wieder beim Utilitarismus - von dort kommt die Idee des gemeinsamen Billigens, vom Kontraktualismus die Idee, daß jeder einzelne zustimmt. Für eine Moral sind beide Aspekte notwendig (176f.).
Das führt er näher aus. Moralisch gut heißt nicht, daß etwas einfach in abstracto gut ist, auch nicht, daß es gut für A oder B ist (wie in einem Vertrag), sondern, daß es für alle gleichermaßen gut ist (177f.). Damit kommt Tugendhat zum Begriff der Gerechtigkeit. Daß eine Norm für alle gleichermaßen begründet sein muß, bedingt, daß alle gleichermaßen berücksichtigt sein müssen. Ein Vertrag kann für beide nützlich sein, ohne deswegen gerecht zu sein (178-180).
Man könnte sagen (sagt Tugendhat hier so nicht), daß im Gegensatz zu einem Vertrag in einer Moral alle die /selben/ Forderungen aneinander stellen. Das könnte wichtig für Platons Gerechtigkeitsbegriff sein. In einem Vertrag stellt z.B. A an B die Forderung, einen Tisch zu machen, B dafür an A die Forderung, ihn zu bezahlen. Jeder stellt jedoch an den anderen die Forderung, sich an die Vereinbarung zu halten. Das kann man getrost als moralische Forderung bezeichnen. Hinter unterschiedlichen Rollen, die einzelne Leute einnehmen, steht die Forderung, seine Rolle zu erfüllen. Das ist es wohl, was Tugendhat sozusagen als ein Dahinter des Vertrags vorschwebt (was mich dazu bringt, den Vertrag zu erfüllen, ist nicht der Vertrag selbst).
[178] Nun stehen wir mit dem Begriff des Guten als dem, was für alle gleichermaßen gut ist, auch schon beim Begriff des Gerechten. Ganz allgemein steht das Wort "gerecht" - auch bei autoritären Moralen - für dasjenige Begründetsein von Normen und dann auch der entsprechenden Handlungen, das speziell das Ausgewogensein zwischen den Individuen betrifft. Bei einer autoritären Moral wird, was als ausgewogen zu gelten hat, von der Autorität bestimmt und kann daher inhaltlich beliebig sein. Wird die Moral hingjegen wechselseitig autonom begründet, so kann der Maßstab der Ausgewogenheit erst einmal nur die Gleichheit sein, weil gemäß dem Prinzip der gemeinsamen Autonomie bei der Begründung jeder gleichviel zählt. Der Gerechtigkeitsbegriff der autonomen Moral ist also egalitär; das folgt zwingend aus der gemeinsamen Autonomie, was nicht heißt, daß dann nicht auch ungleiche Normen - sogenannte Proportionalitäten - als gerecht begründet werden können, aber demselben Prinzip folgend, nur, wenn durch sie Ungleichheiten in den Umständen ausgeglichen werden, und ob es so ist, kann wiederum nur im Rekurs auf das, was allen gleichermaßen begründbar [179] ist, entschieden werden. Das Prinzip des Egalitarismus besagt nicht, daß gleich verteilt werden muß (wieweit es auf materielle Verteilung bezogen werden kann, ist eine offene Frage), sondern daß in der Moral alle gleichgewichtig berücksichtigt werden müssen.
In demjenigen Kontraktualismus hingegen, der den moralischen Kontrakt nach dem Modell eines gewöhnlichen Vertrages versteht, kann sich der Begriff der Gerechtigkeit gar nicht ergeben, weil es hier keinen für die Kontrahenten gemeinsamen Maßstab gibt. Es gibt zwar auch Verträge im gewöhnlichen Sinn, die nicht nur faktisch eingegangen, sondern auch gebilligt, für gut und gerecht bewertet werden, aber das ist dann eine moralische Beurteilung, die dem Vertrag als solchem äußerlich ist. Gauthier meint zwar, in seinem System einen Gerechtigkeitsbegriff verwenden zu dürfen, aber ich halte das für eine Inkonsequenz.
