Wittgensteins: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 2. September 2006, 05:09 Uhr

(Kamleithner Ursula, 28.3.2004)

Wittgensteins Wahrheitsauffassung

Die gängigen Interpretationen der Wahrheitstheorie des „Tractatus“, wie z.B. die Korrespondenztheorie oder eine semantisch / deflationäre Wahrheitstheorie, sollten Ihrer Ansicht nach dahingehend korrigiert werden, dass es sich dabei um eine „Bestehenstheorie der Wahrheit“ (obtainment-theory) handelt, die eine strikte Trennung von Sinn und Wahrheit impliziert. Können Sie Ihren Interpretationsvorschlag nochmals erläutern?

Für Wittgenstein ist entscheidend, dass ein Satz in beiden Verhältnissen zur Wirklichkeit stehen kann. Ein Satz muss so gestaltet sein, dass es möglich ist, dass er wahr ist, aber auch möglich, dass er falsch ist. Was die Erklärung der Wahrheit anbelangt, vertrete ich die These, dass es im Tractatus keine wahrmachende Relation gibt. Ein Satz ist genau dann wahr, wenn er einen bestehenden Sachverhalt abbildet. Die Abbildungsrelation unterscheidet aber nicht einen wahren von einem falschen Satz, da auch der falsche Satz einen möglichen Sachverhalt abbildet. Der Unterschied zwischen einem wahren und einem falschen Satz besteht vielmehr im Bestehen oder Nichtbestehen des abgebildeten Sachverhalts. Wir müssen zwei verschiedene Auffassungen von Korrespondenz unterscheiden. Die erste Auffassung von Korrespondenz ist die, dass ein wahrer Satz in einer Beziehung zu der Tatsache steht, die er abbildet, und ein falscher Satz in einer anderen Beziehung zu der Tatsache, die er abbildet. Stimmte das, dann wäre der Unterschied zwischen wahr und falsch analog zu dem zwischen dem Lieben und Hassen ein und derselben Person. Um es metaphorisch auszudrücken: der wahre Satz liebt, seine falsche Negation hasst ein und dieselbe Tatsache. Dieses Modell ist nach Wittgenstein unhaltbar. Vielmehr entspricht der Unterscheid zwischen einem wahren und einem falschen Satz dem zwischen einem verheirateten Mann und einem Junggesellen. Beim wahren – aber nicht beim falschen Satz – gibt es eine Tatsache, die er abbildet, so wie es bei einem Ehemann – aber nicht bei einem Junggesellen – eine Person gibt, mit der er verheiratet ist.

Sie treten für eine weit größere Kohärenz zwischen dem frühen und späten Wittgenstein in Bezug auf die Wahrheitsauffassung ein, als gemeinhin angenommen wird. Sie kritisieren dabei die gängigen Interpretationen der Wahrheitsauffassung, wie beispielsweise die Konsenstheorie, kontextunabhängige, pragmatische oder idealistische Wahrheitstheorien usw. Können Sie Ihre These nochmals erläutern?

Ich plädiere für eine größere Kontinuität im Denken des frühen und späten Wittgenstein im Gegensatz zu den Interpreten, die denken, der frühe Wittgenstein sei ein Realist und habe eine Korrespondenztheorie, und der späte Wittgenstein hingegen sei ein Antirealist, er habe eine Kohärenztheorie oder eine pragmatische Theorie. Die Idee der Abbildung bleibt im Spätwerk nicht bestehen. Was aber bestehen bleibt, ist die Idee, dass es zwei Elemente braucht, um die Wahrheit eines Satzes zu erklären: wir brauchen ein semantisches Element, nämlich ein wahrer Satz muss sagen, dass sich etwas so und so verhält, und ein deflationäres Element, das man beim frühen Wittgenstein das Bestehenselement nennen würde, nämlich das, was der Satz sagt, ist auch der Fall. Die Dinge sind so, wie der Satz es sagt. Wäre nun die Wahrheitsauffassung beim späten Wittgenstein von jedem Kontext losgelöst? Lässt sich diese Wahrheitsauffassung des späten Wittgenstein nur an empirischen Sätzen festmachen? Wie sieht es beispielsweise mit dem Problem der notwendigen oder religiösen Wahrheiten aus?

