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− | Badiou beginnt, nach einer Einleitung, seine erste "Meditation" mit einem brillianten Entwurf. | + | Badiou beginnt, nach einer Einleitung, seine erste "Meditation" mit einem brillianten Entwurf. Sie verbindet (innerhalb der klassischen Philosophie) hochplausible Aussagen mit der suggestiven Zuspitzung eines Problems. Es ist allerdings wichtig, die angesprochene Intuition von ihrer ''Zuspitzung'' in Badious Version zu unterscheiden. |
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Gäbe es nämlich eine solche Einheit nicht, würden die Gegebenheiten quasi auseinanderfallen. Wir hätten keine Vielfalt, sondern ständigen Verlust. | Gäbe es nämlich eine solche Einheit nicht, würden die Gegebenheiten quasi auseinanderfallen. Wir hätten keine Vielfalt, sondern ständigen Verlust. | ||
− | An diesem Motiv hängt | + | An diesem Motiv hängt ein bedeutender Strang der philosphischen Tradition. Badiou schärft die Sache terminologisch zu einem handfesten Dualismus. Dazu formuliert er die oben absichtlich vage gehaltene Überlegung pointiert in zwei abstrakte Behauptungen. Ihre grammatische Struktur sieht so aus: |
*''Etwas'' erweist ''sich'' als vielfältig | *''Etwas'' erweist ''sich'' als vielfältig | ||
*''Etwas'' ist eins | *''Etwas'' ist eins | ||
− | In dieser markanten Fassung kann die Fragestellung nun unabhängig von der begleitenden Intuition sozusagen sprachtechnisch weitergetrieben werden. ''etwas'' wird durch die grammatisch passende Flexion von ''sein'' ersetzt | + | In dieser markanten Fassung kann die Fragestellung nun unabhängig von der begleitenden Intuition sozusagen sprachtechnisch weitergetrieben werden. ''etwas'' wird durch die grammatisch passende Flexion von ''sein'' ersetzt. (Wir betreiben Ontologie.) Das kommentiere ich hier nicht. Unerläßlich ist allerdings, das semantische Schillern zu beobachten, das eintritt, wenn die Nominalform dieses Auxiliarverbs in eine Reflexivkonstruktion eingesetzt wird. Andreas Kirchner kommentiert: |
:... Sein ist seit jeher das, was (sich) zeigt, präsentiert, vorstellt, darstellt - weshalb es sich nicht erschöpfend darstellen lässt. Warum eigentlich nicht? Das eingeklammerte 'sich' scheint mir aufschlussreich zu sein. [[Benutzer:Andyk/Badiou/M1]] | :... Sein ist seit jeher das, was (sich) zeigt, präsentiert, vorstellt, darstellt - weshalb es sich nicht erschöpfend darstellen lässt. Warum eigentlich nicht? Das eingeklammerte 'sich' scheint mir aufschlussreich zu sein. [[Benutzer:Andyk/Badiou/M1]] | ||
− | + | Das ist tatsächlich ein entscheidender Faktor. Die vergleichsweise harmlose Fragestellung wird dadurch zu einem dialektischen Exerzitium (einem "livelock" A.K.). Denn durch die Klammer '''ETWAS -- SICH''' kommt eine ''Präsentation'' ins Spiel, also ein Darstellungsverhältnis. Das ist ein handliches Instrument, die anfängliche Intuition zu fassen, aber damit begibt Badiou sich auf einen speziellen Weg, den er verkompliziert, indem er die ''Abstufung'', die in diesem Verhältnis angelegt ist, durch einen Schachzug ausser Kraft setzt, nämlich seinen Verweis auf Leibniz. | |
:Leibniz dit : "Ce qui n’est pas véritablement un être n’est pas non plus véritablement un être. On a toujours cru que l'un et l'être sont des choses réciproques" (Correspondance avec Arnauld, avril 1687) [http://fr.wikipedia.org/wiki/L'Un] <ref>Leibniz spricht von ''einem Seienden'' und nicht vom "Sein".</ref> | :Leibniz dit : "Ce qui n’est pas véritablement un être n’est pas non plus véritablement un être. On a toujours cru que l'un et l'être sont des choses réciproques" (Correspondance avec Arnauld, avril 1687) [http://fr.wikipedia.org/wiki/L'Un] <ref>Leibniz spricht von ''einem Seienden'' und nicht vom "Sein".</ref> | ||
