UEberlegungen zur Blickgrammatik in diesem Filmausschnitt: Unterschied zwischen den Versionen

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Was wird auf der diegetischen Ebene über das Verhältnis Mann-Frau vermittelt?
 
Was wird auf der diegetischen Ebene über das Verhältnis Mann-Frau vermittelt?
  
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Wie in vielen Filmen Fullers ist das Verhältnis von Mann und Frau auch hier von Anfang an gestört. Das wird bereits in dieser ersten Szene deutlich: eine Frau verprügelt ihren Zuhälter, weil er sie um Geld betrogen hat. Mitten im Kampf stößt er ihr eine Perücke vom Kopf und wir erfahren, dass sie völlig kahl ist, weil – wie später erklärt wird – sie der Zuhälter, als sie betrunken war, gegen ihren Willen rasiert hat. In kaum einem anderen Film hat Fuller das zwischenmenschliche Kampffeld gleich mit der ersten Szene so kraftvoll inszeniert. Durch das Verlieren der Perücke wird die Frau zu einer Art androgynem Wesen, das den Mann dominiert und ihn in eine unterwürfige Haltung zwingt. Klassische Beziehungskonstellationen wie die zwischen Mann und Frau werden in dieser Szene radikal außer Kraft gesetzt: die Frau verliert eines ihrer (für das Kino) wichtigsten weiblichen Attribute (das blonde Haar) und schlägt auf den Mann ein, der fast wie ein Kind versucht, die Schläge abzuwehren und um Gnade bettelt. Diese Umkehr der Machtverhältnisse ist typisch für Fullers Kino, in dem starre Rollenklischees ständig hinterfragt werden. So hat er auch ein Faible für ungewöhnliche Frauenfiguren: man denke nur an die bizarre Rolle von Barbara Stanwyck als Peitschenschwingende Großgrundbesitzerin in dem Western „Fourty Guns“ (1957). --[[Benutzer:Philip Waldner|Philip Waldner]] 22:22, 4. Dez. 2010 (UTC)
  
  
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In der ersten Szene von „The Naked Kiss“ wird klar, warum in Analogie zu Dziga Vertovs „Kino-Auge“ bei Fuller auch von der „Kino-Faust“ die Rede ist: Eine Frau drischt in einer Nahaufnahme auf die Kamera ein (Was für ein Eröffnungsbild!). Schnitt zum Mann, dem Empfänger der Schläge. Diese beiden Point-of-view Einstellungen wechseln schnell, wodurch das Geschehen stark rhythmisiert wird. Der Einsatz einer Handkamera erzeugt zusätzlich das Gefühl, dass wir uns mitten in der Szene befinden. Im Hintergrund ertönt Jazz-Musik. Schließlich hat die Frau den Mann zu Boden gezwungen. Die jetzt halbnah positionierte Kamera fokussiert die Frau, wie sie über ihrem Zuhälter kniet und sich Geld, das „ihr zusteht“, aus seiner Brieftasche nimmt.
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Ich kenne kaum einen Film, der eine ähnlich intensive Eröffnungssequenz aufweist. Gleich in der allerersten Einstellung werden wir als (männliche) Zuseher sozusagen mit verdroschen. Wir sind mitten ins Geschehen geworfen, können uns zunächst überhaupt nicht orientieren und vor allem: unsere Rolle als unabhängiger Beobachter scheint direkt angegriffen. Unsere Neugier wird bestraft und unser Blick erwidert. Die Frau auf der Leinwand, deren primäre Funktion (zumindest nach der feministischen Filmtheorie) darin besteht, (dem männlichen Publikum) zur Schau gestellt zu werden, blickt zurück und bestraft. Fuller setzt dann noch eins drauf indem er die Frau ihre Perücke verlieren lässt. Die Bestrafung ist also eine doppelte. Nicht nur, dass wir von Beginn an aufgrund unserer Schaulust „attackiert“ werden, der Frau fehlt dann auch noch ein wichtiges Detail, das sie für männliche Zuschauer attraktiv macht. Die Abwesenheit der blonden Haare führt zu einem bizarren, fremdartigen Bild, das unserem Begehren entgegenwirkt. Insofern kann man den kahlen Kopf der Prostituierten vielleicht mit dem Totenschädel in Holbeins Gemälde „The Ambassadors“ vergleichen, auf das Lacan verweist. Das Objekt meines Blicks sieht mich an, entlarvt dabei wie bei Holbein die eitle Oberfläche (in diesem Fall die Kinoleinwand) und legt die schmale Trennlinie zwischen Symbolischem und Realem frei.
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Es gibt nur wenige Filmszenen, bei denen ich eine vergleichbare gewaltsame Dimension des Blicks gespürt habe. Eine davon ist sicher die Anfangsszene aus Bunuels „Un Chien Andalou“ (Ein andalusischer Hund, 1929), in der ein Mann einer Frau das Auge mit einer Rasierklinge aufschneidet. Eine andere wäre die markante Szene aus Hitchcocks „Rear Window“ (Das Fenster zum Hof, 1954), in der Thorwald (Raymond Burr) den voyeuristischen Blick Jeffreys (James Stewart) für einen kurzen Moment erwidert usw. --[[Benutzer:Philip Waldner|Philip Waldner]] 22:22, 4. Dez. 2010 (UTC)
  