Es ist kein Zufall, daß der Gerechtigkeitsbegriff sowohl im Utilitarismus wie im volgären Kontraktualismus fehlt: Der auf die wechselseitige Autonomie aufbauende Kontraktualismus ist das einzig moralische Konzept, das den Ausblick auf Gerechtigkeit überhaupt verständlich macht. Nur wenn es zum Sinn der Begründung von Moral gehört, den Individuen gegenüber begründet zu sein, läßt sich die Frage aufwerfen "warum sie und nicht wir?". Diese Frage besagt eben: "Warum ist es gerecht?", und es ist eine falsche Meinung, daß die Antwort nur konventionell ausfallen könne, denn es gibt eine und nur eine Antwort, auf die hin die Frage nicht erneut aufgeworfen werden kann, nämlich wenn alle gleich berücksichtigt werden, denn wer die Frage auch dann wiederholen wollte, müßte einen Grund angeben, warum er stärker berücksichtigt werden müsse, und wie soll das den anderen gegenüber begründet werden können?
ein richtig langes Zitat über den Geltungsbereich einer Moral und Ausgewogenheit in Beziehungen
Erstreckt sich nun der Egalitarismus auf alle? Wenn man eine Gruppe von der wechselseitigen Verpflichtung ausschließt, kann man das ihr gegenüber nicht begründen. Das kann man hinnehmen, aber dann ließe sich dieselbe Einstellung auch innerhalb der Gruppe anwenden, bis man wieder beim einfachen Vertrag ist (180). Was spricht dagegen, eine solche Moral einzugehen, die dem Eigeninteresse sogar dienlicher sein kann als eine wechselseitig autonome? Das widerspricht dem faktischen gegenwärtigen Moralempfinden, aber Tugendhat ist das nicht genug (181).
180f. könnte wichtig werden für die Diebsbande, daher ausführlich zitieren. Am besten überhaupt 180-183, wenn nicht gleich bis Ende des Artikels (184).
Damit ist Tugendhat bei der dritten Frage, "die Differenz betreffend zwischen der Moral, wie sie vorgegeben ist, und der, wie wir sie verstehen sollen oder wollen". "Wir 'sollen' Moral so verstehen, das kann nur heißen: Wenn wir es nicht tun, gehen wir vor anderen und vor uns selbst das Odium ein, es anderen (einigen anderen) nicht begründen zu können." Nur in einer wechselseitig autonomen Moral lebt der Mensch einem symmetrischen Verhältnis, d.h. in einem, in dem nicht einer mehr Macht hat als der andere. Wenn wir in einem Verhältnis der Symmetrie leben wollen, müssen wir uns Moral als wechselseitig autonom denken. Das ist eine schwache Basis, aber besser geht es nicht, da es kein absolutes Müssen gibt, sondern nur bezogen auf ein Wollen (181-183).
[180] Ist nun die sich so ergebende Moral auch universal, erstreckt sich der Egalitarismus auf alle? Was hindert, so könnte man sagen, eine einzelne Gruppe daran, die moralische Vereinbarung auf sich zu beschränken und andere auszuschließen? Ebenso wie in einer Oligarchie die Normen gegenüber den Benachteiligten nicht begründet werden können, kann eine Gruppe den Außenseitern gegnüber nicht begründen, warum sie sie ausschließt. - Nun könnte aber jemand sagen: "Und wenn schon; dann ist es eben ihnen gegenüber nicht begründbar." Dieselbe Einstellung ließe sich dann aber auch gegenüber den Benachteiligten innerhalb der Gruppe einnehmen, und so könnte man immer weitergehen, bis man bei dem Konzept anlangt, das wie bei Gauthier einem gewöhnlichen Vertrag entspricht. Ein solcher Rückzug hätte pragmatische Grenzen, aber teilweise ist er pragmatisch gesehen möglich. Man muß dann freilich in Kauf nehmen, daß die Ausgeschlossenen bzw. Benachteiligten durch Zwangsregeln in ihren Grenzen gehalten werden. Sie können das normative System, da es ihnen gegenüber nicht begründbar ist, nicht bejahen. Sie werden sich ihm gegebenenfalls fügen, so wie man auch einen gewöhnlichen Vertrag aus Not eingehen kann, auch wenn man ihn nicht billigt. Das normative System ist dann ungerecht.