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#Marx, Freud und Lacan prägen den post-strukturalistischen Diskurs. | #Marx, Freud und Lacan prägen den post-strukturalistischen Diskurs. | ||
− | Die Widersprüchlichkeit des sich-präsentierenden Seins als Einheit verwendet | + | Die Widersprüchlichkeit des sich-präsentierenden Seins als Einheit verwendet Badiou, um sich für [3] auszusprechen. Er tut das mittels der Ausdrucksmöglichkeiten von [1] und [2]. Das gibt die Aussicht, Ontologie, eine ultra-formale Denkweise, mit einem modernen logischen Apparat zu betreiben. Aber er schneidet sowohl die ontologische Hermeneutik Heideggers, als auch die sprachanalytische Entwicklung ab. Problematisch sind besonders zwei Fixierungen: |
*Er übernimmt den Heideggerschen Duktus der "Seinsfrage" mit ihrem hohlen Pathos -- und re-mythologisiert sie mit Mengentheorie, statt sie zu zerlegen. | *Er übernimmt den Heideggerschen Duktus der "Seinsfrage" mit ihrem hohlen Pathos -- und re-mythologisiert sie mit Mengentheorie, statt sie zu zerlegen. | ||
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== Eine unerlaubte Fortsetzung? == | == Eine unerlaubte Fortsetzung? == | ||
− | Das Fehlen von Hermeneutik und Sprachphilosophie rächt sich. Badious nächster Argumentationsschritt gibt | + | Das Fehlen von Hermeneutik und Sprachphilosophie rächt sich. Badious nächster Argumentationsschritt gibt ein Problem wieder, das Plato aufgeworfen hat, aber es fehlt sowohl eine Textinterpretation, als auch analytische Vorsicht. Badiou spricht von der "Reziprozität"<ref>Gewöhnlich spricht man von "Reziprozität" in Verhältnissen, deren Relata sich wechselseitig ergänzen, also links und rechts oder Berg und Tal.</ref> zwischem "dem Einen" und "dem Sein". Ich werde die im Anschluss an Leibniz durchgeführten Überlegungen zunächst an einem Beispiel der Alltagssprache testen und dann auf seinen Spielzug eingehen. |
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− | Dass es das Eine nicht gibt, könnte einfach die Ersetzung der parmenideischen Position durch Heraklit sein. Das Grundprinzip heißt Werden statt Sein. Badiou zielt darauf ab, die Einheit als Operation, statt als ontologische Grundlage zu fassen. So ist sie einen Schritt entfernt vom Denkanfang angesiedelt, als der Beginn von uns kontrollierter Weltgestaltung. Es ist jedoch zu bemerken, dass für "Sein ohne Eins" noch eine andere Deutung zur Verfügung steht, welche das Eine nicht nachrangig zu einem kohärenzlosen Sein hinzufügt, sondern umgekehrt ''das Sein'' als nachrangig ansieht. Das ist die Lösung Plotins, der eine unvordenkliche ''Einheit'' annimmt, die präzise ''nicht'' in dem Sinn ist, dass wir sie mit unseren prädikativen Mitteln ("x ist ...") erreichen könnten. Auch Plotin könnte darum sagen, dass das Eine nicht ist. | + | Dass es das Eine nicht gibt, könnte einfach die Ersetzung der parmenideischen Position durch Heraklit sein. Das Grundprinzip heißt Werden statt Sein. Badiou zielt dagegen darauf ab, die Einheit als Operation, statt als ontologische Grundlage zu fassen. So ist sie einen Schritt entfernt vom Denkanfang angesiedelt, als der Beginn von uns kontrollierter Weltgestaltung. Es ist jedoch zu bemerken, dass für "Sein ohne Eins" noch eine andere Deutung zur Verfügung steht, welche das Eine nicht nachrangig zu einem kohärenzlosen Sein hinzufügt, sondern umgekehrt ''das Sein'' als nachrangig ansieht. Das ist die Lösung Plotins, der eine unvordenkliche ''Einheit'' annimmt, die präzise ''nicht'' in dem Sinn ''ist'', dass wir sie mit unseren prädikativen Mitteln ("x ist ...") erreichen könnten. Auch Plotin könnte darum sagen, dass das Eine nicht ist. |
