Neue Vergangenheit: Unterschied zwischen den Versionen
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− | Dass man vieles tun kann, um die Vergangenheit zu erneuern, ist damit klar geworden. Die Frage die sich hier stellt ist, braucht es das? Wie rechtfertigt eine Systemadministratorin diese Eingriffe? Und gegenüber | + | Dass man vieles tun kann, um die Vergangenheit zu erneuern, ist damit klar geworden. Die Frage die sich hier stellt ist, braucht es das? Wie rechtfertigt eine Systemadministratorin diese Eingriffe? Und gegenüber wem? Es gibt einen Spielraum zwischen dem, was in einem System abgesichert ist, und dem, was Personen trotzdem tun können (z.B. Logs, die in einem Langzeitarchiv gespeichert werden, zu löschen, weil unabsichtlich Passwörter der User mitgelogged wurden). So beginnen Kriminalfälle, Kriseninterventionen und Paradigmenwechsel. |
Wenn etwas "plötzlich weg" oder anders ist, z.B. eine der Versionen, was passiert mit dem Kontinuum der Historie? Wenn es tatsächlich durch die Beobachtung der Unterschiede entsteht, und es nichts anderes als Versionen gibt, dann wäre die veränderte Vergangenheit nicht wahrnehmbar als verändert. In so einer Welt gibt es keine alternativen Entwicklungsverläufe, sondern einen sukzessiven, linearen Verlauf der Geschichte, selbst wenn die Herstellung dieses linearen Verlaufs durch (machtvolle) Eingriffe entstanden ist. Doch dieser Eindruck "plötzlich weg", wenn wir ihn haben, z.B. auf Basis unseres Gedächtnisses oder anderer Quellen, kann uns veranlassen, auf Spurensuche zu gehen. Man findet Widersprüche und der Eindruck eines glatten Verlaufs vergeht. | Wenn etwas "plötzlich weg" oder anders ist, z.B. eine der Versionen, was passiert mit dem Kontinuum der Historie? Wenn es tatsächlich durch die Beobachtung der Unterschiede entsteht, und es nichts anderes als Versionen gibt, dann wäre die veränderte Vergangenheit nicht wahrnehmbar als verändert. In so einer Welt gibt es keine alternativen Entwicklungsverläufe, sondern einen sukzessiven, linearen Verlauf der Geschichte, selbst wenn die Herstellung dieses linearen Verlaufs durch (machtvolle) Eingriffe entstanden ist. Doch dieser Eindruck "plötzlich weg", wenn wir ihn haben, z.B. auf Basis unseres Gedächtnisses oder anderer Quellen, kann uns veranlassen, auf Spurensuche zu gehen. Man findet Widersprüche und der Eindruck eines glatten Verlaufs vergeht. | ||
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+ | Da stecken einige interessante Voraussetzungen drinnen. (Für Punkt 3 siehe den nächsten Abschnitt.) | ||
+ | * "Historie" ist in Seiten segmentiert | ||
+ | * Diese Seiten bleiben in ihrer ersten Gestalt unverändert zugänglich. | ||
+ | * Das Management dieser Zugänglichkeit wird in zwei Berechtigungsstufen aufgeteilt. | ||
+ | ** Die einzelnen Seiten und ihre Veränderungen entlang der Zeitachse sind öffentlich verfügbar. | ||
+ | ** Bestimmte Transaktionen, insbesondere Manipulationen in der zugrundliegenden Datenbank, können nach aussen hin vollständig kaschiert werden. | ||
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+ | Diese Beobachtungen sind gedankliche Impulse für allgemeinere Überlegungen zur Geschichtszeit. | ||
+ | * Sie besteht ''gerade nicht'' aus distinkten Etappen, deren Beschaffenheit und Veränderung sich eindeutig festmachen ließe | ||
+ | * Wollte man eine Etappe fixieren, verwischt sie sich unweigerlich im Moment, in dem sie "in die Vergangenheit übergeht". | ||
+ | * Als Äquivalent einer Wiki-Seite könnte (beispielsweise) ein Gebäude angesehen werden, das mehrere Generationen überdauert und dessen Baupläne den Wechsel in der Zeit dokumentieren. | ||
+ | * An diesem Beispiel wird deutlich: Geschichte ist nicht einfach die Dokumentation der Differenzen in der Zeit, sondern dazu die unweigerliche Umdeutung der Etappen, die quasi aus der Zeit genommen werden, durch immer neue Geschehenskontexte. | ||