[181] Die Frage ist jetzt, was das bedeutet. Sollen wir sagen, der Begriff der Moral läßt das nicht zu, man verhalte sich, wenn man ein ungerechtes Konzept habe, eben unmoralisch`Doch hier müssen wir uns daran erinnern, daß "Moral" nur ein Wort ist. Warum soll man es nicht auch so definieren können, daß es normative Systeme einschließt, bei denen die Wechselseitigkeit der Begründung nur partiell verstanden wird und die Normen für einen Teil der Mitglieder der Gemeinschaft nicht oder nur partiell begründet sind und für sie daher eher den Charakter von Zwangsnormen haben? Was ist es also, was uns daran hindert, eine solche "Moral" nur in Anführungszeichen einzugehen, die für einige vom eigenen Interesse her gesehen sogar rationaler sein kann als die wechselseitig autonome?
Hier könnte es nun naheliegen, wie das in der heutigen angeslsächsischen Ethik weitgehend üblich ist, sich einfach auf unser faktisches moralisches Bewußtsein zu berufen. Dieses ist heute tendenziell egalitär und universalistisch. Es gibt daher Autoren, die ein Konzept wie das von Gauthier deswegen für unangemessen halten, weil es nicht dem entspricht, was man heute für Moral hält. Aber inwiefern soll das faktische moralische Bewußtsein eine Berufungsinstanz sein können? Es ist lediglich das moralische Bewußtsein einer bestimmten historischen Epoche, das allerdings mehr oder weniger gut begründet ist und deswegen mit der Idee der autonomen Moral mehr oder weniger übereinstimmt. Aber es ist historisch geworden und kann nicht selbst als Maßstab dienen. Niemand wird heute noch so naiv sein dürfen zu meinen, daß die Moral etwas sit, was zum Menschen als solchem wesentlich gehört.
Unser faktisches Moralbewußtsein ist also keine Instanz. Ich komme damit endlich zu der dritten der eingangs genannten drei Fragen, die Differenz betreffend zwischen der Moral, wie sie vorgegeben ist, und der, wie wir sie verstehen sollen oder wollen. Warum, so müssen wir uns fragen, sollen oder wollen wir hier eine Moral der wechselseitigen Autonomie eingehen? Was kann hier "Sollen" heißen? Wir können uns bei dieser Frage weder auf das Wort (oder den Begriff) "Moral" berufen nocht auf das vorhandene Bewußtsein von Moral. Worauf also dann? Wir "sollen" Moral so verstehen, das kann nur heißen: Wenn wir es nicht tun, gehen wir vor anderen und vor uns selbst das Odium ein, es anderen (einigen anderen) nicht begründen zu können. Ein Indiz dafür, daß es so zu vrstehen ist, ist, daß diejenigen, die ein [182] moralisch-politisches System vertreten, nie zugeben möchten, daß es ungerecht ist. Man wird den Sinn von Gerechtigkeit noch so sehr zu verdrehen versuchen, aber zugeben, daß, was man vertritt, ungerecht ist, das möchte niemand. Warum nicht? Eben weil das hieße, daß es einigen gegenüber nicht begründbar ist.
Aber was, so könnte jemand weiter fragen wollen, kann das für einen Stellenwert haben? Vielleicht kann ich diese Rückfrage so beantworten, daß ich die gegebene Erklärung - nur dann lasse sich, was man Moral nennt, allen gegenüber begründen - so umformuliere, daß ich sage: nur dann lebe man mit anderen in einem Verhältnis der Symmetrie, d.h. in Beziehungen, in denen nicht der eine ein größeres Gewicht hat als der andere. Das ist ein Ideal in Zweierbeziehungen und auch ein Ideal, wie wir uns alle menschliche Koexistenz wünschen können. Es ist nicht irgendein Ideal, sondern wir stehen hier vor der prinzipiellen Gabelung, wie man sich im Verhältnis zu anderen verstehen kann: entweder, indem man ihre Interessen berücksichtigt, oder so, daß man die Möglichkeiten eigener Vorteile ausnützt: Moral oder Macht. Dieselbe Gabelung, vor der wir innerhalb der Moral stehen: zwischen der Ausnutzung des eigenen Vorteils und der Berücksichtigung des Gegenübers, wiederholt sich bei der Frage, wie wir die Moral im ganzen verstehen wollen.