− | + | Das ist nicht bloss eine philosophische-historische Zufälligkeit. Indem Badiou sich dem Parmenideisch-Platonischen Duktus anpasst, kann er diese Perspektive nicht vermeiden. Er läßt sich die Rede von einem weltumfassenden Ganzen vorgeben, das er verwirft. Das ''muss'' zur Frage führen, wie denn der Bereich, aus welchem die Bestandteile der Welt kommen, beschaffen sei. Plotin: sie entspringen in einem Sonderverfahren aus dem Einen, das wir nicht besprechen können. Bei Badiou findet sich eben diese Problemstellung, auf die er freilich anders reagiert. | |
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Erstaunlich ist, dass Badiou Wittgensteins Tractatus ignoriert. Er ist in wichtigen Punkten ähnlich motiviert. Der wunde Punkt in Freges Begriffsschrift war dessen Übernahme des uneingeschränkten Cantorschen Mengenbegriffes. Man kann alles zur Mengenbildung verwenden, auch Ausdrücke, die Mengen erzeugen, zu deren Konstruktion man auf die zu definierende Menge zurückgreifen muss: die Menge aller Mengen, die sich selbst enthalten, kann (oder kann nicht) Element dieser Menge sein. Der Tractatus ist so angelegt, dass Russells Antinomie von vornherein ausgeschlossen ist. Er läßt nur Ausdrücke zu, die keine Gelegenheit für solche Konstruktionen bieten. In Badious Terminologie gibt es in ihm keine inkonsistenten Vielheiten. Die ganze Welt wird im Rahmen der Logik einer Sprache erfasst, welche es ''nicht'' erlaubt, die Logik selbst zu thematisieren. Auch hier könnte man sagen: das Eine ist nicht, denn nur was sachgemäß als Anzahl von Situationen ("Sachverhalten") auftritt, ist sinnvoll beschreibbar. | Erstaunlich ist, dass Badiou Wittgensteins Tractatus ignoriert. Er ist in wichtigen Punkten ähnlich motiviert. Der wunde Punkt in Freges Begriffsschrift war dessen Übernahme des uneingeschränkten Cantorschen Mengenbegriffes. Man kann alles zur Mengenbildung verwenden, auch Ausdrücke, die Mengen erzeugen, zu deren Konstruktion man auf die zu definierende Menge zurückgreifen muss: die Menge aller Mengen, die sich selbst enthalten, kann (oder kann nicht) Element dieser Menge sein. Der Tractatus ist so angelegt, dass Russells Antinomie von vornherein ausgeschlossen ist. Er läßt nur Ausdrücke zu, die keine Gelegenheit für solche Konstruktionen bieten. In Badious Terminologie gibt es in ihm keine inkonsistenten Vielheiten. Die ganze Welt wird im Rahmen der Logik einer Sprache erfasst, welche es ''nicht'' erlaubt, die Logik selbst zu thematisieren. Auch hier könnte man sagen: das Eine ist nicht, denn nur was sachgemäß als Anzahl von Situationen ("Sachverhalten") auftritt, ist sinnvoll beschreibbar. | ||
− | + | Ein plotinscher Zwiespalt wird sichtbar. Von der Logik, welche dem Unternehmen zu Grunde liegt, kann nicht gesprochen werden. Sie zeigt sich. Das ist Wittgensteins Strategie, die Unnahbarkeit dessen anzusprechen, was jenseits des entsprechend reglementierten logisch aufgebauten Weltbeschreibungsmechanismus liegt. ''Das Mystische'' nimmt nicht Teil an der Wirklichkeit, darum läßt er auch die Finger davon. Badious Vorgehen läßt sich in diesem Licht so beschreiben: seine inkonsistente Mannigfaltigkeit ist ebenfalls der Voraussetzungsbereich der faktischen Weltaggregate. Aber er betrachtet es im Unterschied zu Wittgenstein als Reservoir der Ontologie. Er braucht es, um daraus seine Ereignisse hervorblitzen zu lassen. | |