+ | * Eine Geschichte in Etappen (gespeicherten Wiki-Seiten) beruht auf der methodischen Suspendierung eines wesentlichen Moments gelebter Geschichte. (Das ist charakteristisch für jede Geschichtsschreibung.) | ||
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+ | ===== ''führt neue Möglichkeiten der Geschichtsschreibung ein'' ===== | ||
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+ | Gelebte Geschichte ist weder in Etappen gegliedert, noch lässt sich die ihr inhärente Verwischung im Gedächtnis öffentlich überschaubar machen. Im Wiki gibt es jedoch eine Option der "Geschichtsfälschung", nämlich die (mehr oder weniger) spurlose Beseitigung des archivierten Bestandes. Es ist, wie wenn ein Gebäude abgerissen wird. Das "materielle" Substrat, auf dem die Historie aufbaut, wird beseitigt und damit eine Rekonfiguration dieser Historie erzwungen, zumindest soweit es die Geschichtsschreibung betrifft. (Sie kann nicht auf fehlenden Quellen aufbauen.) Die neuen Möglichkeiten, die damit entstehen, sind einerseits neue Etappenverläufe und andererseits ''Umdeutungen'', ''Fälschungen'' -- verglichen mit dem früheren Zustand. Aber wo ist der (noch) auffindbar? | ||
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+ | ===== ''In so einer Welt gibt es keine alternativen Entwicklungsverläufe, sondern einen sukzessiven, linearen Verlauf der Geschichte'' ===== | ||
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+ | Andreas sieht dasselbe Problem. Nur "auf Basis unseres Gedächtnisses oder anderer Quellen" können wir der Täuschung dieses sukzessiven Verlaufes entkommen. Das sind zwei sehr verschiedene Hilfsmittel: die individuelle Assimilation des Geschehenen in eine Eigengeschichte und die externe Inkonsistenz zwischen Überresten. Beides kommt in der Revision geschichtlicher Linearitäten zusammen. Und hier liegt ein Grund dafür, dass "die Historie" eines Wikis eine sehr problematische Analogie zu ''Geschichte'' anbietet. Gerade die Bedingungen der präzedenzlosen Erfassung von Veränderungsprozessen blockieren den (diffusiven) Anteil des Gedächtnisses. Das ist vielleicht ein Grund dafür, dass die schönen Versionsauflistungen kaum jemals kreativ genutzt werden. | ||
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+ | --[[Benutzer:Anna|anna]] ([[Benutzer Diskussion:Anna|Diskussion]]) 14:05, 31. Jan. 2016 (CET) | ||
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[[Category:Big Data. WS 2015]] | [[Category:Big Data. WS 2015]] |
Aktuelle Version vom 31. Januar 2016, 14:07 Uhr
Inhaltsverzeichnis
Neue Vergangenheit?
In der letzten Vorlesung (07.01.2016) (ca. ab 01:00:00) wurden Prozesse der Veränderung von Datenbanken im Kontext von Wikis diskutiert. Ich möchte das kurz auseinandersetzen:
Das Wiki verfolgt systematisch eine Strategie der Historisierung jedes Beitrags, der den Datenbanken zusätzlich draufgesetzt ist. Die Thematik wird unter dem Fachbegriff "temporale Datenhaltung" verhandelt. Das Feature der Versionierung in Wikis ist keine Selbstverständlichkeit von Datenbanken.
Ein paar strukturelle Überlegungen dazu - innerhalb von Wikis:
- X schreibt Beiträge im Wiki und erweitert dadurch den Bestand der Historie.
- Wie passiert das?
- Die Historie ist die Gesamtheit der Unterschiede zwischen den Versionen aller Seiten.
- Was heißt das konkret?
- Seite a wurde n mal verändert.
- Wir schreiben a1 für die erste Version der Seite. a1(X) heißt: X hat die erste Version von Seite a erstellt.
- a1(X)
- a2(Y)
- ...
- an(Z)
Die Historie von a besteht aus allen Version von a, doch ein Kontinuum wird sie durch die Kenntnis der Unterschiede zwischen den Versionen, also zwischen a1 und a2, und a2 zu a3 usw.... bis zu an.
- Jeder Beitrag einer Benutzerin verändert die Historie auf eine sehr spezifische Weise: Nämlich, indem eine neue Version einer Seite hinzugefügt wird und die Änderungen zur Vorversion für alle Benutzerinnen des Wikis ersichtlich sind.
- Die aktuellste Version wird markiert und prominent dargestellt: an(Z)*
- Angenommen, Seite a hat 9 Versionen, zuletzt geändert von Z. Wir schreiben: a9(Z)*.