  
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Nach dieser traumatischen Sequenz laufen die Credits über das Bild und wir sehen, wie sich die Frau ihre Perücke wieder aufsetzt, sie zurechtbürstet und sich schminkt. Dabei sieht sie in die Kamera wie in einen Spiegel.
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Nachdem das Reale in der Kampfszene kurz aufzuflackern schien, wird nun daran gearbeitet, das Symbolische vollständig wiederherzustellen. Die Frau stattet sich mit all den Merkmalen aus, die man auf der Kinoleinwand von ihr erwartet: Sie setzt sich ihre Haare wieder auf und widmet sich der Schönheitspflege. Dennoch kann man als Zuseher nicht mehr zurück. Fuller setzt den traumatischen Effekt bewusst an den Anfang seines Films, sodass das Publikum verunsichert ist und der Abgrund des Realen überall zu lauern droht.
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Auch der Spiegel spielt eine wichtige Rolle. Er erlaubt der Protagonistin eine erneute imaginäre Identifikation mit ihrem Ich-Ideal nach dem Ärger mit dem Realen (in der Kampfszene). Deswegen die Tätigkeiten vor dem Spiegel, mit denen sie sich ihre „Masken“ (Schminke, Perücke) wieder aufsetzt, um zu einem akzeptablen Selbstbild zu gelangen. Im weiteren Verlauf des Films hat der Spiegel insofern eine Schlüsselposition, als er der Protagonistin ihre wahre Berufung vor Augen führt: Eines Morgens betrachtet sie sich im Spiegel und beschließt ein neues Leben anzufangen. Sie lässt sich in einer kleinen Stadt nieder und wird Krankenschwester. Der Spiegel bekommt hier also eine Stütz- und Hilfsfunktion wie im Spiegelstadium.
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Dass damit der Schrecken noch nicht beendet ist, versteht sich von selbst. Hier beginnt dann erst die eigentliche beißende Gesellschaftskritik Fullers (übertroffen vielleicht nur in seinem Meisterwerk „Shock Corridor“ ein Jahr zuvor), wenn nach und nach aufgedeckt wird, dass es sich bei den braven Bewohnern der Kleinstadt „Grantville“ um wahre Monster handelt. Der Selbstfindung einer Prostituierten in den USA der 60er Jahre sind wohl doch Grenzen gesetzt.   
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Mir ist klar, dass ich mich hier interpretatorisch vielleicht zu weit aus dem Fenster gelehnt habe, obwohl mir einige der wichtigen lacanschen Begriffe noch nicht völlig klar sind. Deswegen bitte ich die KollegInnen um Hilfe, falls ich etwas falsch verstanden haben sollte. --[[Benutzer:Philip Waldner|Philip Waldner]] 22:22, 4. Dez. 2010 (UTC)
  
  

Aktuelle Version vom 4. Dezember 2010, 23:22 Uhr

Was wird auf der diegetischen Ebene über das Verhältnis Mann-Frau vermittelt?


