Die Erlebnisgesellschaft: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 19. Juni 2006, 12:47 Uhr
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Erlebnisgesellschaft ist eine der vielen Bezeichnungen, mit denen unsere heutige Gesellschaft bedacht wird. Geprägt hat diesen Begriff der deutsche Soziologe Gerhard Schulze (Schulze, 1995), der in einem sehr ausführlichen, 1992 erstmals erschienenen Werk mit eben diesem Titel die Erlebnisgesellschaft sowohl theoretisch als auch empirisch zu fassen versucht. Der nun folgende Überblick über die Erlebnisgesellschaft hält sich an Schulzes Text und enthält daher auch keine Hinweise auf sonstige Quellen.
Die Erlebnisgesellschaft
Der Begriff der Erlebnisgesellschaft ist keine Bezeichnung, die auf eine Gesellschaft absolut zutrifft. Vielmehr ist die Bezeichnung komparativ zu verstehen: eine Gesellschaft kann im Vergleich zu anderen Gesellschaften mehr oder weniger dem Konzept der Erlebnisgesellschaft entsprechen. Die Erlebnisgesellschaft lässt sich vor dem Hintergrund ständig wachsender Möglichkeitsräume verorten: Ansteigen des Lebensstandards, Zunahme der Freizeit, Expansion der Bildungsmöglichkeiten, technischer Fortschritt. Einschränkungen wie Zeit- und Geldmangel, aber auch Zugangsbarrieren und soziale Kontrolle gehen zurück, das Individuum sieht sich immer weniger mit vorgegebenen Situationen konfrontiert, sondern mit einer ganzen Reihe von Alternativen, aus der es eine auswählen muss. Der materielle Überfluss bringt eine grundlegende Wandlung der Beziehung von Menschen zu Gütern und Dienstleistungen mit sich: nicht mehr die Zweckmäßigkeit steht im Mittelpunkt, sondern der Erlebniswert eines Angebots. Hat man ein ganzes Regal voller Waschmittel vor sich, die alle für saubere Wäsche sorgen, wählt man jenes Angebot, welches die Chance auf ein subjektives Erlebnis verspricht, zum Beispiel durch eine schöne Verpackung. Unterscheidungen werden nach ästhetischen Kriterien vorgenommen. So verändert sich die Rolle des Produkts von einem Mittel zur Zweckerfüllung hin zum reinen Selbstzweck. Die Erlebnisorientierung durchdringt jeden Bereich des täglichen Lebens. Das Bedürfnis, sich ein Erlebnis zu verschaffen, ist kein intensiv wahrgenommenes mehr, sondern eine Selbstverständlichkeit. Der Bedarf an Erlebnisangeboten entsteht nicht durch Sehnsucht nach ästhetischen Erfahrungen, sondern aus Angst vor Langeweile. In der Erlebnisgesellschaft ist nicht mehr das Überleben Ziel jeden Handelns, sondern das Erleben.
Klärung einiger Begrifflichkeiten
Innenorientierung vs. Außenorientierung
In der Erlebnisgesellschaft steht das Individuum im Zentrum des Denken und Handelns. Ziel des Handelns ist die Gestaltung eines sinnvollen Lebens, wobei der Sinn nicht an äußeren Faktoren gemessen wird, sondern an der subjektiven Empfindung: das Leben ist dann sinnvoll, wenn das Subjekt es als schön, interessant, lohnend etc. empfindet. Außenorientierung, bei der Erfolg oder Misserfolg als vom Subjekt unabhängig gelten, wird zunehmend von Innenorientierung, die Ursachen für Erfolg oder Misserfolg im Subjekt sieht, abgelöst.
Alltagsästhetische Schemata
Der Begriff der Ästhetisierung des Alltags bezeichnet den Wechsel von Überlebensorientierung zur Erlebnisorientierung, nicht mehr der Gebrauchswert eines Produkts steht im Mittelpunkt, sondern die Ästhetik. Alltagsästhetische Schemata dienen der Orientierung in der Fülle von alltagsästhetischen Möglichkeiten, sie reduzieren die Menge der Möglichkeiten auf eine übersichtliche Zahl von Routinen. Diese Schemata folgen zwei Ordnungstendenzen: zum einen der Herausbildung persönlicher Gewohnheiten und zum anderen der interpersonalen Angleichung von Geschmacksmustern. Sie sind innerhalb einer Kultur weit verbreitete Verknüpfungen von Zeichen (Produkte, Erlebnisangebote) und Bedeutung, z. B. Mozart wird klassischer Musik und klassische Musik dem Hochkulturschema zugeordnet.