- X bearbeitet die 9te Version und schickt sie zurück an den Wiki-Server.
- Die dreifache Aufhebung besteht in Folgendem:
- Die Aktualität von a9 wird aufgehoben, d.h. sie ist nicht mehr die aktuellste Version; der Stern wandert zu a10: a10(X)*.
- Die Relevanz von a9 wird (hin)aufgehoben, d.h. mitgenommen in die neue Version. a10 enthält noch immer Teile von a9, oder zumindest eine Referenz auf die Existenz der vergangenen Version a9, die X als Grundlage genommen hat, auch wenn X am Ende allen Inhalt der in a9 vorhanden war, gelöscht hat. Die Iteration hinterlässt eine rekonstruierbare Spur.
- Der Bestand von a9 wird aufgehoben, d.h. weiterhin in der Historie gespeichert.
Nun kann man die Einheit Wiki-Software <-> Datenbank als Systemadministratorin oder Wiki-Administratorin auseinandernehmen, weil man die Macht, d.h. die nötigen Berechtigungen und Fähigkeiten dazu hat. Dieser Eingriff, der nicht nur böswillig sondern, wie in der Vorlesung verdeutlicht, sogar auf Wunsch von Benutzerinnen passieren kann, macht die systematische Historisierung und die dreifache Aufhebung kaputt - aus der Perspektive des Wikis. Diese extra Macht der Systemadministratorinnen führt neue Möglichkeiten der Geschichtsschreibung ein, die quer zu denen von Wikis als Web-Applikation und quer zum Prinzip des sukzessiven Fortschritts liegen:
- Durch die Ersetzung aller X durch Z in jeder Version, wird die Historie verändert, jedoch in einem anderen Sinne als dies innerhalb der normalen Benutzerabläufe möglich ist. Man hängt nicht einfach eine zusätzliche Version dran, sondern verändert bestehende Versionen.
- Eine Datenbankadministratorin kann mit ausreichend Kleinarbeit sogar alle Versionen von X löschen, z.B. könnte man a1(X) löschen; danach würde die erste Version a2(Y) sein.
Es gibt also die Möglichkeit, Versionen "spurlos" zu entfernen, da die darunterliegende Datenbank die temporäre Datenhaltung nicht automatisch eingebaut hat, sondern in der Applikationslogik drauf gesetzt ist. Nunja, es gibt wohl kein perfektes "Verbrechen", aber man kann die Spuren stark verwischen.
Weiterführendes / Vertiefendes:
- Delete revisions inside the wiki with special user rights: https://www.mediawiki.org/wiki/Bitfields_for_rev_deleted
- Delete revisions using SQL: http://kb.linuxvirtualserver.org/wiki/Purge_spam_revisions_from_mediawiki_database_permanently
- Der Film "Crimen ferpecto" oder "Irrational Man"
Dass man vieles tun kann, um die Vergangenheit zu erneuern, ist damit klar geworden. Die Frage die sich hier stellt ist, braucht es das? Wie rechtfertigt eine Systemadministratorin diese Eingriffe? Und gegenüber wem? Es gibt einen Spielraum zwischen dem, was in einem System abgesichert ist, und dem, was Personen trotzdem tun können (z.B. Logs, die in einem Langzeitarchiv gespeichert werden, zu löschen, weil unabsichtlich Passwörter der User mitgelogged wurden). So beginnen Kriminalfälle, Kriseninterventionen und Paradigmenwechsel.
Wenn etwas "plötzlich weg" oder anders ist, z.B. eine der Versionen, was passiert mit dem Kontinuum der Historie? Wenn es tatsächlich durch die Beobachtung der Unterschiede entsteht, und es nichts anderes als Versionen gibt, dann wäre die veränderte Vergangenheit nicht wahrnehmbar als verändert. In so einer Welt gibt es keine alternativen Entwicklungsverläufe, sondern einen sukzessiven, linearen Verlauf der Geschichte, selbst wenn die Herstellung dieses linearen Verlaufs durch (machtvolle) Eingriffe entstanden ist. Doch dieser Eindruck "plötzlich weg", wenn wir ihn haben, z.B. auf Basis unseres Gedächtnisses oder anderer Quellen, kann uns veranlassen, auf Spurensuche zu gehen. Man findet Widersprüche und der Eindruck eines glatten Verlaufs vergeht.