Wittgenstein hat nicht beabsichtigt, mit seiner Wahrheitskonzeption diese Art von Sätzen zu erfassen, weil er nämlich Zeit seines Lebens diese nicht für voll wahrheits- oder falschheitsfähig hielt. Er fasste sie nicht als Beschreibungen auf, sondern hielt die notwendigen Wahrheiten für „grammatische Sätze“, Ausdrücke von Regeln, und die religiösen Sätze für Ausdrücke der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Lebensform oder Kultgemeinschaft. Blenden Sie hierbei nicht den Aspekt der Lebensform aus? Könnten andere Lebensformen den Wahrheitsbegriff nicht viel weiter fassen, als Sie es tun?

Hier müssen wir mit Wittgenstein zwischen zwei Bereichen unterscheiden, dem von Sinn und Bedeutung auf der einen Seite, dem von Wahrheit und Tatsachen auf der anderen. Ganz klar ist, dass im Bereich der Bedeutung bei Wittgenstein ein pragmatisches, relativi-stisches und anthropozentrisches Element mit hereinspielt. Bedeutung wird konstituiert durch menschliches Handeln, und welche Bedeutung wir unseren Zeichen verleihen, kann uns die Wirklichkeit nicht vorschreiben; die verschiedenen Sprachgemeinschaften oder Lebensformen operieren mit mehr oder weniger verschiedenen begrifflichen Systemen. Also Sprachen, die sich nicht auf der Oberfläche unterscheiden, wie sich z. B. Deutsch von Englisch unterscheidet, sondern ganz unterschiedliche Weisen, die Welt zu kategorisieren, sind nicht nur möglich, sondern laut dem späten Wittgenstein auch tatsächlich vorhanden. Aber all das bestimmt nur, welche Aussagen sich in verschiedenen Sprachsystemen formulieren lassen. In einem System, das z. B. andere Farbbegriffe hat als das unsere, lassen sich andere Aussagen formulieren; ob diese Aussagen nun wahr oder falsch sind, hängt nicht mehr von dem System, dem Sprachspiel oder der Lebensform ab, sondern nur davon, ob sich die Dinge so verhalten, wie der Satz es behauptet. Was der Satz behauptet, ist kontextabhängig; ob das, was der Satz behauptet, wahr oder falsch ist, ist nicht kontextabhängig.

Es gibt eine sehr schöne Metapher, um diese Position zu charakterisieren, nämlich das im Tractatus verwendete Bild des Netzes: die Fischer können bestimmen, welche Art des Netzes sie verwenden, wie groß die Maschen bzw. wie sie geformt sind. Die Beschaffenheit des Netzes bestimmt, welche Art der Fische sie fangen können. Mit einem großmaschigen Netz lässt sich etwa keine kleine Makrele fangen. Aber welche Fische sie in der Tat fangen, hängt nicht vom Netz der Fischer ab, sondern davon, was sie im Meer finden.

Genauso verhält es sich mit der Zweiteilung von Bedeutung und Wahrheit. Welche Aussagen ich machen kann, hängt vom Sprachsystem ab, aber ob diese Aussagen dann wahr oder falsch sind, hängt davon ab, ob es sich so verhält, wie die Aussage es behauptet.

Möchte nicht Wittgenstein in seinem Spätwerk, um bei Ihrem Bild zu bleiben, auf die Verschiedenartigkeit der Netze aufmerksam machen? Ist ihm der Aufweis der unterschiedlichen Kontexte gegen eine eindimensionale Sichtweise und einen Methodenuniversalismus eines einzigen Zugangs nicht viel wichtiger als die Hervorhebung der von Ihnen dargestellten Wahrheitsauffassung?

Ich gehe davon aus, dass Wittgenstein diese fundamentale Unterscheidung zwischen Sinn /Bedeutung und Wahrheit/Tatsachen aufrechterhält – eine Unterscheidung, die z. B. Quine vehement bestritten hat. Wittgenstein hat Ansätze geliefert, die der Quine’schen Kritik meines Erachtens nicht zum Opfer fallen. Wenn wir diese Unterscheidung akzeptieren, so liegt das Fruchtbare Wittgensteins darin, dass er beide Bereiche angemessen charakterisiert. Was den Bereich der Wahrheit anbelangt, läuft das – grob gesprochen – auf die deflationäre Einsicht hinaus, dass ein Wahrheitswertträger wahr ist, genau dann, wenn die Dinge sich so verhalten, wie der Wahrheitswertträger es behauptet. Wenn es um den Sinn oder die Bedeutung geht, wäre die wahre Einsicht festzuhalten, dass Sinn oder Bedeutung z. B. keine mentalen Vorgänge sind oder abstrakte Entitäten, sondern durch menschliches Handeln konstituiert werden. Bis dahin stimme ich mit Wittgenstein völlig überein. Was seinen Relativismus anbelangt, nämlich die stärkere Behauptung ins Feld zu führen, dass es fast beliebig viele Möglichkeiten gibt, die Welt begrifflich und d. h. bei Wittgenstein sprachlich zu erfassen, halte ich das für eine hochinteressante These, die Wittgenstein mit herrlichen Beispielen zu belegen versucht, aber sie ist zurecht kontrovers. Davon bin ich viel weniger überzeugt.