Das Hochkulturschema
Typische Szenerien des Hochkulturschemas sind Kunstausstellungen, Dichterlesungen, Konzerte klassischer Musik etc. Für die hochkulturelle Alltagsästhetik stehen psychische Erlebnisqualitäten im Vordergrund, der Körper wird zurückgenommen. Der Genuss wird in der Kontemplation, der Versunkenheit ins Erlebnis (etwa Erleben von Kunst), erfahren. Erlebniskompetenz wird durch Veranlagung und persönliche Schulung, aber vor allem auch durch Bildung erreicht.
Das Trivialschema
Bilder wie das des Bierzelts oder der Volksmusikveranstaltung charakterisieren das Trivialschema. Das Motiv der Gemütlichkeit spielt hier eine zentrale Rolle. Der Körper wird nicht konzentriert zurückgenommen, das Erlebnis strengt nicht an, muss einfach sein. Im Trivialschema wird eine Sehnsucht nach Sicherheit, Geborgenheit, Heimat ausgelebt, die Flucht vor den Zwängen des Alltags wird ermöglicht.
Das Spannungsschema
Typisches Bild wäre beispielsweise ein Rockkonzert. Genuss wird hier in der Action, im Ausagieren von Spannung erfahren, wofür der Körper eine zentrale Rolle spielt. Spannung als konstanter Zustand wir angestrebt, es existiert ein starkes Bedürfnis nach Abwechslung verbunden mit der Angst vor Langeweile und Gewöhnung.
Diese drei Schemata sind nicht als Alternativen zu verstehen, sondern als Kombinationsmöglichkeiten. Nähe zum einen Schema ist nicht zwingend Distanz zu anderen Schemata.
Fundamentale Semantik
Die fundamentale Semantik ist eine soziale Konvention, sie enthält Hinweise auf normative Positionen einer Gesellschaft, die nicht weiter hinterfragt werden. Diese abstrakte Ebene ermöglicht grobe, einfache Klassifikation der alltäglichen Erfahrungen, sie hilft das Besondere, das momentan Beobachtete, in etwas Allgemeines zu übersetzen. Die fundamentale Semantik umfasst zwei Dimensionen: einerseits die Dimension des Denkens (Innenbeziehungen), wo sich die Pole Einfachheit und Komplexität gegenüberstehen, und andererseits die Dimension des Handelns (Außenbeziehungen) mit einer Polarität von Ordnung und Spontaneität. Das bedeutet, dass jede Beobachtung im Alltag auf einen Schnittpunkt dieser beiden Dimensionen abstrahiert wird. Als Beispiel soll das Niveaumilieu (siehe 7.1) dienen: es wird im Schnittbereich von Komplexität und Ordnung angesiedelt. Komplexität als Ausprägung des Denkens meint kognitive Differenziertheit, die sich in spontan verfügbarem Wissen, Sprachstil, Argumentationsweise usw. äußert. Ordnung als Ausprägung des Handelns meint Regelhaftigkeit, Gesetzmäßigkeit, wichtiges Element ist hierbei die Wiederholung, die Regelmäßigkeit. Gegensatz dazu ist das Unterhaltungsmilieu (siehe 7.5): es liegt im Schnittbereich von Einfachheit (einfache Denkmuster, Informationsreduktion, Unterlassung vernetzender Denkakte) und Spontaneität (Ich-Bestimmtheit, Unabhängigkeit von Ordnungen, enthält aber ebenfalls repetitive Elemente).
Was ist ein Erlebnis?