Auf die Frage, warum wir uns die Moral so denken müssen, kann also die Antwort nicht lauten: weil der Begriff der Moral die Symmetrie fordert, sondern nur: wir müssen es, wenn wir Symmetrie wollen. So schwach, wenn man so will, ist also letzlich die Basis. Wir können uns nur auf das Wie einer Lebensweise berufen.
Man kann sich aber noch klarmachen, daß in der Beantwortung der Ausgangsfrage, wie Moral zu verstehen ist, ein anderes Ergebnis auch gar keinen Sinn ergäbe. Denn einfachhin zu sagen, so müssen wir handeln oder so müssen wir Moral verstehen, wäre sinnlos, weil es kein absolutes Müssen gibt, sondern nur ein Müssen relativ auf ein Wollen (und das kann letztlich nur heißen: wie wir uns selbst verstehen wollen). Man kann bei einer Frage dieser Art nicht erwarten, am Ende zu einem Wegzeiger zu gelangen, der sagen würde: so muß man gehen, sondern nur auf eine Weggabelung, die sagt, welches die grundsätzlichen Alternativen unseres Selbstverständnisses sind, und worauf es ankommt, ist nur, diese Gabelung richtig zu identifizieren. Wir haben einerseits die Möglichkeit, wie wir uns intersubjektiv verstehen wollen, symmetrisch [183] zu sehne, in der Weise gleichmäßig begründeter Normen, und auf der anderen Seite den Weg einseitiger normativer oder nichtnormativer Mache (natürlich gibt es Zwischenmöglichkeiten).
So wäre jetzt also der nächste Schritt, das Gewicht, das dieser Gedanke der Symmetrie für uns hat, näher zu erläutern. Hier sei noch wenigstens ein Aspekt hervorgehoben. Bei der Frage der Motivation, moralisch zu handeln, habe ich darauf hingewiesen, daß es keinen Sinn macht zu sagne, unser Motiv sei einfach das Moralische als solches oder: so zu handeln, weil es richtig sei; sondern nur: weil wir uns sonst verachten müßten. Besteht jedoch der Sinn des Moralischen in der Symmetrie, dann gewinnt das moralisch Richtige einen Sinn, bei dem es verständlich wird, daß es zum Selbstzweck werden kann. Es wird jetzt verständlich, daß eine Person auch unabhängig vom Lob- und Sanktionssystem einfach dadurch motiviert sein kann, moralisch zu handeln, weil sie ihr Handeln nicht als unsymmetrisch verstehen will, als Ausnutzung eines einseitigen Machtvorteils, und es macht Sinn zu sagen: So möchte ein Mensch sich nicht verstehen.
Problem dabei: Das setzt sich immer noch nicht damit auseinander, daß ich die Grenzen willkürlich ziehen kann, d.h. mich moralisch auf einen Teil der Menschheit beziehen und dabei meine moralischen Gefühle völlig erfüllen.
Schlußworte: "Ohne den symmetrischen Kontraktualismus scheint ein autonom begründbares System wechselseitiger Forderungen nicht denkbar. Aber ist es einmal in Gang gekommen, kann es [...] auch andere Motive in sich aufnehmen", z.B. spontanen Altruismus, daneben nennt Tugendhat die Erweiterung auf Lebewesen, die nicht ursprünglich zur moralischen Gemeinschaft gehören (183f.).
Anhang
Zum Guten bei Platon
Zunächst eine Stelle aus Egozentrizität und Mystik, wo er sich direkt auf die Politeia bezieht (im wesentlichen geht es um die Arten des Guten):
[S. 69] Wie verhält sich das adverbiell Gute zum prudentiell guten (was gut für mich ist)? Und wo innerhalb des Ganzen möglicher Handlungsziele haben wir das moralisch Gute anzusiedeln?
