Hochschuldidaktik und Wikis: Unterschied zwischen den Versionen

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Aktuelle Version vom 22. Juli 2006, 07:56 Uhr

Überlegungen zu Hochschuldidaktik und Wikis

Herbert Hrachovec


Die institutionelle Verankerung von eLearning an den Universitäten und die Notwendigkeit, die damit verbundenen Investitionen zu rechtfertigen und produktiv auszubauen, haben eine Anzahl neuartiger pädagogischer Fragen aufgeworfen. Welche Lernplattform ist für einen gegebenen Zweck am Besten geeignet? Wie sehen die Strategien der elektronisch unterstützten Hochschuldidaktik aus? Wodurch sind die Studierenden zur aktiven Teilnahme zu motivieren? Die folgenden Bemerkungen liegen quer zu diesem Trend. Sie basieren auf mehrjähriger Erfahrung mit Wiki-Webs in philosophischen Lehrveranstaltungen und beschreiben einen informellen, den wechselnden Erfordernissen des Unterrichts angepassten, Gebrauch des technischen Hilfsmittels, der schlecht in allgemeine Maximen und vermutlich auch nicht in „best practice“-Modelle gefasst werden kann.

Die Grundidee eines Wiki-Webs ist diese: eine nicht kontrollierte Anzahl von Autorinnen (m/w) erzeugt gemeinsam und ohne zentrale Intervention ein Ensemble von Webseiten, das für die Gruppe - die sich in diesem Prozess konstutuiert - von Nutzen ist. Dieses Konzept hat nichts mit Hochschulpädagogik zu tun. Man muss es schärfer formulieren: es widerspricht in einigen Punkten den Erfordernissen des universitären Lehrbetriebs. Ohne Zugangsbeschränkung, Wochenplan, Moderationsrollen, ohne Unterstützung für die hierarchische Konstruktion der Arbeitsumgebung und das Arrangement (multimedialer) Präsentationen sind Wikis in Basisausfertigung für anspruchsvolle Lehr/Lern-Szenarien denkbar ungeeignet. Eine Möglichkeit besteht darin, sie als eine Art Spielwiese in differenziertere, strukturierte Lernumgebungen einzubauen. Oder man dreht die Betrachtungsweise um und versucht herauszufinden, welche Ergebnisse eine Spielwiese im Zusammenhang mit Unterricht hervorbringt.

Die erste Konsequenz eines solchen Vorhabens betrifft die Motivation. Gebräuchliche Lernplattformen sind notgedrungen Barrieren, zu deren Überwindung Einschulungen, Inzentive und Überredung nötig sind. Es ist zweckfremd, mit Wikis ebenso zu verfahren. Die Demonstration, dass jede Webseite zu editieren und um weitere Seiten zu ergänzen ist, nimmt fünf Minuten in Anspruch und muss ausreichen. Nicht, weil es keinen darüber hinausreichenden Erklärungsbedarf gäbe, sondern weil eine solche Intervention den Charakter des Unternehmens verfehlt. Wiki-Kompetenz pflanzt sich durch peer-to-peer Prozesse fort. Wer sie als Lernziel formuliert, missdeutet ein essentielles Antriebsmoment dieser Kooperationsform: Wissensproduktion durch explorative Neugierde.

Aus diesem Grund sind die Ressourcen auf [1] und [2] nicht pro Semester nach einem Unterrichtsmodell angelegt worden. Die Vorgabe bestand darin, begleitend zu Lehrveranstaltungen Thesen, Materialien und Notizen zur Verfügung zu stellen und die Studierenden aufzufordern, sich in den Verlauf einzuschalten. Das Ergebnis variierte nach dem Typ des Angebotes und der Zusammensetzung der Teilnehmerinnen. Didaktisches Design, so wünschenswert es sein mag, ist kein Primärmotiv zur Mitgestaltung einer Wiki-Plattform. Ihre Attraktivität liegt darin, dass sie für spontane Dokumentation und Verständigung, sowie für den kooperativen Aufbau themenbezogener Information ohne große Umstände zur Verfügung steht. Der Nutzen ihrer Verwendung muss nicht extern erklärt werden.

Nach dem hier vertretenen Prinzip arbeitet man am Wiki, weil und sofern es für bestimmte Zwecke nützlich ist. Vorausgesetzt ist ein Konsens darüber, dass eine Lehrveranstaltung die Interessen der Beteiligten anspricht. Insofern liegt die pädagogische Aufgabe vor der Einbeziehung von Wikis. Ist dieser Schritt getan, entwickelt sich die digitale Ergänzung von selbst. Oder auch nicht; es besteht keine Garantie, dass Kreativität freiwillig in den Ablauf einer universitären Formvorgabe investiert wird. Nach bisherigen Erfahrungen können sich jedoch interessante Inhaltscluster herausbilden. Zwei Beispiele aus dem Wintersemester 2005/06 illustrieren das Spektrum der Möglichkeiten.

