Der Basistext von Akio Yokoyama: Unterschied zwischen den Versionen

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Aristoteles, traditionell "negativ" bestimmt war und ist.
 
Aristoteles, traditionell "negativ" bestimmt war und ist.
  
Jean-François Lyotard spricht in einem Aufsatz vom Augenblick" als
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Jean-François Lyotard spricht in einem Aufsatz vom "Augenblick" als
 
Zeit, die negativ extrahiert wird zwischen zwei Werken Marcel Duchamps, dem ''Großen Glas''
 
Zeit, die negativ extrahiert wird zwischen zwei Werken Marcel Duchamps, dem ''Großen Glas''
 
und ''Etant donnés''. Bei diesen handle es sich um "die Enthüllung der Braut, die Entblößung
 
und ''Etant donnés''. Bei diesen handle es sich um "die Enthüllung der Braut, die Entblößung

Version vom 2. Februar 2005, 18:09 Uhr

Zeit und Kunst

Akio Yokoyama


Was immer die Quelle des jeweils neuen Seins bleibt, heißt das Jetzt bzw. die Gegenwart. Die Schwierigkeit, die Lebendigkeit des Jetzt, die lebendige Gegenwart zu begreifen, weist sich darin aus, daß sie seit dem antiken Griechenland, besonders seit Aristoteles, traditionell "negativ" bestimmt war und ist. Jean-François Lyotard spricht in einem Aufsatz vom "Augenblick" als Zeit, die negativ extrahiert wird zwischen zwei Werken Marcel Duchamps, dem Großen Glas und Etant donnés. Bei diesen handle es sich um "die Enthüllung der Braut, die Entblößung des obszönen Körpers". Dennoch: "In der Verzögerung im Glas' hat es sich noch nicht ereignet, in den Büschen, hinter dem Guckloch, ist es schon eingetreten". Duchamp organisiere also "den Raum der Braut gemäß dem 'noch nicht' und den Raum von Etant donnés nach dem 'bereits nicht mehr'"1. Die Unerblickbarkeit des entscheidenden Ereignisses, die wesentliche Unfähigkeit unserer Sehkraft, die Lyotard den "Anachronismus des Blickes" nennt, ist nichts Anderes als der "Augenblick" zwischen den Werken als ausgezeichnetes Bild des traditionell verstandenen Jetzt. Hier ist die grundsätzliche Unmöglichkeit festgestellt von dem, was der Autor nach dem Thema des Künstlers als "Weiblichkeit" bezeichnet, und zwar von der "Epiphanie" des Anderen, von der Begegnung oder Berührung mit ihm, d.i. von dem Ereignis", weil uns die Zeit dafür, das Jetzt, von vornherein nicht gegeben ist. Wir können hier höchstens nur mit eigenen Vorstellungen in "Anamnese" und "Erwartung" über das Unerhörte 'erzählen', d.h. sie sukzessiv verbinden, um die Mitte, die ihnen einen Sinn gibt, zu konstruieren. Lyotard stellt Duchamp dann einen anderen Künstler gegenüber, der gegen den Anachronismus der ursprünglichen Zeit -­ dieser ist aber ihr uns doch vertrauter Charakter: ihre Vergänglichkeit oder der Übergangscharakter des Jetzt -­ nach der "Epiphanie" sucht: Barnett Newman. Die Kunst Newmans, so schreibt Lyotard, ein Versuch, den "Augenblick" als "Zeitempfindung" in einem Bild zu realisieren. Hier geht es um die Augenblicklichkeit der Empfindung, die auch Kant kannte2. Diese Empfindung ­ das ,was Lyotard auch als "Dringlichkeit des Jetzt" bezeichnet3 - ist die ursprüngliche Zeit, denn der "Beginn", der Ursprung der Zeit, ist nichts Anderes als "das Staunen darüber, daß etwas ist, mehr als nichts"4. "Die Präsenz", die dieses Staunen als ihre Qualität hat, ist "der Augenblick, der das Chaos der Geschichte