Hinsichtlich des moralisch guten stehen wir in der modernen westlichen Philosophie in einer wenig glücklichen Tradition. In der Antike erschien es selbstverständlich, daß, wenn von dem Guten die Rede war, das prudentiell Gute gemeint war. Man könnte denken, das lag einfach daran, daß für das Moralische ein anderes Wort verwendet wurde (kalón, "schön"). Aber es handelt sich nicht um eine Frage der Terminologie. (Ebenso ist es nicht erheblich, ob von manchen modernen ethischen Richtungen (wie z.B. bei Habermas oder im Utilitarismus) bei der Moral ein andrees Wort verwendet wird ("richtig").) Daß Platon die Rede von dem Guten in seinen prinzipiellen Überlegungen im Unterschied zum normalen Sprachgebrauch so ausschließlich für das prudentiell Gute verwendet hat (vgl. Staat VI, 505d), war vielmehr bereits die Folge seiner Problemstellung: er wollte, gegen die traditionelle autoritäre Moralvorstellung, zeigen, daß das Moralische motivational in dem fundiert ist, was für einen selbst gut ist, also im rechtverstandenen prudentiell Guten. Diese Auffassung ist eigentlich selbstverständlich und ist erst [70] durch eine erneute autoritäre Moralvorstellung, die christliche, in Zweifel gezogen worden.
Die referierte Platon-Stelle, plus ein bißchen Kontext:
[505b] "Und ebenso weißt du, daß die breite Masse unter dem Guten die Lust versteht, die feineren Leute aber die Einsicht!"
"Gewiß!"
"Aber auch das weißt du, mein Freund", sagte ich, "daß diese Leute nicht genau die Art dieser ihrer Einsicht klarlegen können, sondern gezwungenerweise von der Einsicht in das Gute sprechen."
"Was geradezu lächerlich ist."
[c] "Wie sollte es auch nicht, wenn sie uns einerseits schmähen, weil wir das Gute nicht kennen, und dann wieder zu uns sprechen, als ob wir es wüßten! Sagen sie doch, das Gute sei die Einsicht in das Gute, als ob wir wüßten, was sie unter dem Wort 'gut' verstehen."
"Sehr richtig!"
"Und die andern, die das Gute als Lust bestimmen! Machen sie sich eines kleineren Irrtums schuldig als die anderen? Sind nicht auch sie gezwungen zuzugeben, daß es auch schlechte Lüste gebe?"
"Natürlich!"
[d] "Somit müssen sie auch zugeben, daß das Gute mit dem Schlechten identisch sei!"
"Gewiß!"
"Somit gibt es offensichtlich zahlreiche große Streitfragen darüber?"
"Wie sollte es auch nicht?"
"Nun zeigt sich doch deutlich: Viele Menschen sind bei gerechten und schönen Handlungen und Dingen mit dem äußeren Schein zufrieden; auch wenn nichts Wahres dahintersteht, wollen sie so handeln, sie besitzen und daran glauben; beim Erwerb des Guten aber begnügt sich niemand mit dem Schein, sondern sucht die Wahrheit, den Schein mißachtet er hier."
"So ist es!"
[e] "Wonach nun jede Seele strebt - und seinetwillen tu sie alle, weil sie hier etwas Wichtiges vermutet; aber sie ist unsicher, kann das Wesentliche nicht richtig erfassen noch eine feste Überzeugung gewinnen hier wie bei vielem anderen; deshalb muß sie auch sonst manchen Vorteil missen [506a] - in einer so bedeutenden und wichtigen Sache sollen also auch jene besten Männer des Staates im Dunkel tappen, denen wir alle Macht einhändigen?"
"Keineswegs!"
"Ich glaube, das Gerechte und Schöne haben an einem Mann, der nicht weiß, wieso dies eigentlich gut ist, einen ganz schlechten Wächter für sich gewonnen; und ich vermute, es wird niemand die Zusammenhänge hinreichend erfassen (ehe er nicht das Gute erkannt hat)."
"Du vermutest richtig!"
Quellen
- Gosepath, Stefan: "Tugendhats Konzeption moralischer Begründung und Motivation", in: Scarano, Nico & Mauricio Suárez (Hg.). Ernst Tugendhats Ethik. Einwände und Erwiderungen, München 2006, ISBN 978-3406550720, S. 153-170
- Tugendhat, Ernst: "Wie sollen wir Moral verstehen?", in: Aufsätze 1992- 2000, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2001. ISBN 978-3-518-29135-1, S. 163-184
- ders.: Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie, München: C. H. Beck, 2003. ISBN 3-406-51049-3