- "Die Tradition, sagen wir. Aber was wir so nennen, ist gestern oder vorgestern durchaus nicht unter demselben Namen gefasst worden. Die Vergangenheit, zu der wir heute Stellung beziehen müssen, ist zerspalten in tausend verschiedene "Vergangenheiten" [...] Und in der "überkommenen" Lehre verraten jedes mal einige Fehlstellen oder zumindest Verwindungen einen (oft unbewussten) Bruch und eine unterirdische Bewegung, eine Erneuerung der Tradition."
- Michel de Certeau: GlaubensSchwachheit. Stuttgart 2009. I. Eine Tradition lesen 3. Der Mythos von den Ursprüngen.. S.69
--Andyk (Diskussion) 00:50, 19. Jan. 2016 (CET)
Kommentar
Die Historie ist die Gesamtheit der Unterschiede zwischen den Versionen aller Seiten.
Da stecken einige interessante Voraussetzungen drinnen. (Für Punkt 3 siehe den nächsten Abschnitt.)
- "Historie" ist in Seiten segmentiert
- Diese Seiten bleiben in ihrer ersten Gestalt unverändert zugänglich.
- Das Management dieser Zugänglichkeit wird in zwei Berechtigungsstufen aufgeteilt.
- Die einzelnen Seiten und ihre Veränderungen entlang der Zeitachse sind öffentlich verfügbar.
- Bestimmte Transaktionen, insbesondere Manipulationen in der zugrundliegenden Datenbank, können nach aussen hin vollständig kaschiert werden.
Diese Beobachtungen sind gedankliche Impulse für allgemeinere Überlegungen zur Geschichtszeit.
- Sie besteht gerade nicht aus distinkten Etappen, deren Beschaffenheit und Veränderung sich eindeutig festmachen ließe
- Wollte man eine Etappe fixieren, verwischt sie sich unweigerlich im Moment, in dem sie "in die Vergangenheit übergeht".
- Als Äquivalent einer Wiki-Seite könnte (beispielsweise) ein Gebäude angesehen werden, das mehrere Generationen überdauert und dessen Baupläne den Wechsel in der Zeit dokumentieren.
- An diesem Beispiel wird deutlich: Geschichte ist nicht einfach die Dokumentation der Differenzen in der Zeit, sondern dazu die unweigerliche Umdeutung der Etappen, die quasi aus der Zeit genommen werden, durch immer neue Geschehenskontexte.
- Eine Geschichte in Etappen (gespeicherten Wiki-Seiten) beruht auf der methodischen Suspendierung eines wesentlichen Moments gelebter Geschichte. (Das ist charakteristisch für jede Geschichtsschreibung.)
führt neue Möglichkeiten der Geschichtsschreibung ein
Gelebte Geschichte ist weder in Etappen gegliedert, noch lässt sich die ihr inhärente Verwischung im Gedächtnis öffentlich überschaubar machen. Im Wiki gibt es jedoch eine Option der "Geschichtsfälschung", nämlich die (mehr oder weniger) spurlose Beseitigung des archivierten Bestandes. Es ist, wie wenn ein Gebäude abgerissen wird. Das "materielle" Substrat, auf dem die Historie aufbaut, wird beseitigt und damit eine Rekonfiguration dieser Historie erzwungen, zumindest soweit es die Geschichtsschreibung betrifft. (Sie kann nicht auf fehlenden Quellen aufbauen.) Die neuen Möglichkeiten, die damit entstehen, sind einerseits neue Etappenverläufe und andererseits Umdeutungen, Fälschungen -- verglichen mit dem früheren Zustand. Aber wo ist der (noch) auffindbar?
In so einer Welt gibt es keine alternativen Entwicklungsverläufe, sondern einen sukzessiven, linearen Verlauf der Geschichte
Andreas sieht dasselbe Problem. Nur "auf Basis unseres Gedächtnisses oder anderer Quellen" können wir der Täuschung dieses sukzessiven Verlaufes entkommen. Das sind zwei sehr verschiedene Hilfsmittel: die individuelle Assimilation des Geschehenen in eine Eigengeschichte und die externe Inkonsistenz zwischen Überresten. Beides kommt in der Revision geschichtlicher Linearitäten zusammen. Und hier liegt ein Grund dafür, dass "die Historie" eines Wikis eine sehr problematische Analogie zu Geschichte anbietet. Gerade die Bedingungen der präzedenzlosen Erfassung von Veränderungsprozessen blockieren den (diffusiven) Anteil des Gedächtnisses. Das ist vielleicht ein Grund dafür, dass die schönen Versionsauflistungen kaum jemals kreativ genutzt werden.
--anna (Diskussion) 14:05, 31. Jan. 2016 (CET)