unterbricht und daran erinnert oder nur sagt, daß 'etwas da ist', bevor das, was da ist, irgendeine Bedeutung hat"5. Dieser Beginn ist, so Lyotard, "ein Widerspruch". Er findet zwar "in der Welt" statt, aber er ist "nicht von dieser Welt", "weil er sie erzeugt, er kommt aus der Vorgeschichte oder aus einer Geschichtslosigkeit"6; zum Beispiel so wie eine Linie, die auf der leeren Fläche gezogen ist, zu einem Bild gehört, das als Ergebnis von diesem Strich nachträglich entstand, deshlb doch in der "Vorgeschichte" dieses Bildes ihren Geburtsort hat. Wie Lyotard mit Worten Thomas B. Hesses sagt, ist der "Inhalt" des Newmanschen Werkes insgesamt "die künstlerische Schöpfung" selbst7, denn er ist das Augenblickliche"8, das der Beginn ist. Newmans Werk hat seine Vorgeschichte d.h. sein Außen, das auch sein Grund ist, in sich. Der Augenblick ist also das Bild", das Ur-Bild im Sinne dessen, daß es selbst "die Zeit" ist9. Das traditionelle Bild der Zeit, der Jetzt- Zeit, das, wie gesehen, beide Werke Duchamps darstellen, ist das eines Wirklichen bzw. das eines Substanziellen: d.i. das Schema-Bild, das reine Bild der Notion Substanz10, in dem aber kein wirkliches Ereignis erblickbar ist, sondern immer nur ein mögliches, das ab und zu ­ mit, so lautet das zweite Postulat des empirischen Denkens überhaupt11, den materialen Bedingungen der Erfahrung (der Empfindung) zusammengehangen - verwirklicht wird. Im Ur-Bild des Augenblickes ist hingegen dieses Schema-Bild zerrissen zwischen dem Jetzt, das durch unsere Geschichte hinduruch bleibt, um sie erst als einen Wandel zu ermöglichen, und der Vorgeschichte, die im Bild als Spur bleibt und es offen läßt ins Außen unseres Jetzt, so daß sich hier erst die Zeit als ursprüngliche Ungleichzeitigkeit manifestiert. Der Augenblick bedeutet diese Ungleichzeitigkeit, weil in ihr die Gleichartigkeit des Mannigfaltigen, die Kant anspricht, wenn er vom "Begriff einer Größe" spricht12, d.h. die Gleichartigkeit von Anschauungen überhaupt, und konsequenterweise auch alle Erscheinungen, die als "Aggregate (Menge vorher gegebener Teile)" angeschaut werden13, unmöglich werden, so daß man nur noch sagen oder besser daüber staunen kann, "daß etwas ist, mehr als nichts". Dieser einfache Beginn ist aber als der Augenblick nicht negativ bestimmt, sondern eksessiv positiv, 'mehrfältig' determiniert, so daß diese Falten den Horizont des Jetzt überschreiten. Das Jetzt zwischen "Noch-nicht-jetzt" und "Nicht-mehr-jetzt" ist doch auch eine Variante des Ur-Bildes der ursprünglichen Zeit aber im Sinne der Form, nach der Anschauungen als das gleichartig Mannigfaltige gegeben sind. Wenn das Werk Newmans keine Kopie dieses metaphysischen Zeit-Bildes sein soll, dann soll sich sein Inhalt, der Augenblick, als von focus imaginarius, der jedem Differenten eine Gleichheit des Sinnes gewährt, unterschieden nachweisen. Als imaginärer Fokus ist der Beginn der Geschichte ihr Sinn selbst, so daß wir hier die Vorgeschichte, in der etwas da ist, bevor das, was da ist, irgendeine Bedeutung hat, nie erreichen. Im Blick auf ihn werden alle Differenzen getilgt, indem sie als zufällige Eigenschaften einem identisch Bleibenden, dem Sinn, zugeschrieben werden. Es ist aber verständlich, daß Bernhard Waldenfels Lyotards Ansicht über Newman kritisiert und auf die Gefahr, "eine bestimmte Grenzkunst" zu "kanonisieren" aufmerksam macht14, denn es ist schwierig, im klaren Unterschied zu diesem metaphysischen Grenzpunkt die Vorgeschichte zu zeigen; diese Kritik könnte gelten, wenn sich Lyotards Konzept des "Erhabenen" in der "Darstellung, die nichts dastellt", der Kant als deren Beispiel das "Verbot von Bildern durch das mosaische Gesetz" gibt15, als das jenes Zeit-Bildes, das nur den imaginären Fokus darstellt, entlarven würde. Der Einspruch von Waldenfels ist m.E. widerlegbar, indem wir uns­ - für die Absicht Newmans selbst glit doch wahrscheinlich seine Kritik - Lyotards Grundstellung klarmachen. Das Erhabene, das sich der Meinung sowohl Kants als auch Lyotards nach nur in der "negativen Darstellung" zeigt, verlangt von uns zwar das "Verbot von Bildern", aber dieses Verbot bedeutet für Lyotard nur das von der "figurativen" Darstellung16. Lyotard stellt fest, daß die Werke Newmans "tatsächlich kein Ereignis 'erzählen', daß sie sich nicht figurativ auf Szenen aus Erzählungen beziehen"17. Erzählen ist das einzige Verhalten, das dem erlaubt ist, der zwischen beiden Werken Duchamps steht, so daß ihm der Blick auf den entscheidenden Augenblick und die Möglichkeit der Begegnung mit dem Anderen prinzipiell entzogen sind. Dieses Erzählen ist ein Aufzählen von möglich zu Erzählenden über das Ereignis in jenem Horizont des Jetzt, so daß es als Zählen des Gleichartigen (jetzt-das, jetzt-das...) grenzenlos fortschreitet. Die Grenze ist dabei nur der Anspruch auf die Widerspruchslosigkeit. Daher steht schon am Beginn der metaphysischen Geschichte der Sinn, die Identität eines jeweiligen Was. Ein Bild" von Newman will hingegen, so Lyotard, "selbst das Ereignis sein, der Augenblick, der geschieht"18. Dieses Geschehen wird erst dann möglich, wenn das Bild jene Zeit selbt ist, in der auch der Beginn wird', indem es seine Vorgeschichte in sich hat. Der Augenblick, als Zeit des Zwischen ist hier nicht mehr zwischen "Noch-nicht- jetzt" und "Nicht-mehr-jetzt", d.h. zwischen möglichen gleichartigen Jetzten, sondern zwischen zwei (oder mehr) Welten, die wir sozusagen nie auf einen gemeinsamen Nenner bringen können: das Mannigfaltige, das früher als das Eine ist. In diesem Sinne zeigt das Bild Newmans als seinen Inhalt das, was schlechthin groß ist, was Kant "das mathematisch-Erhabene" nennt. Dieser Inhalt ist keine Größe (quantum) im Sinne, daß "Vielheit des Gleichartigen zusammen Eines ausmacht". Diese Größenbestimmung der Erscheinungen kann "keinen absoluten Begriff von einer Größe, sondern allemal nur einen Vergleichungsbegriff liefern"19. Das Erhabene ist "schlechthin (nicht bloß komparativ) groß" und übertrifft daher unseres Vermögen der Größenschätzung der Dinge der Sinnenwelt, d.h. die Voraussetzung der Möglichkeit der synthetischen Erkenntnis a priori, die "Axiome der Anschauung" darstellen. Um das Unendliche als ganz gegeben, als ein Ganzes zu denken, ist es nicht genug, "die sukzessive Addition von Einem zu Einem (gleichartigen)" zusammen zu befassen. Im Augenblick, in dem das gleichartig Mannifaltige auf seine Vorgeschichte stößt, überfällt uns das Staunen darüber, daß etwas ist, mehr als nichts. Es ist nichts Anderes als das Gefühl des Erhabenen. Das, was in der Erfahrung des Erhabenen geschieht, ist das Mißlingen der Zusammenfassung durch die Einbildungskraft, im Scheitern der Synthesis