Wie in vielen Filmen Fullers ist das Verhältnis von Mann und Frau auch hier von Anfang an gestört. Das wird bereits in dieser ersten Szene deutlich: eine Frau verprügelt ihren Zuhälter, weil er sie um Geld betrogen hat. Mitten im Kampf stößt er ihr eine Perücke vom Kopf und wir erfahren, dass sie völlig kahl ist, weil – wie später erklärt wird – sie der Zuhälter, als sie betrunken war, gegen ihren Willen rasiert hat. In kaum einem anderen Film hat Fuller das zwischenmenschliche Kampffeld gleich mit der ersten Szene so kraftvoll inszeniert. Durch das Verlieren der Perücke wird die Frau zu einer Art androgynem Wesen, das den Mann dominiert und ihn in eine unterwürfige Haltung zwingt. Klassische Beziehungskonstellationen wie die zwischen Mann und Frau werden in dieser Szene radikal außer Kraft gesetzt: die Frau verliert eines ihrer (für das Kino) wichtigsten weiblichen Attribute (das blonde Haar) und schlägt auf den Mann ein, der fast wie ein Kind versucht, die Schläge abzuwehren und um Gnade bettelt. Diese Umkehr der Machtverhältnisse ist typisch für Fullers Kino, in dem starre Rollenklischees ständig hinterfragt werden. So hat er auch ein Faible für ungewöhnliche Frauenfiguren: man denke nur an die bizarre Rolle von Barbara Stanwyck als Peitschenschwingende Großgrundbesitzerin in dem Western „Fourty Guns“ (1957). --Philip Waldner 22:22, 4. Dez. 2010 (UTC)


Wie ist der männliche Blick - auf der Leinwand, vonseiten des Regisseurs, des Zuschauers - konzipiert?


In der ersten Szene von „The Naked Kiss“ wird klar, warum in Analogie zu Dziga Vertovs „Kino-Auge“ bei Fuller auch von der „Kino-Faust“ die Rede ist: Eine Frau drischt in einer Nahaufnahme auf die Kamera ein (Was für ein Eröffnungsbild!). Schnitt zum Mann, dem Empfänger der Schläge. Diese beiden Point-of-view Einstellungen wechseln schnell, wodurch das Geschehen stark rhythmisiert wird. Der Einsatz einer Handkamera erzeugt zusätzlich das Gefühl, dass wir uns mitten in der Szene befinden. Im Hintergrund ertönt Jazz-Musik. Schließlich hat die Frau den Mann zu Boden gezwungen. Die jetzt halbnah positionierte Kamera fokussiert die Frau, wie sie über ihrem Zuhälter kniet und sich Geld, das „ihr zusteht“, aus seiner Brieftasche nimmt.

Ich kenne kaum einen Film, der eine ähnlich intensive Eröffnungssequenz aufweist. Gleich in der allerersten Einstellung werden wir als (männliche) Zuseher sozusagen mit verdroschen. Wir sind mitten ins Geschehen geworfen, können uns zunächst überhaupt nicht orientieren und vor allem: unsere Rolle als unabhängiger Beobachter scheint direkt angegriffen. Unsere Neugier wird bestraft und unser Blick erwidert. Die Frau auf der Leinwand, deren primäre Funktion (zumindest nach der feministischen Filmtheorie) darin besteht, (dem männlichen Publikum) zur Schau gestellt zu werden, blickt zurück und bestraft. Fuller setzt dann noch eins drauf indem er die Frau ihre Perücke verlieren lässt. Die Bestrafung ist also eine doppelte. Nicht nur, dass wir von Beginn an aufgrund unserer Schaulust „attackiert“ werden, der Frau fehlt dann auch noch ein wichtiges Detail, das sie für männliche Zuschauer attraktiv macht. Die Abwesenheit der blonden Haare führt zu einem bizarren, fremdartigen Bild, das unserem Begehren entgegenwirkt. Insofern kann man den kahlen Kopf der Prostituierten vielleicht mit dem Totenschädel in Holbeins Gemälde „The Ambassadors“ vergleichen, auf das Lacan verweist. Das Objekt meines Blicks sieht mich an, entlarvt dabei wie bei Holbein die eitle Oberfläche (in diesem Fall die Kinoleinwand) und legt die schmale Trennlinie zwischen Symbolischem und Realem frei.