Andreas Kirchner expliziert die Rolle dieser Ontologie für politisches Denken. Das "Verbindungsglied" (nur dass man es so nicht nennen dürfte) zwischen den Sachverhalten/Situationen und dem Jenseits ist die Leere, "doch die Leere taucht nicht als Leere auf, sondern als Ereignis, das sofort wieder verschwindet". [[Benutzer:Andyk/Badiou/ThinkAgain]] Das kommt davon, dass man die Welt aus überschaubaren Strukturen bestehen läßt, die einer Unbestimmtheit entspringen, welche von diesen Strukturen aus unzugänglich ist. ''Und'' dass man diese Strukturwelt dann, ich sage es einmal polemisch, vom Unbestimmten her terrorisiert. | Andreas Kirchner expliziert die Rolle dieser Ontologie für politisches Denken. Das "Verbindungsglied" (nur dass man es so nicht nennen dürfte) zwischen den Sachverhalten/Situationen und dem Jenseits ist die Leere, "doch die Leere taucht nicht als Leere auf, sondern als Ereignis, das sofort wieder verschwindet". [[Benutzer:Andyk/Badiou/ThinkAgain]] Das kommt davon, dass man die Welt aus überschaubaren Strukturen bestehen läßt, die einer Unbestimmtheit entspringen, welche von diesen Strukturen aus unzugänglich ist. ''Und'' dass man diese Strukturwelt dann, ich sage es einmal polemisch, vom Unbestimmten her terrorisiert. | ||
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Aktuelle Version vom 30. August 2012, 09:33 Uhr
Inhaltsverzeichnis
Der erste Spielzug
Badiou beginnt, nach einer Einleitung, seine erste "Meditation" mit einem brillianten Entwurf. Sie verbindet (innerhalb der klassischen Philosophie) hochplausible Aussagen mit der suggestiven Zuspitzung eines Problems. Es ist allerdings wichtig, die angesprochene Intuition von ihrer Zuspitzung in Badious Version zu unterscheiden.
Die "Erfahrung der Ontologie", so kann man sicher sagen, hängt mit einer Fragestellung zusammen, die neutral so formuliert werden kann:
Wir finden uns innerhalb einer Vielfalt von Gegebenheiten vor und überlegen, was die Einheit des Gegebenseins ausmacht.
Gäbe es nämlich eine solche Einheit nicht, würden die Gegebenheiten quasi auseinanderfallen. Wir hätten keine Vielfalt, sondern ständigen Verlust.
An diesem Motiv hängt ein bedeutender Strang der philosphischen Tradition. Badiou schärft die Sache terminologisch zu einem handfesten Dualismus. Dazu formuliert er die oben absichtlich vage gehaltene Überlegung pointiert in zwei abstrakte Behauptungen. Ihre grammatische Struktur sieht so aus:
- Etwas erweist sich als vielfältig
- Etwas ist eins
In dieser markanten Fassung kann die Fragestellung nun unabhängig von der begleitenden Intuition sozusagen sprachtechnisch weitergetrieben werden. etwas wird durch die grammatisch passende Flexion von sein ersetzt. (Wir betreiben Ontologie.) Das kommentiere ich hier nicht. Unerläßlich ist allerdings, das semantische Schillern zu beobachten, das eintritt, wenn die Nominalform dieses Auxiliarverbs in eine Reflexivkonstruktion eingesetzt wird. Andreas Kirchner kommentiert:
- ... Sein ist seit jeher das, was (sich) zeigt, präsentiert, vorstellt, darstellt - weshalb es sich nicht erschöpfend darstellen lässt. Warum eigentlich nicht? Das eingeklammerte 'sich' scheint mir aufschlussreich zu sein. Benutzer:Andyk/Badiou/M1
Das ist tatsächlich ein entscheidender Faktor. Die vergleichsweise harmlose Fragestellung wird dadurch zu einem dialektischen Exerzitium (einem "livelock" A.K.). Denn durch die Klammer ETWAS -- SICH kommt eine Präsentation ins Spiel, also ein Darstellungsverhältnis. Das ist ein handliches Instrument, die anfängliche Intuition zu fassen, aber damit begibt Badiou sich auf einen speziellen Weg, den er verkompliziert, indem er die Abstufung, die in diesem Verhältnis angelegt ist, durch einen Schachzug ausser Kraft setzt, nämlich seinen Verweis auf Leibniz.