Auf die Frage, wo denn Wittgensteins Denken fruchtbarer war, denke ich, dass das, was er zum Wahrheitsbegriff gesagt hat, genauso fruchtbar ist wie das, was er zum Lebensformrelativismus gesagt hat, denn meines Erachtens war Wittgenstein der erste, der eine deflationäre Auffassung von Wahrheit vertreten hat. Es finden sich zwar auch Ansätze bei Frege, aber Frege war auch der Ansicht, dass sich der Begriff der Wahrheit nicht definieren lässt. Ich bin hingegen der Meinung, dass der Begriff der Wahrheit einer der wenigen philosophisch wichtigen Begriffe ist, die sich definieren lassen. Eine solche Definition muss auf die Äquivalenz von „es ist wahr, dass p“ und „p“ zurückgreifen, und alle im weitesten Sinne deflationären Ansätze haben meiner Ansicht nach von Wittgenstein direkt oder indirekt gelernt, wie z. B. Frank Ramsey oder Wolfgang Künne. Das mag – im Vergleich zu den Ausführungen zu Lebensformen und Methodenpluralismus – weniger aufregend sein, ist aber genauso fruchtbar, und es stimmt.

Wo würden Sie den konstruktiv-kritischen Beitrag von Wittgensteins Spätphilosophie für die analytische Philosophie sehen? Übt nicht Wittgenstein gerade in den „Philosophischen Untersuchungen“ eine grundsätzliche Kritik an der analytischen Philosophie?

Wittgensteins wichtigster Beitrag zur Philosophie war es wohl, die Aufmerksamkeit auf die Eigenheiten begrifflicher Fragen gelenkt und daraus die Einsicht gewonnen zu haben, dass die Probleme, die Philosophen wirklich kompetent angehen können, letztlich begriffliche, d. h. sprachliche Probleme sind. Ich glaube, dass seine Beiträge zum Begriff der Bedeutung und der Sprache letztlich bedeutender sind als seine Beiträge zum Begriff der Wahrheit. Das, was grob vereinfachend als die Gebrauchstheorie der Bedeutung bezeichnet wird, halte ich für ein Gebiet, in dem man an Wittgenstein anknüpfen muss, ihn aber nicht nur nachbeten sollte. Auf diesem Feld möchte ich in Zukunft weiter arbeiten. Für mich ist sowohl der frühe als auch der späte Wittgenstein ein analytischer Philosoph, wenngleich ein besonders bunter und exotischer – aber es müssen ja nicht alle analytischen Philosophen langweilig sein... Was verstehen Sie unter analytischer Philosophie? Ist Ihr Verständnis von analytischer Philosophie ohne inhaltliche Einschränkung, oder lässt sie sich historisch, institutionell oder methodisch fassen?

Das ist eine interessante Frage, der ich mich in meinem nächsten Buch What is analytic philosophy? widmen möchte. Meiner Ansicht nach sind alle Versuche, die analytische Philosophie auf eine bestimmte Lehrmeinung – und sei sie noch so allgemein – zu reduzieren, viel zu eng. Die Vorstellung, Philosophie habe es primär mit Sprache zu tun, durch die Dummett die analytische Philosophie definiert, greift nicht nur bei der jüngeren analytischen Philosophie zu kurz, die den linguistic turn wieder rückgängig machen will, sondern bereits bei Russell oder Moore. Diese inhaltlichen Definitionen sind zu eng; methodologische Definitionen sind jedoch oft zu weit. Føllesdal z. B. behauptet, die analytische Philosophie zeichne sich durch die Bemühung um vernünftiges Argumentieren aus. In diesem Fall wäre ein Großteil der Philosophie analytisch und dieser Begriff verlöre an Schärfe. Denn der Versuch, grundlegende Fragen rational und nicht unter Verweis auf Dogmen oder mystische Eingebungen anzugehen, zeichnet die Philosophie seit Thales aus und unterscheidet sie von der Religion. Deswegen bin ich für einen historischen Begriff der analytischen Philosophie. Der allein reicht aber auch nicht aus, denn es gibt ja auch Einflüsse zwischen analytischer und nicht-analytischer Philosophie, z. B. zwischen Schopenhauer und Wittgenstein, Marx und Jerry Cohen, Hegel und !McDowell. Daher braucht man gewisse Merkmale, um manche Figuren, die in diesem Netz eine Rolle spielen, ausschließen zu können. Und da möchte ich gerne den Wittgenstein’schen Begriff der Familienähnlichkeiten verwenden. Bei sehr vielen analytischen Philosophen findet sich beispielsweise der Gedanke der Analyse im weitesten Sinn, nämlich der Versuch, Begriffe zu erklären und Aussagen zu paraphrasieren, sei es nun durch die Mitteln der formalen Logik, sei es durch die Beschreibung der normalen Sprache. In beiden Fällen geht man philosophische Probleme so an, dass man die Fragestellungen und die Antworten genauer zu verstehen und zu klären versucht. Ich behaupte nicht, dass sich dem alle analytischen Philosophen anschliessen würden, aber diese Definition erfasst Quine genauso wie Wittgenstein. Ich glaube, dass die formallogische Analyse ihren Platz hat, dass aber auch eine eher pragmatistisch orientierte Analyse wichtig ist. Mein Bestreben in der Sprachanalyse ist es, diese beiden Ansätze zusammenzubringen, wobei ich sicherlich viel mehr der pragmatistischen Richtung zuneige.