Erlebnisse entstehen durch eine Verknüpfung von Subjekt und Situation, die psychophysische Reaktionen auslöst, die als genussvoll empfunden werden. Das Erlebnis ist in einen singulären, subjektiven Kontext eingebunden und verändert sich durch Reflexion. Dadurch kommt dem Subjekt bei der Entstehung von Erlebnissen eine zentrale Rolle zu. Das Schöne kommt nicht von außen auf das Subjekt zu, sondern wird vom Subjekt Gegenständen und Situationen zugeschrieben, erst durch die innere Verarbeitung werden äußere Reize zum Erlebnis. Das Subjekt ist also selbst für seine Erlebnisse verantwortlich und kann diese Verantwortung nicht an Gegenstände oder Dienstleistungen weitergeben. Die eigene Verantwortung bei der Entstehung von Erlebnissen ist eng mit Unsicherheit verbunden: das Subjekt muss sich nicht mehr fragen, was es objektiv gesehen zum Überleben braucht, sondern was ihm subjektiv Spaß macht, was es eigentlich will, und diese Frage ist oft schwer zu beantworten. Erlebnisbedürfnisse werden durch Faktoren wie ästhetische Sozialisation, biologische und psychische Reife und Alterung und elementare kulturgeschichtliche Erfahrungen strukturiert. Mit den ständigen Versuchen durch Beeinflussung äußerer Umstände gewünschte subjektive Reaktionen auszulösen, bildet das Subjekt Routinen aus, die beim Konsum von Erlebnisangeboten immer wieder kehren. Schwierigkeit hierbei ist, dass das angestrebte Ziel im Subjekt liegt, die Mittel, die zur Erreichung des Ziels eingesetzt werden, aber außen bleiben. Durch die Inflation von Erlebnissen steigt das Enttäuschungsrisiko, Befriedigung stellt sich nicht mehr ein, weil die Suche nach der Befriedigung zur Gewohnheit wird. Um der Enttäuschung entgegenzuwirken, wird die Situation manipuliert, immer mehr Erlebnisangebote werden angehäuft. Wird dabei jedoch die Bedeutung des Subjekts nicht berücksichtigt steigt die Enttäuschung immer weiter. Mit der Enttäuschungsangst steigt dann wiederum die Nachfrage und mit dieser die Inflation von Erlebnisangeboten usw. Unsicherheit und Enttäuschung spielen wichtige Rollen bei der Konstitution der Erlebnisgesellschaft: Unsicherheit erzeugt ein ästhetisches Anlehnungsbedürfnis, sie öffnet das Subjekt für die Bildung sozialer Gruppen. Enttäuschung und die damit verbundene Bedarfssteigerung ist ein wichtiger Antrieb für die Dynamik des Erlebnismarktes.
Der Erlebnismarkt
Der Erlebnismarkt ist ein kollektives Wechselspiel zwischen Erlebnisproduzenten und Erlebniskonsumenten, wobei beide Akteure ihre eigene Rationalität verfolgen. Die Gruppe der Erlebnisnachfrager eignet sich Erlebnismittel an, um bei sich selbst Erlebnisziele zu realisieren. Sie folgen dabei einer innenorientierten Konsummotivation. Da sich die Erlebnisse aber nicht in Dauerzustände verwandeln lassen, wird immer neue Handlungsenergie mobilisiert. Die Erlebnisanbieter hingegen handeln außenorientiert, sie richten ihre Produktion an der Publikumswirksamkeit aus, d. h. sie versuchen die aus Unsicherheit und Enttäuschung resultierenden Handlungsmuster und Erlebnisroutinen der Konsumenten für ihre Zwecke zu nutzen. Diese Rationalität lässt sich leichter optimieren, wodurch die außenorientierte Gruppe der Erlebnisproduzenten die Rolle des Handelnden übernimmt und die innenorientierte Gruppe der Erlebniskonsumenten auf dieses Handeln reagiert. Der Erlebnismarkt zeichnet sich durch eine eigene Dynamik aus: die Produktstrukturen verändern sich immer mehr hin auf die Erlebnisorientierung, der Erlebniswert steht vor dem Gebrauchswert. Das Tauschvolumen des Erlebnismarktes expandiert kontinuierlich, d. h. es wird immer mehr Geld und Zeit in den Konsum von Erlebnisangeboten investiert. Auch räumlich expandiert der Markt ständig, immer neue Absatzgebiete werden erschlossen, wodurch regionale Besonderheiten zurückgedrängt werden. Die Produktion von Erlebnisangeboten konzentriert sich zunehmend in den Händen einiger großer Korporationen. Diese expansive Dynamik ist von den Akteuren des Erlebnismarktes kaum zu stoppen, nur Bedingungen, die außerhalb des Marktes liegen, können diese Entwicklung aufhalten, beispielsweise indem durch Knappheit eine Rückkehr zu außenorientiertem Konsum erzwungen wird. Nimmt man als Erlebniskonsument am Markt teil, wird man automatisch einer Gruppe zugeordnet. Jeder Konsument eines Erlebnisangebots wird Teil eines Publikums, einer Konsumentengemeinschaft. Durch die nahezu unbeschränkten Wahlmöglichkeiten wird ein Konsumakt zu einem Statement, zu einer Selbstinszenierung, die wiederum eine Gruppenzugehörigkeit bedingt.