- Leibniz dit : "Ce qui n’est pas véritablement un être n’est pas non plus véritablement un être. On a toujours cru que l'un et l'être sont des choses réciproques" (Correspondance avec Arnauld, avril 1687) [1] [1]
Das "esse et unum convertuntur" durchkreuzt das Darstellungsverhältnis. Anders ausgedrückt: Badious livelock wird dadurch produziert, dass
- etwas1 etwas2 präsentiert
- etwas1 eins ist
- etwas1 aber auch etwas2 ist: das ist der Sinn von "sich"
- und somit auch etwas2 eins ist
- was dazu führt, dass etwas2 als präsentierte Vielheit sich nicht mit etwas1, das es doch selbst ist, verträgt
Ist es das wert? In der Einleitung zu "Sein und Ereignis" legt Badiou fest, dass er sich an drei Festpunkten orientiert:
- Heidegger ist der letzte universal anerkannte Philosoph.
- Der Wiener Kreis bestimmt den Status des zeitgenössischen wissenschaftlichen Denkens.
- Marx, Freud und Lacan prägen den post-strukturalistischen Diskurs.
Die Widersprüchlichkeit des sich-präsentierenden Seins als Einheit verwendet Badiou, um sich für [3] auszusprechen. Er tut das mittels der Ausdrucksmöglichkeiten von [1] und [2]. Das gibt die Aussicht, Ontologie, eine ultra-formale Denkweise, mit einem modernen logischen Apparat zu betreiben. Aber er schneidet sowohl die ontologische Hermeneutik Heideggers, als auch die sprachanalytische Entwicklung ab. Problematisch sind besonders zwei Fixierungen:
- Er übernimmt den Heideggerschen Duktus der "Seinsfrage" mit ihrem hohlen Pathos -- und re-mythologisiert sie mit Mengentheorie, statt sie zu zerlegen.
- Er extrahiert aus der Tradition des Wiener Kreises die Modelltheorie, statt die Entwicklungen in Richtung Quine und Wittgenstein zu verfolgen.
Eine unerlaubte Fortsetzung?
Das Fehlen von Hermeneutik und Sprachphilosophie rächt sich. Badious nächster Argumentationsschritt gibt ein Problem wieder, das Plato aufgeworfen hat, aber es fehlt sowohl eine Textinterpretation, als auch analytische Vorsicht. Badiou spricht von der "Reziprozität"[2] zwischem "dem Einen" und "dem Sein". Ich werde die im Anschluss an Leibniz durchgeführten Überlegungen zunächst an einem Beispiel der Alltagssprache testen und dann auf seinen Spielzug eingehen.
- "Was kein weisser Schimmel ist, ist auch kein Schimmel."
Hier wird die Eigenschaft eines Gegenstands als ein unerläßlicher Bestandteil der Begriffsbestimmung dieses Gegenstands statuiert. Man kann sagen als ein Wesenszug. Wer verstanden hat, was ein Schimmel ist, muss auch dem Satz zustimmen, dass er durch diese Farbe gekennzeichnet wird. Daran lassen sich Folgerungen knüpfen, z.B. "Wenn ein Schimmel in der Koppel ist, ist ein weißer Gegenstand in der Koppel." Aber was soll man sagen, wenn eine Argumentation so beginnt:
- "Wenn der Schimmel das Weiße ist ..."
Die Antwort ist offenbar: ein Prädikatsausdruck wurde nominalisiert. Aus der Beschreibung eines Gegenstandes wurde eine Aussage über das Verhältnis zweier Entitäten, von denen eine eine faßbare Gegebenheit, die andere ein Abstraktum ist. Im alltagssprachlichen Fall ist das ein Fehlgriff. Badiou geht jedoch genau nach diesem Muster vor:
- "Was nicht ein Seiendes ist, ist kein Seiendes."