Es gibt neben der logischen bzw. begrifflichen Analyse auch noch andere Parameter, die in diesem Gewebe von Familienähnlichkeiten eine Rolle spielen, nämlich die der Klarheit und des rationalen Argumentierens. Ich hoffe zu zeigen, dass man, wenn man den historischen mit dem Ansatz der Familienähnlichkeiten verbindet, die beste und fruchtbarste Bestimmung der analytischen Philosophie erhält.

Es ist interessant, dass jeder analytische Philosoph eine Meinung zu dieser Frage hat, was analytische Philosophie ist, aber die wenigsten denken, dass man sich zu diesem Thema im Ernst schriftlich äußern sollte. Es gibt zwei Arten von Büchern auf diesem Gebiet: eine Art sind Einführungen in die analytische Philosophie oder ihre Teilgebiete; die andere Art sind Bücher zu den historischen Ursprüngen der analytischen Philosophie. Was ich in meinem Buch erstmals machen möchte, ist unter Berücksichtigung der historischen Fragen zu klären, worauf denn diese Unterscheidung zwischen analytischer und nicht-analytischer Philosophie, z. B. der kontinentalen Philosophie, heute hinausläuft. Ist das noch eine fruchtbare Unterscheidung, wenn ja, worauf beruht sie, und was sind ihre philosophischen und kulturellen Folgen?

Was Wittgenstein anbelangt, muss man sagen, dass ich mich ihm von einer analytischen Seite her annähere. Mir ist völlig bewusst, dass es andere Herangehensweisen an Wittgenstein gibt, da er ein unheimlich vielseitiger und einfallsreicher Denker war. Ich möchte also nicht sagen, das ist das einzige, was man von Wittgenstein lernen kann, aber ich halte es nicht nur für eine legitime, sondern auch für die fruchtbarste Herangehensweise. Das heißt, Sie würden die analytische Interpretation des gesamten Werkes von Wittgenstein als die fruchtbarste Herangehensweise bezeichnen?

Ja – das ist die beste Herangehensweise, davon kann man am meisten lernen, aber das soll nicht andere Herangehensweisen ausschließen. Was wirklich notwendig ist, ist die Wittgenstein’schen Denkformen mit denen der Hauptströmungen der analytischen Philosophie zu verknüpfen, da die analytische Philosophie großen Schaden leidet, wenn sie die Gedanken Wittgensteins ignoriert. Einerseits können die Scholastik und der Dogmatismus der analytischen Philosophie durch die Einführung Wittgenstein’scher Denkbewegungen aufgebrochen werden; andererseits können die Wittgensteinianer nur davon profitieren, wenn sie die klar formulierten Herausforderungen und Einwände, die es gegen ihre Philosophie gibt, ernst nehmen und sich damit auseinandersetzen. Man muss von der Position abkommen, Wittgenstein entweder nur zu verehren oder total abzulehnen. Die Anstöße Wittgensteins müssen in neue Ansätze eingebaut werden, ohne diese Inspirationsquelle misszuverstehen.

Autor Hans-Johann Glock ist Professor an der University of Reading (England). Mit ihm sprach Matthias Flatscher (Universität Wien).

Zum Zerfleddern und/oder Kommentieren gedacht. Liebe Grüße Ursula, im Schneckentempo technisch vor mich hin kriechend und ein neues "philosophisches Haus" besuchend.



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