Soziale Milieus in der Erlebnisgesellschaft
Das Subjekt hat sich kaum noch Restriktionen zu beugen, die Möglichkeiten sind nahezu unbegrenzt, das Modell der Beziehungswahl löst jenes der Beziehungsvorgabe zunehmend ab: der oder die Einzelne hat selbst zu entscheiden, wo er oder sie dazugehören will, und wird nicht zwangsläufig durch äußere Lebensumstände einer sozialen Gruppe zugeordnet, ist also aktiv an der Konstruktion sozialer Milieus beteiligt. Durch den Konsum von Erlebnisangeboten wird der oder die Einzelne zum Mitglied einer Erlebnisgemeinschaft. Diese Erlebnisgemeinschaften sind in der Erlebnisgesellschaft die Basis für die Entstehung sozialer Milieus. Angesichts unendlicher vieler Konsummöglichkeiten kommt es zu freiwilliger Selbsteinschränkung der Individuen um die Orientierung in der Masse der Angebote zu erleichtern und um Unsicherheit abzuwehren, es bilden sich Stiltypen - stabile Muster von Vorlieben und Abneigungen - aus. Während in der Vergangenheit die Faktoren Stellung im Produktionsprozess, Lebensstandard, Umgebung und Religion für die Bildung sozialer Großgruppen entscheidend waren und eine hierarchische Gliederung der Gesellschaft mit sich brachten, haben seit den 1960er Jahren eben genannter Stil, Alter und Bildungsgrad für die Konstitution sozialer Milieus an Bedeutung gewonnen. Die so entstehenden Milieus existieren nebeneinander, ohne klare hierarchische Ordnung. Die Grenzen zwischen den einzelnen Milieus sind jedoch nicht eindeutig zu ziehen, sie sind mehr als Zonen zu verstehen innerhalb derer eine fixe Zuordnung eines Individuums zu einem Milieu nicht möglich ist. Soziale Milieus zeichnen sich durch zwei Elemente aus: 1. Gruppierung von gleichen oder ähnlichen Existenzformen (zur Existenzform gehören psychische Dispositionen, alltagsästhetisches Empfinden, Weltbilder, Grundhaltungen, Handlungsmuster, Beruf, Einkommen, Wohnsituation, Alter etc.). 2. Verdichtung sozialer Kontakte innerhalb der Gruppen, Binnenkommunikation. Diese verstärkte Binnenkommunikation führt dazu, dass Milieus nicht nur Erlebnisgemeinschaften sind, sondern auch Gemeinschaften der Wirklichkeitsinterpretation und -selektion.
Unterscheidung sozialer Milieus
Schulze unterscheidet (für seinen Untersuchungsraum Deutschland) folgende soziale Milieus, die hier idealtypisch dargestellt werden:
Das Niveaumilieu
Das typische Mitglied des Niveaumilieus ist über vierzig Jahre alt, weist einen hohen Bildungsgrad auf und orientiert sich im Hinblick auf den Stil am Hochkulturschema: Lesen überregionaler Tageszeitungen, Vorliebe für klassische Musik, Theater, Dichterlesungen, Ausstellungen etc., gute Umgangsformen, gepflegtes Äußeres, konservativer Kleidungsstil, Tendenz zu konventionell- kultivierter Wohnatmosphäre.