- "Wenn das Sein das Eine ist ..."[3]
Der Parmenideischen Tradition kann eine solche Transformation vermutlich zugeschrieben werden. Insoferne hat Badious livelock Illustrationswert. Aber wie ist das heute einzuschätzen? Badious Argument lautet komplett:
- "Wenn das Sein das Eine ist, ist festzuhalten, dass, was nicht eins ist, nämlich das Vielfache, nicht ist."
Damit soll ein Gedankengang der Tradition wiedergegeben werden. Vielleicht so: Wenn Sein das Ganze ist, gibt es keinen Platz für Vielfältigkeiten. Sie fallen aus der Betrachtung heraus. Bei diesem Problemstand eröffnen sich zwei Perspektiven:
- Parmenides widersprechen
- Parmenides vermeiden
Die Gegenrechnung
Also gut, das Sein sei das Ganze, die Wahrheit unerschütterlich und wohlgerundet: "᾿Αληθείης εὐκυκλέος ἀτρεμὲς ἦτορ", und Plato hätte die Dialektik eröffnet, der gemäß die europäische Philosophie im Kreis geht. Was ist zu tun? Badiou argumentiert im dargestellten Sprachrahmen.
- Das Sein ist das Eine. Das Eine ist das Sein.
- Diese Feststellungen müssen wir verwerfen. Das geschieht durch Negation.
- Eine naheliegende Formulierung lautet dann: "Das Sein ist nicht das Eine."
- Wenn man das auf die prädikative Variante zurückführt bedeutet das, dass Sein nicht eins sei, sondern z.B. auch anderes oder vieles. In diese Richtung geht Platon, wie Badiou an anderen Stellen selber ausführt.
- Wenn man bei der Nominalisierung bleibt ergibt sich: Das Eine kann nicht mit dem Sein gleichgesetzt werden
Badiou dreht die Argumentation in eine etwas andere Richtung. Statt Parmenides mit Heraklit zu widersprechen und Sein als haltloses Verschwimmen zu fassen, wechselt er nochmals von der Substantivfassung zur Prädikation: "Das Eine ist nicht." Ihm kommt kein Sein zu. Das ist etwas anderes, als die Behauptung, es könne nicht mit dem Sein gleichgesetzt werden. [4] Mit dieser "Formel" hat er das Eine bzw. die Zuschreibung der Ganzheit, aus dem Diskurs über Sein entfernt. Die Frage ist, wohin die Sache verschoben wird.
Dass es das Eine nicht gibt, könnte einfach die Ersetzung der parmenideischen Position durch Heraklit sein. Das Grundprinzip heißt Werden statt Sein. Badiou zielt dagegen darauf ab, die Einheit als Operation, statt als ontologische Grundlage zu fassen. So ist sie einen Schritt entfernt vom Denkanfang angesiedelt, als der Beginn von uns kontrollierter Weltgestaltung. Es ist jedoch zu bemerken, dass für "Sein ohne Eins" noch eine andere Deutung zur Verfügung steht, welche das Eine nicht nachrangig zu einem kohärenzlosen Sein hinzufügt, sondern umgekehrt das Sein als nachrangig ansieht. Das ist die Lösung Plotins, der eine unvordenkliche Einheit annimmt, die präzise nicht in dem Sinn ist, dass wir sie mit unseren prädikativen Mitteln ("x ist ...") erreichen könnten. Auch Plotin könnte darum sagen, dass das Eine nicht ist.
Das ist nicht bloss eine philosophische-historische Zufälligkeit. Indem Badiou sich dem Parmenideisch-Platonischen Duktus anpasst, kann er diese Perspektive nicht vermeiden. Er läßt sich die Rede von einem weltumfassenden Ganzen vorgeben, das er verwirft. Das muss zur Frage führen, wie denn der Bereich, aus welchem die Bestandteile der Welt kommen, beschaffen sei. Plotin: sie entspringen in einem Sonderverfahren aus dem Einen, das wir nicht besprechen können. Bei Badiou findet sich eben diese Problemstellung, auf die er freilich anders reagiert.