der Reproduktion mag die Welt in ein formloses Chaos auseinanderfallen. Daher sagt Kant: "Würde ich aber die vorhergehenden (die ersten Teile der Linie, die vorhergehenden teile der Zeit, oder die nacheinander vorgestellten Einheiten) immer aus den Gedanken verlieren, und sie nicht reproduzieren, indem ich zu den folgenden fortgehe, so würde niemals eine ganze Vorstellung, und keiner aller vorgennanten Gedanken, ja gar nicht einmal die reinsten und ersten Grundvorstellungen von Raum und Zeit entspringen können"20. Heidegger meint aber, "Wenn also in einem gegebenen Felde des Sehens eine Mannigfaltigkeit von Farben wild durcheinanderwirbelt und nicht die Spur von irgendeiner Ordnung aufweist, auch dann hat dieses Gegebene, dieses Gewühl von Empfindungen - wie man unklar zu sagen pflegt, wobei man dann nicht weiß, ob es Gegebene ist, oder ein Gewühl, das psychisch abläuft -, auch dieses Durcheinanderwirbeln gegebener unbestimmter Gegenstände hat den Charakter mannigfaltig', also eine Bestimmtheit, eine Artikulation"21. Das, was hier nur noch 'mannigfaltig' gennant werden kann, ist die Zeit, in der alle Erscheinungen sind. Das Erhabene ist in diesem Sinne auch die Zeitempfindung. Das Werk Newmans als Bild der Zeitempfindung ist, weil es das Unendliche als seinen Inhalt in sich hat, selbständig. Diese Selbständigkeit ist wohl anders als autonomy", die Clement Greenberg in einem Text, an dessen Anfang Kant als "the first real Modernist" bezeichnet ist, der modernistischen Malerei zukommen läßt, denn er schreibt dort deutlich, daß es wichtig sei, alle Besitze, die sie mit anderen Kunstbereichen, besonders mit Bildhauerei gemeinsam habe, aufzuheben, und, daß , obwohl sie im Endeffekt immer abstrakter werde, es sekundär sei, das Darstellende und das Literarische auszuschließen22. Die "self-critique", die Greenberg als Wesen vom Modernismus sieht - deshalb ist Kant aufgerufen worden - im Fall der Malerei die Selbstbegrenzung auf die Fläche, ergab aber letztendlich Werke, die selber nichts Anderes als Ereignis sind. Daher schreibt über Kant auch Lyotard folgendes, "er kündigt die abstraktionistischen und minimalistischen Auswege an, durch die die Malerei dem figurativen Gefängnis zu entkommen versucht"23. Die Kreativität der modernistischen Malerei schöpft sich aus der der Zeit.
Fußnoten: 1 Jean-François Lyotard, Der Augenblick, Newman. In: Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens, Merve Verlag, Berlin, 1986, S.7f. 2 Vgl. Kant, KdrV. A167ff./B209f. 3 Lyotard, a.a.O. S.11 4 Vgl. a.a.O. S.18 5 a.a.O. S.20 6 a.a.O. S.12f. 7 a.a.O. S.12 8 a.a.O. S.13 9 a.a.O. S.7 10 Vgl. Kant, KdrV. A143/B183. Auch vgl. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik. S.103 11 Kant, a.a.O. A218/B266 12 Vgl. Kant, a.a.O. A142f./B182, A162f./B202f. 13 Kant, a.a.O. A163/B204 14 Vgl. Bernhard Waldenfels, Ordnungen des Sichtbaren, in: Gottfried Boehm (Hrg.), Was ist ein Bild? Wilhelm Fink Verlag, München, 1994. S.243f. 15 Vgl. Lyotard, a.a.O. S.17f. 16 Vgl. a.a.O. S.18 17 a.a.O. S.14 18 a.a.O. S.8 19 Kant, KdU. S81 20 Kant, KdrV. A102 21 Heidegger, GA21-286f. 22 Clement Greenberg, Modernist Painting, in: The Collected Essays and Criticism. Vol.4, The University of Chicago Press, Chicago/ London, 1993. P.88 23 Lyotard, a.a.O. S.18



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