Das Harmoniemilieu
Diese Gruppe ist ebenfalls über vierzig, weist einen relativ niedrigen Bildungsgrad auf und richtet den Stil am Trivialschema aus: Vorliebe für Schlager, Blasmusik, Heimatfilm, Fernsehquiz, Boulevardpresse, Bestsellerromane etc., Interesse für lebenspraktische Informationen (Anzeigen, Angebote, Lokalnachrichten), Tendenz zu regionalen Themen, einfache Sprache/Dialekt, eher billiger, unauffälliger, wenig modischer Kleidungsstil, Neigung zu Übergewicht, Tendenz zur Anfüllung der Wohnräume, Neigung zum Rückzug in die eigenen vier Wände, in der Öffentlichkeit unauffällig.
Das Integrationsmilieu
Auch hier sind die Mitglieder typischerweise wieder über vierzig, der Bildungsgrad liegt im mittleren Bereich. Bezüglich des Stils verbindet das Integrationsmilieu Hochkultur- und Trivialschema: Stilelemente anderer Milieus werden kombiniert, Extreme vermieden, Durchschnittlichkeit. Pflege der Häuslichkeit, Regionalismus, Annäherung an klassische Bildungsorientierung.
Das Selbstverwirklichungsmilieu
Hier liegt das typische Alter unter vierzig Jahren, mittlerer bis hoher Bildungsgrad, der Stil weist Nähe sowohl zum Hochkultur- als auch zum Spannungsschema auf: Mozart und Rockmusik, Kunstausstellungen und Kino, Versunkenheit und Action. Hohe Mobilität, Neigung zur Selbstdarstellung, Bedürfnis nach Originalität, ausgefallene Kleidung, Vorliebe für Tageszeitungen, Stadtmagazine u. ä., Kernmilieu sozialer Bewegungen.
Das Unterhaltungsmilieu
Das typische Mitglied ist unter vierzig, weist einen niedrigen bis mittleren Bildungsgrad auf und tendiert was den Stil angeht in Richtung Spannungsschema: Kino, Spielhalle, Fussballplatz, Diskothek etc., intensive Suche nach Erlebnisreizen, Kleidung orientiert sich am Selbstverwirklichungsmilieu, Tendenz zu Boulevardpresse, relatives Desinteresse an der Realität, eher dialektgefärbte Sprache, Tendenz zu Übergewicht.
Wissen in der Erlebnisgesellschaft
Es werden zwei Arten von Wissen unterschieden: auf der einen Seite das technische Wissen (wie man möglichst effizient definierte Ziele erreicht) und auf der anderen Seite das existenzielle Wissen (Wirklichkeitsmodelle, Anschauungsweisen, Ich-Welt-Bezug etc.).Während das technische Wissen als Instrument einzelner Handlungen zu begreifen ist, betrifft das existenzielle Wissen das Leben in seiner Gesamtheit, es bildet den Rahmen, den Handlungshintergrund. Jede Form des Wissens kann unterschiedliche Kollektivitätsgrade aufweisen. Das Wissen eines Subjekts enthält einen singulären Bereich, also einen Bereich der ausschließlich vom Subjekt selbst genutzt wird, und einen kollektiven Bereich, der einer größeren Gruppe von Personen gemeinsam ist. Der Kollektivitätsgrad beschreibt, wie weit ein bestimmtes Wissenselement verbreitet ist bzw. wie groß die Deutungsgemeinschaft ist, die dieses Wissen teilt. Die Vorstellungen von der Welt, die sich das Individuum angeeignet hat, verändern sich nur sehr langsam und in kleinen Details, da einerseits Strategien der Wissensselektion angewandt werden, die auf Selbstbestätigung angelegt sind, und andererseits Neues defensiv verarbeitet wird (Umdeutung, Verdrängung, Über- und Untertreibung). Eine wichtige Rolle für diese Strategien spielt Kommunikation: die Kommunikation des Subjekts zielt auf Wissensstabilisierung ab, so wird beispielsweise bevorzugt ein Gegenüber gesucht, von dem angenommen werden kann, dass es die eigenen Ansichten teilt, weil es z. B. dem gleichen Milieu angehört. Durch die Überwindung von Raum- und Zeitbarrieren in der Kommunikation und die