Das Projektseminar „Lernen, Wissen, Computer“ setzte digitale Kompetenz voraus; der Einsatz eines Wikis zur Unterstützung der Arbeit wurde kommentarlos vorausgesetzt. Auffallend ist in diesem Fall, wie die Beteiligten (ohne Instruktion) die Flexibilität der Schreibumgebung zur Organisation eines Gruppenziels nutzten. Die Aufgabe bestand darin, ein „Lernobjekt“ zur „Wissensgesellschaft“ mit besonderem Augenmerk auf die open-spource-Bewegung zu erstellen. Das media-wiki ([3]) unterscheidet zwischen „Artikeln“ und mit ihnen assoziierten Diskussionsseiten. Diese Verteilung eignete sich gut zur Zuordnung der Aktivitäten in (vorläufige, öfters revidierte) Gliederungs- und Textentwürfe auf der einen, Erläuterungen und Kritik auf der anderen Seite. Vom Gruppenkonsens getragene Arbeitsvorhaben wurden auf diese Weise kodifiziert und diese Festlegung verstärkte umgekehrt die Kohärenz der Gruppenarbeit. Anders gelagerte Zugangsweisen (auch des Seminarleiters) wurden notiert, konnten sich aber gegen die Zielorientierung des Teams nicht behaupten. Kooperation, wenn sie ernst genommen wird, hängt an der freien Gestaltung eines selbstgewählten Arbeitsauftrags.

Ein offensichtliches Charakteristikum der Wiki-Idee ist das Fehlen definitiver Resultate. Alte Versionen bleiben zugänglich, aktuelle Fassungen können jederzeit verändert werden. Die Pointe der Entwicklung eines „Lernobjekts“ im Wiki liegt darin, den Widerspruch zu versöhnen. Es sollte möglich sein, flexibles Arbeiten mit einem Endprodukt zu verbinden. Der Projektgruppe stand dazu ein Python-Skript „wiki2scorm“ zur Verfügung, das aus einer Liste eingegebener Webseiten ein SCORM-Paket erzeugt. Dieses Aggregat exportiert die gewünschten Strukturausschnitte aus dem Wiki und läßt sich in die meisten gängigen Lernplattformen importieren. Abgelöst von den - notgedrungen individuellen - Entstehungsbedingungen eines bestimmten Produktes erlaubt dieser Export die Weiterverbreitung des Ergebnisses in konventionellerem Rahmen.

Die Vorlesung „Toleranz“ besuchten im Schnitt 50 Hörerinnen und Hörer aus dem ersten und zweiten Studienabschnitt. Obwohl in diesem Kontext nicht mit gesicherter Kompetenz in elektronische unterstützter Kommunikation zu rechnen war, wurde die Ergänzung der Veranstaltung durch ein Wiki auch hier ohne weitere Einführungsmaßnahmen vorgegeben. Beiträge im Wiki standen als Vortragsunterlagen auf Artikel-Seiten live zur Verfügung; einige Male wurde darauf hingewiesen, dass auf den zugehörigen Diskussionsseiten Gelegenheit zu weiterführenden Debatten bestünde.

Nach anfangs zögernder Beteiligung entwickelte sich eine immer lebhafter werdende, an die Themenvorgabe anknüpfende, sie aber auch in mehrere Dimensionen erweiternde, Kooperation mit zuletzt etwa 15 Teilnehmerinnen (m/w). Die Komplexität des online Austausches ging bald über das Format einer Diskussionsseite hinaus und führte zu einer mehrfachen Unterteilung und Reorganisation des Sachbereiches. In herkömmlichen Unterrichts-Szenarien ist die Ergänzung des Vorlesungsstoffes durch knapp danach schriftlich verfasste und veröffentlichte Fragen, Reaktion und Weiterführungen unbekannt. Ungefähr in der Mitte des Semesters wurde vereinbart, dass die aktive Mitbeteiligung an diesem Textverbund auch als Leistungsnachweis für die Lehrveranstaltung gelten würde. Im Unterschied zu den bekannten mündlichen und schriftlichen Prüfungen bietet diese Regelung die Möglichkeit, auf der Basis von Vorlesungen partizipative Lernerfahrungen zu entwickeln.

Eigentümlich für philosophisches Vorgehen ist eine Auffassung des Verhältnisses von Forschung und Lehre, die durch die dargestellte Technik verstärkt wird. Anders als in vielen Disziplinen können Beiträge, die noch nicht durch den Filter der Professionalisierung gegangen sind, einen gewissen eigenständigen Status behalten. Die Autorität wissenschaftlicher Kompetenz ersetzt individuelle Begriffsbildungen in diesem Bereich niemals vollständig; charakteristisch ist ein Spannungsverhältnis zwischen Fachdiskurs und gedanklicher Arbeit in einem allgemeineren Sinn. Im Wiki zur Vorlesung „Toleranz“ sind beide Stränge parallel sichtbar. Darüber hinaus entsteht der Anstoß, den vergleichsweise eng gesteckten Verlauf des Vortrags um die hinzukommenden Beiträge zu erweitern. Die Rezeption der Rückmeldungen seitens der Studierenden wird zur doppelt gerichteten Forschungstätigkeit, sofern sie das Problemverständnis und die Reichweite des anfänglichen Konzepts der Vorlesung modifiziert.

Rückfragen an einige Autorinnen (m/w) haben ergeben, dass sie in erster Linie einen Beitrag zur sachlichen Auseinandersetzung leisten wollten. Die Handhabung des Wikis ergab sich nebenbei. Das heißt nicht, dass die Kooperation in diesem Medium unaufwändig vor sich geht. Im Beitrag „Zwei Stunden und der Rest der Woche. Bemerkungen zur Wiki-Pädagogik“ ([4]) sind einschlägige Erfahrungen eines zweijährigen Projektes zusammengefasst. Die Indizien weisen darauf hin, dass sich inhaltsbezogene hochschuldidaktische Ansätze nicht vor den Prozess der (philosophischen) Auseinandersetzung platzieren sollten. Wikis eignen sich gut dazu, ihn verstärkend zu begleiten.




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