Es gibt nur wenige Filmszenen, bei denen ich eine vergleichbare gewaltsame Dimension des Blicks gespürt habe. Eine davon ist sicher die Anfangsszene aus Bunuels „Un Chien Andalou“ (Ein andalusischer Hund, 1929), in der ein Mann einer Frau das Auge mit einer Rasierklinge aufschneidet. Eine andere wäre die markante Szene aus Hitchcocks „Rear Window“ (Das Fenster zum Hof, 1954), in der Thorwald (Raymond Burr) den voyeuristischen Blick Jeffreys (James Stewart) für einen kurzen Moment erwidert usw. --Philip Waldner 22:22, 4. Dez. 2010 (UTC)


Wie lässt sich die Passage des Schminkens hinter den Buchstaben-Inserts blickgrammatisch begreifen?


Nach dieser traumatischen Sequenz laufen die Credits über das Bild und wir sehen, wie sich die Frau ihre Perücke wieder aufsetzt, sie zurechtbürstet und sich schminkt. Dabei sieht sie in die Kamera wie in einen Spiegel. Nachdem das Reale in der Kampfszene kurz aufzuflackern schien, wird nun daran gearbeitet, das Symbolische vollständig wiederherzustellen. Die Frau stattet sich mit all den Merkmalen aus, die man auf der Kinoleinwand von ihr erwartet: Sie setzt sich ihre Haare wieder auf und widmet sich der Schönheitspflege. Dennoch kann man als Zuseher nicht mehr zurück. Fuller setzt den traumatischen Effekt bewusst an den Anfang seines Films, sodass das Publikum verunsichert ist und der Abgrund des Realen überall zu lauern droht.

Auch der Spiegel spielt eine wichtige Rolle. Er erlaubt der Protagonistin eine erneute imaginäre Identifikation mit ihrem Ich-Ideal nach dem Ärger mit dem Realen (in der Kampfszene). Deswegen die Tätigkeiten vor dem Spiegel, mit denen sie sich ihre „Masken“ (Schminke, Perücke) wieder aufsetzt, um zu einem akzeptablen Selbstbild zu gelangen. Im weiteren Verlauf des Films hat der Spiegel insofern eine Schlüsselposition, als er der Protagonistin ihre wahre Berufung vor Augen führt: Eines Morgens betrachtet sie sich im Spiegel und beschließt ein neues Leben anzufangen. Sie lässt sich in einer kleinen Stadt nieder und wird Krankenschwester. Der Spiegel bekommt hier also eine Stütz- und Hilfsfunktion wie im Spiegelstadium. Dass damit der Schrecken noch nicht beendet ist, versteht sich von selbst. Hier beginnt dann erst die eigentliche beißende Gesellschaftskritik Fullers (übertroffen vielleicht nur in seinem Meisterwerk „Shock Corridor“ ein Jahr zuvor), wenn nach und nach aufgedeckt wird, dass es sich bei den braven Bewohnern der Kleinstadt „Grantville“ um wahre Monster handelt. Der Selbstfindung einer Prostituierten in den USA der 60er Jahre sind wohl doch Grenzen gesetzt.

Mir ist klar, dass ich mich hier interpretatorisch vielleicht zu weit aus dem Fenster gelehnt habe, obwohl mir einige der wichtigen lacanschen Begriffe noch nicht völlig klar sind. Deswegen bitte ich die KollegInnen um Hilfe, falls ich etwas falsch verstanden haben sollte. --Philip Waldner 22:22, 4. Dez. 2010 (UTC)





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