daraus resultierende Informationsflut steigen sowohl die Möglichkeiten als auch die Notwendigkeit zur Selektion ständig, was zur Folge hat, dass auch die Disparatheit des Wissens immer weiter steigt. So geht zwar auf der einen Seite Wissen niedrigen Kollektivitätsgrades zurück, da Informationen schnell weltweit verbreitet werden können, auf der anderen Seite kann durch den steigenden Selektionszwang die alltägliche Erfahrungsflut nicht mehr kollektiv verarbeitet werden, es wächst also der Bestand singulären, nicht kommunizierbaren Wissens. Gleiche reale Ereignisse kommen durch milieuspezifische Selektion unterschiedlich in den verschiedenen Milieus an, um dort auf eigene Weise interpretiert und in Handlungen umgesetzt zu werden. Durch diese Mechanismen werden Grenzen zwischen Deutungsgemeinschaften ständig aufrechterhalten, die dazu führen, dass sich die sozialen Milieus in einer Beziehung des gegenseitigen Nichtverstehens gegenüberstehen, was bis zur wechselseitigen Aburteilung gehen kann. Diese Segmentierung begründet ein Konfliktpotential. Während in der Vergangenheit Konflikte zwischen Privilegierten und Unterprivilegierten ausgetragen wurden, sind es heute allenfalls Kämpfe zwischen Bessergestellten um unterschiedliche Lebensauffassungen.
Resümee
Die Erlebnisgesellschaft zeichnet sich im Vergleich zu anderen Formen von Gesellschaft dadurch aus, dass Erlebnisse und vor allem der Konsum von Erlebnisangeboten eine zentrale Rolle für die Konstitution sozialer Milieus spielt. Menschen finden sich aufgrund subjektiver Bedürfnisse und Entscheidungen zu Konsum- und Deutungsgemeinschaften zusammen, welche ohne klare hierarchische Ordnung nebeneinander und in einem Verhältnis des gegenseitigen Unverständnisses existieren. Das Subjekt hat die Möglichkeit, sich seine InteraktionspartnerInnen selbst auszusuchen, vor dem Hintergrund der Erlebnisorientierung wird das Gegenüber somit zum Erlebnispartner oder gar zum Erlebnisgegenstand. Die Suche nach immer neuen Erlebnissen - als angenehm empfundene subjektive Verarbeitung äußerer Reize - und die damit Hand in Hand gehende Unsicherheit und Enttäuschungsangst bedingen die unaufhaltsame Dynamik eines ständig expandierenden Erlebnismarktes, auf dessen Spielfeld sich die Akteure - Erlebnisnachfrager und Erlebnisanbieter - gegenseitig funktionalisieren um aktuelle Bedürfnisse zu befriedigen. Der unaufhörliche Ausstoss immer neuer Produkte setzt KonsumentInnen voraus, denen es mehr auf Nehmen ankommt als auf Haben. Immer wieder muss das Subjekt innerlich und äußerlich Platz für das Nachfolgende schaffen, gerade Erworbenes hat selten bleibenden Wert. Die IdealkonsumentInnen des Erlebnismarktes sind demnach wie Kanäle zu begreifen, durch die Angebote konstant hindurchfließen, und nicht wie Behältnisse, in denen sich die Angebote sammeln. Kaufen lässt sich allerdings nur das Erlebnisangebot, nicht das Erlebnis an sich. Hier wird das Subjekt selbst zum entscheidenden Faktor. Auch in der Dynamik des Erlebnismarktes ist das Individuum nicht in völliger Abhängigkeit von gesellschaftlichen Bedingungen zu verstehen, vielmehr kann oder muss den KonsumentInnen die Verantwortung zugestanden werden, sich die eigenen Rolle beim Entstehen von Erlebnissen bewusst zu machen und einen reflexiven Umgang mit den eigenen Konsumakten und deren Konsequenzen zu pflegen.
Literatur
Schulze, Gerhard (1995): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, 5. Aufl., Frankfurt am Main/New York: Campus-Verl.
Zurück zu Geld - Macht - Spaß - Bildung (Swertz, Sommer 2006)