Der verschmähte Nachbar
Erstaunlich ist, dass Badiou Wittgensteins Tractatus ignoriert. Er ist in wichtigen Punkten ähnlich motiviert. Der wunde Punkt in Freges Begriffsschrift war dessen Übernahme des uneingeschränkten Cantorschen Mengenbegriffes. Man kann alles zur Mengenbildung verwenden, auch Ausdrücke, die Mengen erzeugen, zu deren Konstruktion man auf die zu definierende Menge zurückgreifen muss: die Menge aller Mengen, die sich selbst enthalten, kann (oder kann nicht) Element dieser Menge sein. Der Tractatus ist so angelegt, dass Russells Antinomie von vornherein ausgeschlossen ist. Er läßt nur Ausdrücke zu, die keine Gelegenheit für solche Konstruktionen bieten. In Badious Terminologie gibt es in ihm keine inkonsistenten Vielheiten. Die ganze Welt wird im Rahmen der Logik einer Sprache erfasst, welche es nicht erlaubt, die Logik selbst zu thematisieren. Auch hier könnte man sagen: das Eine ist nicht, denn nur was sachgemäß als Anzahl von Situationen ("Sachverhalten") auftritt, ist sinnvoll beschreibbar.
Ein plotinscher Zwiespalt wird sichtbar. Von der Logik, welche dem Unternehmen zu Grunde liegt, kann nicht gesprochen werden. Sie zeigt sich. Das ist Wittgensteins Strategie, die Unnahbarkeit dessen anzusprechen, was jenseits des entsprechend reglementierten logisch aufgebauten Weltbeschreibungsmechanismus liegt. Das Mystische nimmt nicht Teil an der Wirklichkeit, darum läßt er auch die Finger davon. Badious Vorgehen läßt sich in diesem Licht so beschreiben: seine inkonsistente Mannigfaltigkeit ist ebenfalls der Voraussetzungsbereich der faktischen Weltaggregate. Aber er betrachtet es im Unterschied zu Wittgenstein als Reservoir der Ontologie. Er braucht es, um daraus seine Ereignisse hervorblitzen zu lassen.
Andreas Kirchner expliziert die Rolle dieser Ontologie für politisches Denken. Das "Verbindungsglied" (nur dass man es so nicht nennen dürfte) zwischen den Sachverhalten/Situationen und dem Jenseits ist die Leere, "doch die Leere taucht nicht als Leere auf, sondern als Ereignis, das sofort wieder verschwindet". Benutzer:Andyk/Badiou/ThinkAgain Das kommt davon, dass man die Welt aus überschaubaren Strukturen bestehen läßt, die einer Unbestimmtheit entspringen, welche von diesen Strukturen aus unzugänglich ist. Und dass man diese Strukturwelt dann, ich sage es einmal polemisch, vom Unbestimmten her terrorisiert.
- Wie kommen wir aber vor diesem Hintergrund zu einem Verständnis von dem, was Badiou und die Badiou-Einführung Affirmation nennt? Wie kann ich 'etwas' affirmieren oder bejahren, auf das sich nicht zeigen lässt? Wie kann ich Ungewusstes affirmieren? Was sich bereits jetzt verstehen lässt: Die Affirmation kann nicht als Notwendigkeit, sondern nur als ontologische Möglichkeit auftauchen. Obwohl sie sich in-situ nicht denken lässt, passiert sie. Benutzer:Andyk/Badiou/ThinkAgain
Es ist nicht zu übersehen, dass Badious Ereignisse, die durch diverse politisch korrekte Beispiele belegt werden, auch von der Art des chinesischen "Großen Sprungs vorwärts" oder des US-amerikanischen Irak-Kriegs sind.
Anmerkungen
- ↑ Leibniz spricht von einem Seienden und nicht vom "Sein".
- ↑ Gewöhnlich spricht man von "Reziprozität" in Verhältnissen, deren Relata sich wechselseitig ergänzen, also links und rechts oder Berg und Tal.
- ↑ Ich klammere das Problem des Sprungs von Seienden zum Sein aus.
- ↑ Es handelt sich um den wohlbekannten Unterschied zwischen dem "ist" als Teil der Prädikation und als Zeichen der Identität.